«Die re­le­van­te Fra­ge ist, wo wir im Ernst­fall 20 Mio. Men­schen un­ter­brin­gen»

Das Editorial von TEC21 20/2021 verwies auf die Schweizer Bevölkerungsstatistik, um die Notwendigkeit multifunktionaler Verkehrsinfrastrukturen zu begründen. Hierzu erreichte uns ein Leserbrief von Andreas Binkert.

Data di pubblicazione
24-08-2021
Andreas Binkert
dipl. Arch. ETH/SIA und Raumentwickler, Partner & Senior Vice President Nüesch Development AG

Im Heft Nr. 20 vom 25. Juni 2021 zitiert Ulrich Stüssi das Referenzszenario des Bundesamts für Statistik, wonach die Schweizer Bevölkerung bis zum Jahr 2050 um 20% auf 10,4Mio. Menschen anwachsen wird. Er stellt fest, dass diese Entwicklung vor allem die Siedlungspolitik herausfordere und dass es eine anspruchsvolle Aufgabe sein werde, die vorhandenen Verdichtungspotenziale zu nutzen.

Diese Haltung basiert auf der Annahme von statischen exogenen Faktoren und projiziert die Zahlen der vergangenen Jahre in den üblichen drei Szenarien des Bundes auf die Zukunft. Die Realität verhält sich jedoch nicht statisch, sondern äusserst dynamisch. Zwei wichtige Faktoren, die in den Referenzszenarien nicht genügend berücksichtigt wurden, sind die Coronapandemie und der Klimawandel.

Anfang August 2021 veröffentlichte der Weltklimarat seinen sechsten Sachstandsbericht. Darin verdeutlichte er in aller wissenschaftlichen Schärfe, dass klimatische Extremereignisse wie heftige Hitzewellen und Überschwemmungen weiter zunehmen werden. Im Weiteren geht daraus hervor, dass die bisher getätigten Klimamassnahmen in keiner Weise genügen, um das 2-Grad-Ziel der globalen Erwärmung zu erreichen. Vielmehr warnt der Bericht vor einer Akzeleration der Klimaveränderungen in regional sehr unterschiedlichem Ausmass. Zwischen dem 40. nördlichen und dem 40. südlichen Breitengrad werden die Temperaturen weit über die tolerierbaren 2 Grad ansteigen und viele Regionen unbewohnbar machen. Die Menschen aus diesen Regionen werden nicht einfach verschwinden. Sie suchen eine neue Heimat, die sie in den gemässigten Klimazonen finden werden. Es muss von der grössten Völkerwanderung der Geschichte der Menschheit ausgegangen werden. Ob sie friedlich verlaufen oder zu Unruhen und Krieg führen wird, wird unterschiedlich beurteilt.

Auf jeden Fall zeigen diese Projektionen, dass auch die Schweiz nicht weiterhin in Schönwetterszenarien denken darf. Die relevante Frage ist nicht, ob die bestehenden Bauzonen für 10,4Mio. Menschen ausreichen werden, sondern, wo wir im Ernstfall 20Mio. Menschen unterbringen werden. Auch wenn diese Zahl nicht wissenschaftlich untermauerbar ist, so dient sie doch als Weckruf an jene, die sich die Zukunft der schweizerischen Raumplanung als durch endogene, kontrollierbare Faktoren bestimmte, bewahrende Raumentwicklung vorstellen. Vielmehr müssen wir einen Plan B entwickeln, der von einer Verdichtung des Mittellands ausserhalb der Zentren ausgeht. Die Netzstadt Schweiz hat noch viel Potenzial, das bisher nicht ausgeschöpft worden ist. Wenn wir die nahende Gefahr aber als Chance begreifen, dann kann daraus sogar eine zukunftsgerichtete Raumplanung in Richtung Smart City Switzerland entstehen.

Mehr zum Thema:

  • «Nicht ganz dicht»: Während sich aber die Gebäudeareale zunehmend nach innen entwickeln, tut sich die Verkehrsplanung mit Verdichtungsüberlegungen schwer. Warum eigentlich?
  •  Schweizer Nationalstrassennetz: Ver­sie­gel­te Flä­chen als frucht­ba­re Bö­den
Etichette
Magazine