Bau­kul­tur: Qua­li­tät und Kri­tik

Wie lässt sich die «Qualität» von Baukultur bewerten? Als Antwort auf diese Frage hat das BAK ein Instrument entwickelt, das neue ­Fragen aufwirft: Wie, nach welchen Kriterien und von wem soll Baukultur beurteilt ­werden? Die Redaktorinnen und Redaktoren von espazium wagen sich ans ­Bewerten. Und weil man bekanntlich auf alten Pfannen kochen lernt, halten sie sich an die drei Kriterien von ­Vitruv.

Data di pubblicazione
14-02-2022

Im Jahr 2018 verabschiedeten die europäischen Kulturminister die Erklärung von Davos.1 Deren Hauptanliegen war es, «die Gestaltung des Lebensraums als kulturellen Akt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu verankern»2, wie es Claudia Schwalfenberg vom Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein SIA zusammenfasst. Das Bauen soll also gleich der Musik, der darstellenden Kunst oder der Literatur als kulturelle Disziplin etabliert werden. Initiiert wurde die Erklärung von Davos zwar vom Bundesamt für Kultur (BAK), doch sie resultiert auch aus einer beharrlichen Kampagne, geführt insbesondere durch den SIA, der sich seit seiner Gründung 1837 für interdisziplinären Dialog und die Qualität der gebauten Umwelt einsetzt. Auf Initiative des SIA hin wurde 2010 der «Runde Tisch Baukultur Schweiz» gegründet, der ein Jahr später sein Manifest3 veröffentlichte. Aufs politische Tapet kam die Baukultur ein paar Jahre später: 2016 lanciert der Bund die Baukulturpolitik mit einer Reihe von Massnahmen: Sensibilisierung, Förderung der Produktion, Erhaltung, Ausbildung usw.

Mittlerweile ist die Debatte komplexer geworden: «Wir können nicht politisch eine bessere Baukultur fordern, ohne die angestrebte Qualität zu definieren»4, erklärt Oliver Martin, Leiter der Sektion Baukultur des BAK. Deshalb hat das BAK 2021 das Davos Qualitätssystem für Baukultur 5 herausgegeben. Dieses Instrument «bietet die Grundlage dafür, hohe Baukultur zu objektivieren und das Konzept wissenschaftlich zu vertiefen».6

Acht Kriterien

Lässt sich mit einem wissenschaftlichen Ansatz definieren, was seit der ­Antike heftig diskutiert wird? Vitruv legte einst drei7 Qualitätskriterien fest: firmitas, utilitas, venustas.Das Davos Qualitätssystem hat deren acht: Sein Bewertungsformular stellt die Qualität eines Orts aus Sicht von Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius Loci und Schönheit zur Diskus­sion. Es lädt dazu ein, über die eigenen Vorstellungen nachzudenken, und bringt neue Perspektiven ein. Es schlägt aber auch vor, Projekte anhand dieser Kriterien zu messen und in jeder Kategorie zu benoten. Aus dem Notendurchschnitt ergibt sich die Gesamtbewertung des Projekts.

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Können wir, müssen wir alles benoten, zumal die Kriterien so komplex sind? Der Soziologe Steffen Mau ist überzeugt, dass Quantifizierung unweigerlich zu einem Reduktionismus der Kriterien und zur Bevorzugung derjenigen Parameter führt, die in Zahlen ausgedrückt werden können.8 Es dürfte schwierig sein, quantitative Kriterien (Wirtschaftlichkeit, Umweltqualität) mit kontextbezogenen und qualitativen Kriterien (Identität, Schönheit usw.) zu verknüpfen. Und selbst quantitative Kriterien dürften kontrovers diskutiert werden – man denke etwa an das Thema graue Energie, über das sich selbst spezialisierte Fachleute uneinig sind.

Claudia Schwalfenberg hält dem entgegen, das Davos Qualitätssystem ziele eben gerade darauf ab, alle Kriterien, ob leicht oder schwer messbar, auf eine Ebene zu stellen. «Kulturelle, emotionale und andere weiche Kriterien werden gegenüber den üblichen Kriterien aufgewertet.»9 Das sei der beste Weg, um zu einem ganzheitlichen Verständnis von Baukultur zu gelangen und verbesserungswürdige Bereiche zu fördern. «Den Auftraggebenden steht nun ein international anerkanntes Instrument zur Verfügung, um die Qualität in der Vergabepraxis zu stärken.»

