Aus Stras­se wird Land­schaft

In Sachen Neugestaltung von Mobilitätsachsen gilt der Kanton Wallis als Pionier: Allein in den letzten acht Jahren lancierte er über 50 Studienaufträge. Einer davon ist die Aufwertung der «Avenue de la Gare» und der «Avenue de Tourbillon» in Sion.

Publikationsdatum
19-10-2023

Studienauftrag «Neugestaltung der Avenue de la Gare Süd und der Avenue de Tourbillon West», Sion
Einstufiger Wettbewerb im selektiven Verfahren

In fünf Jahren wird das Gebiet von der Altstadt bis zum Quartier «Cour de Gare» eine vollständige Begegnungszone sein, davon ist Stadtarchitekt Jean-Paul Chabbey überzeugt. Vor zehn Jahren erhielt Sion den Wakkerpreis – unter anderem dafür, dass die Landschaft wieder im Mittelpunkt der territorialen Entwicklung steht. Seit der Jahrtausendwende verändert sich die Denkweise sukzessive: Der Wille, die Lebensqualität zu verbessern, beschränkt sich nicht mehr auf den historischen Kern, sondern auf das gesamte Gemeinde­gebiet. Ein fortlaufender Prozess der Anerkennung von öffentlichem Raum, der immer weiter vorangetrieben wird.

Die Vergleichsstudie für die «Neugestaltung der Avenue de la Gare Süd und der Avenue de Tourbillon West» soll die Lebensqualität in der Stadt weiter steigern und bestätigt die Pionierarbeit des Kantons Wallis. Für Julie Imholz, Landschaftsarchitektin und Vorsitzende des Expertengremiums, verdeutlichen diese Schritte die Ambitionen des Amts für Mobilität: «Die Strasse ist nicht mehr nur ein Raum, den man mit dem Auto kreuzt.»

Vielfältige Fachkräfte sind gefragt

Die Avenue de Tourbillon ist heute eine vielbefahrene Verkehrsachse, die parallel zur Eisenbahnlinie verläuft. Die Avenue de la Gare steht senkrecht dazu und begrenzt das historische Zentrum im Westen. Die Strasse durchtrennt Begegnungs­zonen und dient sowohl dem motorisierten Individual- als auch dem Fussverkehr. Ziel der Studie ist, dass aus der Nord-Süd-Verbindung Avenue de la Gare und der Avenue de Tourbillon, die sich von Ost nach West erstreckt, ein lebendiger Ort mit Aufenthaltsqualität wird.

Die Auslobenden stellten hohe Anforderungen an die Zusammensetzung der Teams: Je ein Architektur- und ein Landschaftsarchitekturbüro mit entsprechenden Referenzen, eine Mobilitätsspezialistin und ein Lichtspezialist sowie eine Bauingenieurin sollten den Teams angehören. Die Vorsitzende der Jury räumt ein, dass diese Konstellation schwerfällig ist. Und doch ist sie unvermeidlich, wenn alle Fachpersonen an einem Tisch sitzen sollen: «Mehrere Blickwinkel sind notwendig, um trotz der Komplexität qualitativ hochwertige Projekte zu entwickeln. Früher führten Bauingenieure bei solchen Projekten das Zepter. Heute sind es Architektinnen und Landschaftsarchitekten. Die Tatsache unterstreicht die veränderte Haltung gegenüber dem öffentlichen Raum zusätzlich.»

Trotz der Rahmenbedingungen boten die sechs ausgewählten Teams der Jury eine umfassende Palette von Lösungsansätzen. Zwei Schlüsselelemente wiederholen sich in allen Beiträgen für die Transformation der beiden Stras­sen­ab­schnit­te: erstens die Notwendigkeit, die Strassenquerungen in beruhigte Achsen umzuwandeln und die Zugänglichkeit zu erhalten. Und zweitens die Berücksichtigung der Umweltprobleme, denen Sion durch die geografische Lage in einer der heissesten Regionen der Schweiz besonders ausgesetzt ist. Das Projekt bedingt also eine bioklimatische Antwort auf die Frage nach der neuen Identität der Achsen und der gemeinsamen Nutzung des öffentlichen Raums.

