SIA: Ex­por­tar­ti­kel Denk­ma­le­rhal­tung

Erfahrungen mit der Norm SIA 269

Nicht überall sind historische Bahnbrücken als technische Monumente so anerkannt wie hierzulande. Eugen Brühwiler, einer der Väter der Norm SIA 269 «Erhaltung von Tragwerken», hilft mit seinem Wissen jetzt auch in Deutschland, Technikdenkmäler zu retten.

Data di pubblicazione
15-04-2015
Revision
05-11-2015

Die Eigentümer und Nutzer historischer Ingenieurbauten sehen sich oft mit der Herausforderung konfrontiert, diese trotz steigender Verkehrslasten in originalgetreuer Gestalt zu erhalten. Dies gilt ganz besonders für Verkehrsbauten wie die Brücken der SBB, die teilweise seit 150 Jahren in Nutzung sind: Von den 6000 grossen und kleinen Bahnbrücken der SBB sind rund 1000 mehr als hundert Jahre alt.

Für solche Bauten gelten die gleichen Sicherheitsstandards wie für neue, doch ihre Tragwerke und etwaige Materialermüdungen wurden lange Zeit wegen fehlender Kenntnisse anhand sehr konser­vativer, also übervorsichtiger Modellannahmen und Berechnungen geprüft. Folgte man diesen Berechnungen unkritisch, würde das für viele bestehende Stahl- oder Betonbrücken das Aus bedeuten. 

Dass im Schweizer Bahnnetz bis heute dennoch zahlreiche historische Brücken täglich von hunderten von Zügen befahren ­werden, ist den hohen Standards des Schweizer Denkmalschutzes und der Umsicht der SBB-Bauab­teilung zu verdanken. Wichtigstes Werkzeug für die Erneuerungs­planung der Konstruktionen sind die Norm SIA 269 «Grundlagen der Erhaltung von Tragwerken» und ihre sieben Schwesternormen. Diese Normen wurden in wesentlichen Punkten mitentwickelt von Eugen Brühwiler, der an der ETH Lausanne konstruktiven Ingenieurbau lehrt. Sein Spezialgebiet ist die Erhaltung bestehender Tragwerke, mit Schwerpunkt auf Stahl- und Stahlbetonkonstruktionen. 

So haben er und sein Team für die sichere und kostengünstige Erneuerung von Brücken und Hochbauten den sogenannten Ultrahochleistungs-Faserbeton (UHFB) mitent­wickelt. Dieser Verbundwerkstoff weist eine extrem hohe Druck- und Zugfestigkeit auf, wodurch er ideal geeignet ist, die Tragfähigkeit und Nutzungsdauer bestehender Tragwerke zu verbessern. 

Tragwerksplaner mit Denkmalengagement 

Jedoch bewegt sich Eugen Brühwiler nicht zurückgezogen und abstrakt in der Welt der Materialeigen­schaften und Berechnungen; wer ihm begegnet, sieht sich einem Praktiker und einer empathischen Lehrerpersönlichkeit gegenüber, die ihr Wissen auch baupolitisch einsetzen will und sich stark macht für den Schutz und die möglichst originalgetreue Erhaltung der eindrucks­vollen Technikbauten aus dem 19. und 20. Jahrhundert. 

Der Ingenieur ist Mitverfasser des unlängst erschienenen Bildbands «Schweizer Bahnbrücken», in dem die wichtigsten Beton, Stahl- und Steinbrücken des Schweizer Bahnnetzes sorgfältig dargestellt werden. Manchmal bekommt er leuchtende Augen, wenn er eine der Brücken beschreibt; viele von ihnen sind für ihn wie langjährig vertraute Persönlichkeiten, auch aus der Zeit seiner Tätigkeit bei den SBB. Etwa die 190 m lange schweisseiserne Brücke, die zwischen Koblenz AG und dem badischen Waldshut den Rhein überspannt. Brühwiler spricht von der «Gitterlibrücke», womit er auf das filigrane diagonale Gitterfachwerk des Brückenüberbaus anspielt. 