Kriterien vs. Besonderheiten

Doch wird dieser Vorteil als solcher verstanden? Die Stiftung Baukultur Schweiz etwa reagierte auf die erste Version des Davos Qualitätssystems mit deutlicher Ablehnung: Sie schätze zwar die Initiative, so die Stiftung, das Dokument bilde eine interessante Diskussionsgrundlage, der gewählte Ansatz sei jedoch technokratisch und widerspreche dem Wesen der Baukultur.10 Stiftungs­präsident Enrico Slongo befürchtet, eine solche Bewertung führe zu einer «Nivellierung» der Projekte: «Man gibt eine Note für die Nachhaltigkeit, eine für die Wirtschaftlichkeit usw. und ­erhält am Schluss einen Durchschnitt, der weder die Originalität noch die spezifische Bedeutung eines Projekts widerspiegelt.»11 Slongo vermutet, viele bedeutende Projekte wären mit dieser ­Methode nie realisiert worden. Ein herausragendes Werk wie das Rolex Learning Center der EPFL beispielsweise würde wahrscheinlich eine eher mittelmässige Gesamtbewertung erhalten, die seiner Einmaligkeit nicht gerecht würde.

Objekt vs. Masse

Doch wollen wir ein weiteres Rolex Learning Center? «Dieses kann immer noch als ‹sensationelle Architektur› gelten, aber nicht als ‹hohe Baukultur›», antwortet Oliver Martin vom BAK.12 Das Ziel des Davos Qualitätssystems ist, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen und Qualitätsmängel an wenig beachteten Orten aufzudecken: in periurbanen Räumen, Schrumpfungsregionen usw. Es soll «die Debatte zur grossen Masse der alltäglichen Bauten anregen […] und nicht nur zu Leuchtturmprojekten, die einmal in 50 Jahren in einer Grossstadt entstehen.» Deshalb sollte es für Architekturschaffende kein Anlass zur Sorge, sondern zur Freude sein.

Wer definiert Qualität?

Dennoch lädt das Davos Qualitätssystem Auftraggebende ausdrücklich dazu ein, Wettbewerbe und Ausschreibungen als Vergabeinstrumente anzuwenden13, um ein Gegengewicht zur Autorität der beurteilenden Expertinnen und Experten zu schaffen. Es gehe darum, einen Diskurs über Qualität zu ermöglichen, der nicht nur von einer bestimmten Jury oder einem kleinen Kreis von Architekten und Experten bestimmt werde, so Martin. Das erinnert an die Ursprünge des Begriffs «Baukultur»: Er entstand in den frühen 1930er-Jahren aus dem Widerstand gegen die moderne Architektur her­aus und bildete eine gemeinsame Identitätsbasis für deren Gegner – zuerst für den Heimatschutz und später, in der Nachkriegszeit, um die Interessen der ­Zivilgesellschaft und der Umwelt zu verteidigen.14 Bis heute scheint es offenbar nötig, den Vorrechten der Architektur, die in der Erklärung von ­Davos übrigens so gut wie nicht vorkommt15, etwas entgegenzusetzen. Bemerkenswert ist, dass manche Verfechter des Kulturerbes die Lage genau andersherum einschätzen: Das Davos Qualitätssystem sei, so Leïla el-Wakil, «ein korporatistisches Manöver zur Förderung des zeitgenössischen ­Bauens»!16

Claudia Schwalfenberg erklärt, das Davos Qualitätssystem wolle die alten Gräben zwischen den Disziplinen überwinden und in den Dialog mit der Bevölkerung treten: «Für junge Architektinnen und Architekten ist das selbstverständlich. Sie verstehen sich nicht als Halbgötter in Schwarz, deren Status gefährdet ist, wenn auch Laien mitreden.» Das Instrument soll zur Bewertung von Bauten und Projekten dienen. Doch «Schönheit» oder «Kontext» ­würden anhand von Unterlagen beurteilt, die die Projektverfassenden eingereicht haben.

Wie auch immer die Kriterien lauten und wie «objektiv» die Methode auch sein mag – sicher ist, dass der Präsident einer kleinen Gemeinde und eine Genfer Architektin beim Ausfüllen des Bewertungsformulars zu unterschiedlichen Resultaten kommen. Es ist unmöglich, alle zu repräsentieren. «Das ist auch nicht das Ziel», versichert Oliver Martin. Es gehe darum, eine Selbstbeurteilung vorzunehmen, sich alle Fragen zu stellen – vor dem eigenen Hintergrund und aus der eigenen Position heraus. Ein Benchmarking sei erst in einer nächsten Phase vorgesehen. Erst dann würden für jedes Kriterium Indikatoren, Referenzobjekte usw. festgelegt. Der Weg zu einer «objektiven» Bewertung der Baukultur ist also noch weit.