An der Schnittstelle

Das Siegerprojekt «Le funambule» von Officina del Paesaggio, Bonnard & Woeffray, Transitec, Light On und Ingeni schlägt ein neues Gleichgewicht in diesem dynamischen Kontext vor. Das Team interpretiert den Perimeter auf eine einzigartige Weise. Zwar sieht es die Avenue de la Gare wie die Konkurrenz als Grenze zwischen Alt- und Neustadt und damit als Schnitt im städtischen Gefüge, es geht aber noch einen Schritt weiter.

Die Arbeitsgemeinschaft bezieht auch die zwei grossen landschaftlichen Gebiete mit ein, die an dieser Stelle zusammenfinden: Den sonnigen und von trockenen Böden geprägten «Adret» im Norden und den waldreicheren und kühleren «Ubac» im Süden. «Die Avenue de la Gare ist eine Strasse, die zum ‹Adret› gehört und der Sonne stark ausgesetzt ist. Es war also notwendig, Überlegungen anzustellen, wie man die Sonne abschirmen und gleichzeitig das Wasser zurückhalten kann», so Imholz.

Das Gewinnerprojekt unterstützt aber auch die neuen Nutzungsdynamiken. Dadurch unterscheidet sich der Beitrag von den anderen Vorschlägen, die die verschiedenen Charaktere der Strasse, mal idyllisch auf der Seite der Stadt des 20. Jahrhunderts, mal kommerziell auf der mittelalterlichen Seite, zu stark betonen. Damit fragmentiert die Konkurrenz den öffentlichen Raum und verstärkt die Grenzwirkung der Avenue de la Gare.

Während andere Teilnehmende eher formale Vorschläge machen oder versuchen, die Lesbarkeit zu klären und damit an Monotonie grenzen, überzeugt «Le funambule» die Jury durch sein ­subtiles, situationsbezogenes Eingreifen. Das Siegerteam bricht die Linearität auf und fördert Querverbindungen – eine neue Auffassung der Strasse als öffentlicher Raum.

Wasser und Bäume

Um die Stadt widerstandsfähiger zu gestalten, war die Frage des Klimas im Wettbewerb zentral. Es war daher dringend notwendig, die Böden zu entsiegeln, um ein gutes Wassermanagement zu gewährleisten. Das führt dazu, dass einerseits die Pflanzen gut genährt sind und zur Artenvielfalt beitragen können, und andererseits bei starken Regenfällen keine Gebäude geflutet werden. Das Siegerteam entschied sich für das System einer Stockholmer Grube, das Bäume und Retention von Regenwasser kombiniert. Der Umgang mit dem Wasser bestimmt somit die Bodenbeschaffenheit der nicht befahrenen Flächen: Dank ihrer porösen mineralischen Oberfläche und der Widerstandskraft gegen mechanische Einwirkungen finden magmatische und metamorphe Gesteine Verwendung.

Die bestehende Bepflanzung wird erweitert: Grosswüchsige Bäume wie Kiefern ergänzen die heutigen Baumreihen aus Zürgelbäumen und bilden langfristig eine neue rhythmisierende Schicht. Immergrüne Bodendecker dienen als Ergänzung zu den vorhandenen Steineichen. Die Wahl der Bepflanzung zeugt von der Notwendigkeit, sich den klimatischen Veränderungen anzupassen.

Schritt für Schritt ­zurückerobern

Obwohl die Finesse und technische Präzision des Vorschlags «Le fu­nam­­bule» bewundernswert sind, wird die künftige Transformation der Avenue de la Gare und der Avenue de Tourbillon nicht in einem derart heiteren Kontext stattfinden, wie es der Jurybericht glaubhaft machen will.

Bereits 2022 führte die Auflage, den Verkehr im gesamten ­Stadtzentrum auf 30 km/h zu beschränken, zu hitzigen Diskussionen. Tempo 30 breite sich auf chaotische Weise in vielen Städten und Gemeinden aus, auch auf Strassen, die dem allgemeinen Verkehr gewidmet seien, beanstanden einige Abgeordnete von rechten Parteien und der Mitte. Die Geschwindigkeits­begrenzung sollte daher nur für Strassen von lokalem Interesse gelten. Strassen innerhalb der Ortschaft für den allgemeinen Verkehr durften also Tempo 50 beibehalten. Die Krux an der Sache: Das gilt auch für den östlichen Abschnitt der Avenue de Tourbillon, der an das historische Zentrum grenzt. Das Team um in situ schlug mit «Déambule à Sion» gar vor, den Verkehr auf der Avenue de la Gare auf Höhe der Gleise zu unterbrechen, um die Mobilitäts­achsen zu beruhigen und dort einen richtigen Platz zu schaffen – ein klarer Verstoss gegen das Pflichtenheft. Das Mobilitätskonzept ist ein Kompromiss zwischen verschiedenen Akteuren, die von der Umgestaltung betroffen sind, und damit nicht infrage zu stellen.

