Ar­chi­tek­tu­r­in­ge­nieur­we­sen des Gleich­ge­wichts

Editorial aus Archi 6/2015

«Die Architektur hängt von ihrer eigenen Zeit ab. Sie ist die Kristallisation ihrer intimen Struktur, das langsame Entfalten ihrer Form. Das ist der Grund, warum Architektur und Technologie so eng miteinander verbunden sind. Unsere wahre Hoffnung ist, dass beide gemeinsam wachsen mögen, dass eines Tages die eine Ausdruck der anderen ist. Erst dann wird die Architektur das wahre Symbol ihrer Zeit sein.» (Ludwig Mies van der Rohe, 1950)

Publikationsdatum
07-01-2016
Revision
07-01-2016

Als Le Corbusier am 4. Juni 1934 mit dem Zug in Pisa ankam, sah er die Bauwerke der Piazza dei Miracoli und skizzierte in seinem Notizblock den Friedhof, das Baptisterium, den Dom und den Schiefen Turm. Er erkannte sofort das mächtige Gleichgewicht des komplexen Kompositionsprinzips und erinnerte sich daran, dass er drei Jahre zuvor bei der Planung des Palasts der Sowjets die gleichen Regeln befolgt hatte. Auf dem gleichen Blatt skizzierte er die genauso komplexe Abfolge der Baukörper des Moskauer Projekts und notierte am Fussende der Seite «Einheit im Detail, Tumult im Ganzen». Dieser bekannte Spruch von Le Corbusier definiert auf einzigartig poetische Weise den Begriff der Komposition der unterschiedlichen architektonischen Elemente und ihre Besonderheit im Verhältnis zum allgemeineren Begriff der Planung.

Der Palast der Sowjets ist eines der visionärsten und beeindruckendsten Projekte, das die aussergewöhnliche Synthese­fähigkeit von Le Corbusier unter Beweis stellt. E. N. Rogers bezeichnete es in Gli elementi del fenomeno architettonico als «eine Ansammlung von Erinnerungen, die sich während der Reisen des Meisters angesammelt haben, sowie der Suche der Bewegung, in die ausser dem grossen Beitrag von Le Corbusier auch andere Elemente einflossen, bis hin zu den expressionistischen Strömungen, die Antagonisten der Bewegung selbst waren». An dem Prozess der Komposition und dem tumultartigen Ergebnis waren daher der gesamte Schatz an Kenntnissen, Erinnerungen und Emotionen des Architekten beteiligt. Das ist der Begriff des Gleichgewichts, den Nicola Baserga in seinem meisterhaften «Exkurs» wiederfindet und als Ziel jeder Dimension des Projekts des Architekturingenieurwesens – nach einer Bezeichnung von Javier Corvalán – vorgibt, und zwar nicht nur für die Bauvolumen und ihre Komposi­tion im Raum, sondern auch beim Entwurf der Fassaden.

Der gemeinsame Nenner der in Archi 6/2015 veröffentlichten Projekte ist das Thema Gleichgewicht in seiner offensicht­lichsten und deutlichsten Form. Den Auftakt macht die strenge Analyse des bekannten und spektakulären Driving range des paraguayischen Golfverbands in Luque, Paraguay, den Corvalán 2013 errichtete. Er besteht aus zwei grossen, teil­weise überlagerten Trägern, die nur auf zwei Stützen ruhen.

Baserga erläutert unter anderem den Begriff der gravitas und das weit verbreitete Missverständnis bezüglich seiner Bedeutung. Er betont, dass der etymologische Ursprung des lateinischen Begriffs eher in den Konzepten von Ernsthaftigkeit und Pflicht wurzelt, und zeigt so eine Forschungsrichtung auf, die Bezug auf die ethische Dimension des Berufs nimmt. Eine Dimension, die in den aktuellen Architektur­publikationen kaum angesprochen wird. Er führt das ­Konzept der Würde der Architektur ein, die mit ihrer Un­erforschlichkeit und ihrer besonderen Unbeweglichkeit zusammenhängt, die durch das Gleichgewicht ihrer Gewichte trotz der wirkenden Kräfte erzeugt wird. Laut Baserga «bringt die architektonische Form, die als schweigende Antwort auf die komplexen physikalischen Umstände des Bauwerks stilisiert wird, ein Gleichgewicht zwischen Gewicht und Form zum Ausdruck. Die Form reagiert auf die “Pflicht” des Bauwerks, entzieht sich der Nutzlosigkeit des Überflüssigen und erobert so ihre “Ernsthaftigkeit”».

Ich frage mich seit einiger Zeit, auf welchem der zahlreichen von der heutigen Architektur beschrittenen Wege das Tessiner Architekturingenieurwesen hochgradig innovative Lösungen und neue Wohnkonzepte für unsere Region aufzeigen kann. Die Überlegungen von Nicola Baserga zeigen diesen Weg auf. Es ist der Weg des Denkens. Wir müssen die Ernsthaftigkeit, über die er in seinem Text spricht, praktizieren, und wir müssen (wie von Livio Vacchini gefordert) berücksichtigen, dass Architektur primär eine Denkaktivität ist. Wir brauchen diese Radikalität, nicht die Ästhetik der Formen. Freilich, es ist ein schwieriger Weg, der in die entgegengesetzte Richtung des Wegs der internationalen Medien führt, die laut Javier Corvalán «Bauwerke fast oberflächlich nur in ihrem äusseren Erscheinungsbild oder ihrer Hülle wahrnehmen und so die Kluft zum Ingenieurwesen vertiefen, das dagegen die Fähigkeit hat, das Bauwerk wie durch eine Röntgenaufnahme zu lesen und es auch von innen zu sehen.

Die Zukunft ist nicht die von früher und die Vergangenheit ist unvorhersehbar geworden» – so lautet der Titel eines Essays des kürzlich verstorbenen argentinischen Architekten Rafael Iglesia über die Krise der südamerikanischen Stadt. Ich lade Sie ein, diesen im Text zu lesen – er besticht durch seine scharfe Analyse, den gut strukturierten Gedankengang und die Wahrnehmung der Komplexität eines Gebiets, das durchaus Ähnlichkeiten mit Europa aufweist. Die Zersiedelung hat die zentrale Rolle der Stadt infrage gestellt, und «ohne Zentrum gibt es keine Stadt». Iglesia unterstreicht, dass «die Stadt nicht die Summe der einzelnen Blöcke ist, sondern die Summe der Kreuzungen seiner Strassen. Jede Ecke ist ein Spannungspunkt». Wir müssen denken, «dass die Stadt aus den Menschen besteht, die darin leben».

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