Die 1859 von Robert Gerwig entworfene Brücke ist die älteste noch als solche genutzte Bahnbrücke auf dem Kontinent. Sie war die erste Verbindung zwischen deutschem und Schweizer Bahnnetz und «bietet eine der letzten Gelegenheiten (…), einen Gitterträger aus der Pionierzeit des Bahnbaus praktisch im Originalzustand unter täglicher Verkehrslast zu beobachten», wie es im Bahnbrückenbuch heisst. Dieser besondere Rang der Konstruktion konnte nicht verhindern, dass die Brücke weiterhin vom Abbruch bedroht ist, denn die Verantwortung für das Bauwerk liegt bei der DB-Tochter Netz AG. 

Deutsche Bahn: Abbruch vor Erneuerung

Dass die Deutsche Bahn mit Denkmalpflege wenig im Sinn hat und alles andere als rücksichtsvoll mit ihrem Bauerbe umgeht, müssen Denkmalschützer in Deutschland stets aufs Neue schmerzlich er­fahren; die Verlustliste ist lang. Während bei den Bahnhofsbauten in jüngster Vergangenheit auf öf­fent­lichen Druck hin ein zöger­liches Umdenken einsetzte, werden Technikbauten nach wie vor nur ausnahmsweise als Denkmäler behandelt. 

So favorisiert die Deutsche Bahn auch bei der Rheinbrücke nach Waldshut bis anhin einen Ersatzneubau – die 150 Jahre alte genietete Konstruktion soll abge­tragen und durch einen Neubau ersetzt werden. Eugen Brühwiler versuchte schon 2010 mit einem Gutachten im Auftrag der Eigentümer DB und SBB, die zuständige Karlsruher Abteilung der DB Netz AG davon zu überzeugen, dass der Bau nach kleineren Er­neuerungs- und Erhaltungsmassnahmen gemäss Norm SIA 269/1 und 269/3 mühelos fit gemacht werden kann für die angestrebte weitere Nutzungsdauer von 80 Jahren – mit sanften Eingriffen in die Konstruktion und um ein Vielfaches wirtschaftlicher als ein Ersatzneubau, versichert Brühwiler. 

Eine der SIA 269 vergleichbare Norm zur Er­haltung beste­hender Tragwerke gibt es in dem an Technikdenkmälern reichen Deutschland merkwürdigerweise bis heute nicht. Die bestehenden deutschen Regelwerke, etwa die seit 20 Jahren unveränderte «Richtlinie 805» zur «Nachrechnung von Brücken» müssten entsprechend dem heutigen Wissensstand aktualisiert werden. Die anwendenden Inge­nieure verlieren sich unterdessen in aufwendigen Modellrechnungen aufgrund von teilweise undurchsichtigen oder überholten Annahmen zum Tragwerksverhalten. Dieses «Nachrechnen» führt oft zu übertrieben konservativen Ergebnissen, die im Vergleich zum effektiven Tragwerksverhalten wenig plausibel sind.

Monitoring statt Modellrechnung

Diesem lange Zeit auch in der Schweiz gängigen Weg stellt Eugen Brühwiler eine Praxis des Monitorings am Objekt, also einer visuellen Untersuchung und messtechnischen Aufnahme des Tragverhaltens der Brücke und ihrer Substanz entgegen, und das ist auch die Vorgehensweise gemäss der SIA 269. Die rechnerischen Nachweise der Trag- und Ermüdungssicherheit basieren demnach direkt auf den Ergebnissen des Monitorings. «Bei den SBB hat man die Praxis des systematischen Ersatzneubaus von Konstruktionen schon vor Jahren als überflüssig erkannt», erklärt er.