Früher wurden Ausschreibungen nur für Transformationen im grossen Massstab durchgeführt. Heute sei man sich dagegen bewusst, dass auch die Strasse zum öffentlichen Raum gehört und mehr ist als ein Ort für Dienstleistungen. Dank der Studien verbessere sich nicht nur die Qualität der Projekte, sondern sie ermöglichten es auch, die teilneh­menden Teams angemessen zu entlöhnen, so die Jury.

Dieser Artikel erschien erstmals in Tracés 8–9/2023.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 34–35/2023 «The Show Must Go On».

-> Jurybericht auf competitions.espazium.ch.

Teilnehmende

Siegerteam «Le funambule»:
Officina del Paesaggio, Lugano; ­Bonnard & Woeffray, Monthey; ­Transitec, Bern; Light On, Zollikon; ­Ingeni, Zürich
«Allées et venues»:
Atelier grept, Saint-Gingolph; Nomad architectes, Sion/Vevey; Citec ingénieurs conseils, Genf; Schlaepfer-­Capt, Lausanne; Moret & Associés, Martigny
«Entre vous et noues»:
Passage, Sion; O & C architectes, Monthey, C & G ingénieurs conseils, Yverdon-les-Bains; Thol Concept, Villarsel-le-Gibloux; Arc génie civil, Monthey
«Arlequin»:
Forster Paysage, Prilly / Crans-­Montana; dvarchitectes & associés, Sion; Transportplan, Sion; LUCE-ms, Granges-­près-Marnand; Editech, Sion
«Déambule à Sion»:
in situ, Basel/Zürich; Game architectes, Martigny; RGR, Lausanne /Genf; Concepto, Arcueil (F); Wili, Montreux; Hintermann & Weber, Reinach; Les FMR, Genf
«Liens»:
en-dehors, Sion/Lausanne, évéquoz ­ferreira, Sion; bfn architectes, Martigny; team+ mobilité, Bulle / Lausanne / Martigny; rr & a, Genf / Lausanne; aaebischer & bovigny, Lausanne; sd ingénierie, Sion

Fachjury

Julie Imholz, Landschaftsarchitektin, Lausanne (Vorsitz); Vincent Pellissier, Kantonsingenieur, Leiter der Dienststelle für Mobilität, Sion; Philippe Venetz, Kantons­architekt, Leiter der Dienst­stelle für Immobilien und Kulturerbe, Sion; ­Vincent Kempf, Leiter der Abteilung Stadtplanung und Mobilität, Sion; ­Georges Joliat, Leiter der Abteilung für öffentliche Arbeiten und Umwelt, Sion; Nathalie Mongé, Landschaftsarchitektin, Genf; Cécile Presset, Landschaft­s­archi­tektin, Chêne-Bourg; Agathe Caviale, Landschaftsarchi­tektin, Chavannes-­près-Renens; Marie-Paule Mayor, Landschaftsarchitektin, Genf; Cindy Freudenthaler, Mobilitätsingenieurin, Mobilitäts­verantwortliche, Pully; Clorinde Dussex, Architektin, Bern; Celina Mendes, Raumplanerin, Dienststelle für Raumentwicklung, Sion (Ersatz); Jean-Paul Chabbey, Leiter der Abteilung Gebäude und Bau, Sion ­(Ersatz); Eric Duc, Leiter der Sektion Planung und Verwaltung der Infrastrukturen, Dienststelle für Mobilität, Sion (Ersatz); Vanessa Rechautier-­Zingg, Landschafts­architektin, Lausanne (Ersatz)

Sachjury

Philippe Varone, Gemeindepräsident, Sion; Christian Bitschnau, Stadtrat, ­Stadtplanung und Mobilität, Sion; ­Raphaël Marclay, Stadtrat, öffentliche ­Arbeiten und Umwelt, Sion; Raphaël Vouillamoz, Präsident der Société de Développement de Sion, ­Kommerz und Dienstleistungen, ­Geschäftsführer

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