Die Rolle der Kritik

Wenn das Davos Qualitätssystem zum Einsatz kommt, um Laien zu sensibili­sieren oder Fachleute zur Reflexion über die «Qualität» ihrer Entwürfe anzuregen, kann es als gemeinsame Diskussionsgrundlage den gewünschten Austausch fördern. Wenn man es aber nur in Form einer Gesamtnote berücksichtigt, wäre das Ziel verfehlt, und die Folgen wären verheerend. Zudem müssten auch die Kriterien laufend diskutiert werden, denn es könnten neue hinzukommen.

espazium – Der Verlag für Baukultur berichtet seit bald 150 Jahren über das aktuelle Baugeschehen und steht somit bei der Qualitätsdebatte an vorderster Front.  Projekte zu bewerten erfordert Kompetenzen, technisches und ­histo­risches Wissen und vor allem einen kritischen Geist, um die Intention der Planenden mit der gebauten Realität, den konzipierten mit dem wahrgenommenen Raum zu vergleichen. Das ist unser Beruf. In diesem Buch diskutieren wir qualitativ hochstehende Projekte anhand von Vitruvs drei Krite­rien, die immer noch Gültigkeit haben, sofern man sie im heutigen Sinn interpretiert – etwa die Nachhaltigkeit als Teil der firmitas versteht, die Gouvernanz als Teil der utilitas usw. Die ausgewählten Werke bestätigen die intuitive Vermutung, dass jedes Projekt Besonderheiten hat, die jedes Analyse­raster sprengen. Könnte es sein, dass es ebenso viele ­Kriterien wie Projekte gibt? In diesem Buch führen wir eine offene Auseinandersetzung, die, so hoffen wir, zum laufenden Diskurs beiträgt.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Baukultur: Qualität und Kritik». Bestellen Sie jetzt!

Anmerkungen

 

1 Kulturministerkonferenz, Erklärung von Davos 2018. Eine hohe Baukultur für Europa, Davos, 20.–21. Januar 2018.

 

2 Claudia Schwalfenberg, «Kulturelle Wertediskussion» in TEC21 5–6/2017.

 

3 Runder Tisch Baukultur Schweiz, Baukultur. Eine kulturpolitische Herausforderung. Manifest des Runden Tischs Baukultur Schweiz, SIA, 13.7.2011.

 

4 Dieses und die folgenden Zitate von Oliver Martin stammen aus dem Interview «Comment définir la ‹qualité› dans la culture du bâti?»

 

5 Das Instrument und die ausführliche Anleitung (80 Seiten) können auf davosdeclaration2018.ch kostenlos heruntergeladen werden.

 

6 Bundesamt für Kultur, Davos Qualitätssystem für Bau­kultur – Acht Kriterien für eine hohe Baukultur, Bern 2021, S. 7 (Hervorhebung durch den Autor).

 

7 Tatsächlich waren es noch mehr, die Debatte hatte eben erst begonnen. Vgl. Georg Germann, Einführung in die Geschichte der Architekturtheorie, 2., verb. Auflage, Darm­stadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 28.

 

8 Steffen Mau, The impudence of quantification, Vortrag: Getting the measure of Baukultur – pour un espace de vie de qualité, 4. und 5. November 2019 im Pavillon Sicli in Genf. Keynote Session 2: Is quality quantifiable?

 

9 Dieses und die folgenden Zitate von Claudia Schwalfenberg stammen aus einem Interview vom Oktober 2021.

 

10 «Der Ansatz, Baukultur holistisch erfassen zu wollen und in einen objektivierten Kriterienraster zu zwängen, ist technokratisch und widerspricht dem Wesen von Baukultur fundamental.» Stiftung Baukultur Schweiz: Erstmalige Stellungnahme, Medienmitteilung, 19.11.2020.

 

11 Interview, Juli 2021.

 

12 «Comment définir la ‹qualité› dans la culture du bâti?» – Interview mit Oliver Martin

 

13 Davos Qualitätssystem für Baukultur – Acht Kriterien für eine hohe Baukultur, S. 8.

 

14 Akos Moravánszky, «Politik, Prozess oder Produkt? Historischer Wandel des Begriffs ‹Baukultur›», in TEC21 – Versuche über die Baukultur, 36/2015. Der Artikel wurde 2021 überarbeitet und neu veröffentlicht: Akos Moravánszky, «Wege zur Baukultur», Archijeunes, Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung, Zürich, Park Books 2021.

 

15 Nur unter Punkt 5 wird die Architektur überhaupt erwähnt: «Neben der architektonischen, konstruktiven und landschaftsarchitektonischen Gestaltung …». Das Wort «Kulturerbe» kommt hingegen sechsmal vor.

 

16 Leïla el-Wakil, «À quel prix une culture du bâti de qualité pour la Suisse?», Monuments vaudois, 11/2021, S. 83.

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