Die inzwischen durchwegs praktizierten objektbezogenen Tragwerksuntersuchungen schmälern die Sicherheit des Bauwerks in keiner Weise – im Gegenteil, denn anders als beim «Nachrechnen» wird die konkrete Konstruk­tion unter die Lupe genommen. Eugen Brühwiler sieht mit Skepsis, dass sich viele Ingenieure noch immer bevorzugt auf Berechnungen stützen, anstatt die Konstruktion vor Ort zu unter­suchen und sich mit ihrer Geschichte zu befassen. «Bautechnikgeschichte ist eine Projektierungsgrundlage für Ingenieure, sie gehört unbedingt in die Lehre!», betont Brühwiler. Auch in der Schweiz gibt es bis dato zu wenige entsprechende Lehrveranstaltungen.

Die jüngste Denkmaldemontage der Deutschen Bahn steht im sächsischen Chemnitz an. Dort möchte die Bahntochter Netz AG das seit 110 Jahren in Betrieb stehende und 275 m lange Chemnitztalviadukt nahe dem Hauptbahnhof abtragen und durch einen Neubau ersetzen. Die Stahlkonstruktion in Nietbauweise besteht aus einer Kombination von Bogenbrücken- und aufgeständerten Balkenbrückensegmenten. In den nächsten Wochen soll die Entscheidung fallen, ob abgebrochen oder erneuert wird. 

Der von der Netz AG beauftragte Inge­nieur kam mit der oben beschriebenen Methodik zum Ergebnis, dass «Teile der Konstruktion überbeansprucht sind und nur noch eine kurze Lebensdauer haben». Womit die Deutsche Bahn nicht gerechnet hat: In der einst prosperierenden Industriestadt, die nach schweren Kriegszerstörungen kaum noch über historische Bausubstanz verfügt, formierte sich eine Bürger­initiative zum Erhalt der Brücke. Brühwiler, der vor Ort war, vermutet aufgrund von Erfahrungen mit ähnlichen Konstruktionen: «Wenn man die bisherigen Berechnungen nur richtig interpretiert, besteht dort – auch theoretisch – keine signifikante Ermüdung.» Zudem betont er: «Eine Ertüchtigung der Brücke auf die Bedürfnisse des heutigen Betriebs ist möglich und würde zu einer wesentlich kostengünstigeren Lösung führen als ein Ersatzneubau.» 

Verschwendung von Steuergeldern

Den denkmalwürdigen Bauten der Deutschen Bahn half das bisher wenig, denn die Kosten für eine Ertüchtigung des Bauwerks muss die Netz AG aus ihrem eigenen Budget zahlen, während für Ersatzneubauten der Bund und damit der deutsche Steuerzahler aufkommt. Denkmalzerstörung also als Ergebnis unsinniger Finanzierungsmechanismen! 

Aus Sicht von Eugen Brühwiler ist es grundsätzlich unerheblich, ob es sich bei einem Bauwerk wie jenem in Chemnitz um ein eingetragenes Denkmal handelt oder nicht, der Zeugniswert ist für ihn unabhängig vom formellen Status. «Als kulturelle Werte einer Brücke», so Brühwiler in einem Fachartikel, «sind der Situationswert, der historisch-kulturelle und der ästhetische Wert zu beschreiben und zu bewerten (…) namentlich als Teil eines historischen Ortsbilds oder einer Schlüsselstelle der Verkehrslandschaft ist eine Brücke zu erhalten, um den Charakter des Gesamtbilds zu wahren.» Höchstes Ziel – und ­Voraussetzung für Ersteres – ist dabei, dass die Brücke ihre ursprüngliche Funktion uneingeschränkt wahrnehmen kann. Die fachliche Vorarbeit dafür ist die Profession von Brühwiler und einiger engagierter Kollegen. 

Sollte es gelingen, im Fall der «Gitterlibrücke» bei Koblenz AG und insbesondere beim stählernen Bahnviadukt in Chemnitz einen Entscheid pro Erhaltung zu erringen, wäre das ein wichtiges Signal und ein grosser Fortschritt für einen angemessenen Umgang mit historischen Technikbauten in Deutschland und zugleich der Beleg, dass die von Praktikern aus den Reihen des SIA entwickelten Normen wie die SIA 269 als Exportartikel taugen und länderübergreifendes Innovationspotenzial besitzen. 

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