«Das dua­le Bil­dungs­sy­stem ist er­fol­greich»

Ausbildung im Ingenieurwesen

Was taugt die Ausbildung junger Bauingenieurinnen und Bauingenieure an Schweizer Fachhochschulen? Stimmt die kürzlich in dieser Zeitschrift geäusserte Kritik? Prof. Albin Kenel, Präsident der Fachschaft Bauingenieurwesen, bezieht Stellung.

Data di pubblicazione
13-09-2018
Revision
18-09-2018

TEC21: Herr Kenel, in TEC21 17/2018 beklagt usic-Präsident Bernhard Berger «bei den Fachhochschulen eine Nivellierung nach unten» im Gegensatz zur ETH in Zürich und zur EPF in Lausanne.1 Sie sind sowohl in der Baupraxis als auch in der Lehre tätig – teilen Sie seine Ansicht?
Albin Kenel: Nein. Diese Aussage beruht auf der Gegenüberstellung von zwei unter­schied­­lichen Abschlüssen. Man muss berücksichtigen, für welches Einsatzgebiet sich der jeweilige Abschluss eignet. An den FH ist bereits der Bachelorabschluss berufsbefähigend, an den universitären Hochschulen dagegen der Master. Das sind zwei verschie­dene Ausbildungsniveaus. Zudem geht es nicht um den gleichen Ausbildungsauftrag: An den FH ist die Ausbildung stark praxisbezogen, an den universitären Hochschulen eher akademisch. Darum sind selbst die Mas­ter kaum vergleichbar; es wird immer Unterschiede geben, weil die Zielsetzungen anders sind. Wie ge­sagt, ein FH-Bachelor ist berufsbefähigend; ein ETH-Bachelor legt ein mathematisch-wissen­schaft­liches Fundament für das Master­stu­dium und erleichtert die internationale Mobilität der Studieren­den zwischen den Hochschulen.

TEC21: Eine weitere Kritik ist, dass die Dezentralisierung der FH-Landschaft zu einer Vielzahl von kleinen Schulen führe, die Studierende akquirieren müssen, um ihre Ausbildungsgänge zu füllen – auf Kosten des Niveaus. Die ETH dagegen wähle die Studierenden nach klaren Kriterien aus und sei an der Weltspitze.
Albin Kenel: Auch hier muss man differenzieren. Zum einen führt auch die ETH regelmässig Tage der offenen Tür und Infoveran­staltungen für potenzielle Studien­anfänger durch; zum anderen muss die ETH jene Studieninteressierten aufnehmen, die die Aufnahmevoraussetzungen erfüllen – d. h. in der Regel jene, die eine gymnasiale Matur mitbringen. Des Weiteren nehmen alle Hochschulen, sowohl die ETH als auch die FH, bei der Masterausbil­dung eine Selektion nach eigenen Kri­terien vor.

TEC21: Bernhard Berger plädiert dafür, die Kräfte zu bündeln; anstelle der vielen kleinen konkurrierenden FH solle es wenige, aber besser dotierte Ingenieurausbildungsstätten geben. Was denken Sie?
Albin Kenel: Das ist eine politische Entscheidung, die nicht von den FH getroffen wird, sondern von den Kantonen. Offenbar gibt es aber ein demokratisch legitimiertes Bedürfnis, in den Regionen entsprechende Ausbildungsplätze anzubieten. Dahinter steht nicht nur eine föderalistische Politik, sondern auch eine geografisch und fachlich gerechtfertigte Nachfrage. Gebaut wird nicht bloss in den urbanen Zentren. Auch Regionen, die geografisch oder wirtschaftlich eher als Randgebiete zu betrachten sind, brauchen Fachleute, die dort verwurzelt sind, die lokalen Gegebenheiten kennen, Projekte über viele Jahre beglei­ten und einen Erfahrungsschatz für die Region aufbauen. Gerade in Berggebieten, wo die Verkehrs­infrastruktur wegen der Topo­grafie besonders anspruchsvoll ist, ist das wichtig.

TEC21: Wie stehen die Studierenden zum dezentralen Angebot an Studienplätzen?
Albin Kenel: Ein Teil der Studierenden sucht ein bestimmtes Profil und geht an die Hochschule, die es anbietet. Es gibt aber auch viele, die zuerst sondieren, in welcher Distanz sie was studieren können. Oft entscheidet die Pendeldistanz über die Studienwahl: Nicht alle können sich neben dem Vollzeitstudium ein externes Zimmer oder eine eigene Wohnung leisten. Deshalb braucht es Ausbildungsmöglichkeiten in erreichbarer Distanz. Die dezentrale Organisation der FH-Landschaft ist ein Beitrag zur Chancengleichheit trotz unterschiedlicher geografischer oder sozialer Herkunft. Wir wissen, dass Kinder aus Aka­demikerfamilien eher eine Maturität und ein Universitätsstudium absolvieren, während Kinder aus Familien ohne akademischen Hintergrund eher über eine Berufslehre und einer Berufsmatura zu einer tertiären Ausbildung ge­langen. Das hängt mit familiären Traditionen zusammen, aber er­wiesenermassen auch mit den finanziellen Möglichkeiten.

TEC21: Warum sind die Ausbildungen der verschiedenen Hochschulen so unterschiedlich?
Albin Kenel: Die Bildungspolitik liegt in der Hoheit der Kantone. Das heisst, die Kantone legen das Ausbildungsangebot von Bachelor und Master an den jeweiligen Hochschulen fest. Einzige Ausnahme sind die beiden ETH: Bei ihnen bestimmt der Bund über einen glo­balen Auftrag. Auch das Finanzierungsmodell ist anders. Die FH werden auf verschiedenen Ebenen finanziert, sowohl aus der Bundeskasse als auch von den Kantonen, wobei sich letzterer Bei­trag wiederum auf verschie­dene Kantone aufteilt: Viele FH unterstehen ei­nem Konkordat ­mehrerer Kantone, die alle unterschiedliche Ziele und An­sprüche haben. Das führt zu Konsenslösungen, die das thematische Zuspitzen einer Aus­bildung erschweren. Die beiden ETH dagegen werden direkt über die Bun­deskasse finanziert und sind nicht den gleichen föderalistischen Mechanismen ausgeliefert wie die FH. Sie können sich in einem glo­balen Kontext positionieren und ihre Prioritäten selbst festlegen.

TEC21: Dass die Ausbildungsziele der FH innerhalb eines Konkordats ausgehandelt werden, könnte eine Hilfe sein, um sie klarer zu fassen.
Albin Kenel: Ich glaube nicht, dass eine Verknappung der Mittel automatisch zu einer Profilschärfung und Verbesserung der Ausbildung führt. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Was die Inge­nieurausbildung betrifft, versuchen die Hochschulen natürlich, ihr jeweiliges Profil zu schärfen. Doch die Verhandlungen, die bei der Beschaffung der externen Mittel geführt werden, gehen innerhalb der Hochschulen weiter: Sollen eher Fachleute aus Bau­ingenieurwesen und Gebäude­technik oder doch lieber Architekten ausgebildet werden? Das ist auch bei der ETH so. Die Institu­tionen führen intern Aus­einander­setzun­gen darüber, wie sie ihre Mit­tel strategisch einsetzen wollen. Nicht immer fällt die Entscheidung zugunsten des Bauingenieur­wesens aus.

TEC21: Welche Rolle spielt die Fachschaft Bauingenieurwesen für die FH?
Albin Kenel: Der Verein besteht aus den Studiengangleitern aller FH, die Bauingenieurinnen und Bauingenieure ausbilden. Somit sind jene Personen dabei, die die Inhalte, die Zielsetzungen und die strategische  Entwicklung der Ausbildung verantworten. Wir betrachten die Fachschaft als eine Art Labor, in dem wir uns austauschen, voneinander lernen und uns gegen­seitig weiterbringen. Wir schärfen die Profile der Schulen und fördern die spezifischen Stär­ken. Wie bei allen Organisationen, deren Mi­tglieder am gleichen Markt präsent sind und zuein­ander im Wettbewerb stehen, gibt es einen freundschaftlichen und einen kompetitiven Aspekt. Wir sind Sparringspartner und Partner. Weil jedes Konkordat eine Bauingenieurausbildung auf seinem Gebiet haben will und eine Konzentration auf wenige Schulen po­litisch nicht op­portun ist, können wir unsere Mittel nicht bündeln. Jede Schule muss aus den knappen Mitteln, die zur Verfügung stehen, das Bestmögliche machen.
Für die Zukunft müssen wir grundsätzlich überlegen, ob sich die Fachschaft politisch stärker einbringen soll – im Sinn eines Lobbyings, eventuell mit Partnern wie dem SIA oder der usic. Vielleicht sollten wir uns bei den Gremien, denen wir unterliegen, mehr Gehör verschaffen. In Bezug auf die nationale Bildungs­politik stellt sich die Frage, ob der breit gefasste Auftrag an die FH richtig formuliert ist und ob die verfügbaren Mittel auch adä­quat zugewiesen und gesichert sind.

TEC21: Gelegentlich hört man die Forderung, die ETH möge keine praxis­orientierten Wissenschaften wie Architektur und Bauingenieur­wesen mehr unterrichten, sondern sich auf die reinen Wissenschaften und die Grundlagenforschung konzentrieren. Soll die ETH die Ausbildung von Bauingenieurinnen und Bauingenieuren ganz den FH überlassen?
Albin Kenel: Nein. Ich bin ein über­zeugter Verfechter des dualen Bil­dungssystems. Es ist erfolg­reich. Die ETH soll auf jeden Fall weiterhin Bauingenieurinnen und Bau­ingenieure aus­bilden, auf Bachelor- und Masterebene. Wir sollten aber darauf achten, dass die universi­tären Hochschulen und die Fachhochschulen sich nicht angleichen, sondern ihre spezifischen Stärken fördern. Im Moment ver­sucht jede Hochschule, sich die erfolgreichen Komponenten der anderen anzueignen, und übersieht, dass sie Gefahr läuft, die eigenen Stärken zu verlieren.

TEC21: Welche Vorteile haben die verschiedenen Hochschulen – und ihre Studierenden – vom dualen Bildungssystem?
Albin Kenel: Die universitären Hochschulen haben den Auftrag, einen akademischen Mittelbau und die zukünftige akademi­sche Forschungs­elite ausbilden. Das hilft den FH, akademisch aus­gebildete Fachleute für ihre eigene Forschung zu rekrutieren. Umgekehrt gilt: Wenn Absolven­tinnen und Absolventen von FH an universitären Hochschulen weiterstudieren, profitieren die­se davon, dass die neuen Studierenden bereits einschlägige Berufserfahrung mitbringen. In der Regel sind das Leute, die sehr fokussiert studieren, mit ökonomischen Mechanismen vertraut sind und klare Vorstellungen ihres zukünf­tigen Berufsbilds mit­bringen. Ihre starke intrinsische Motivation und ihre baupraktische Erfahrung beflügeln den Wettbewerb zwischen den Studierenden. Das kommt allen zugute.

Anmerkung

  1. Vgl. TEC21 17/2018, S. 11–12.

Fachschaft Bauingenieurwesen

In der Schweiz gibt es (neben der ETHZ und der EPFL) sieben öffentlich-rechtliche Fachhochschulen. Diesen sind zehn Hochschulen zugeordnet, an denen jeweils Bauingenieurwesen unterrichtet wird. Die Fachschaft Bauingenieurwesen ist die Vereinigung dieser zehn Hochschulen. Sie verleiht jährlich die Auszeichnung «Best of Bachelor».