Ge­nea­lo­gie - Aldo Rossi und Her­zog & de Meu­ron

Kontinuität oder Überwindung?

Den Einfluss Aldo Rossis auf das Werk von Herzog & de Meuron situiert ­Philip Ursprung zwischen zwei Fragestellungen: Führen sie sein Vermächtnis fort im Sinne einer Kontinuität? Oder haben sie seine Position überwunden? Gemeinsam ist dem Lehrer und den Schülern die Vorbildfunktion für die ­jeweils nächste Generation von Architektinnen und Architekten.¹

Date de publication
08-01-2012
Revision
25-08-2015

Im Vergleich zu Rem Koolhaas, dessen architektonische Vaterfigur in Mies van der Rohe mehr oder weniger eindeutig lokalisiert werden kann, ist die Frage nach der Ahnenlinie bei Herzog & de Meuron komplexer. Gewiss, es kann nicht bestritten werden, dass sie Hans Scharoun näher stehen als Ludwig Mies van der Rohe, dass sie Gottfried Semper eher verwandt sind als Karl Friedrich Schinkel. Ihre Wurzeln liegen zweifellos stärker in einer expressionistischen als in einer klassizistischen Tradition. Aber die Ahnenlinien sind verflochten und veränderlich. Fest steht im Grunde nur, dass sie Aldo Rossi als Lehrer bezeichnen. Aber welcher Art sind ihre Beziehungen zu Rossi? Sind es die formalen Ähnlichkeiten und methodischen Analogien? Sind es Begrifflichkeiten, ist es die Rhetorik? Führen sie sein Vermächtnis fort im Sinne einer Kontinuität? Oder haben sie seine Position überwunden im Sinne eines symbolischen architektonischen Vatermordes 
Was Aldo Rossi, Jacques Herzog und Pierre de Meuron in meiner Perspektive in erster Linie verbindet, ist ihre Präsenz als Identifikationsfiguren für eine Generation von jüngeren Architekten, mit anderen Worten als Vorbilder und Lehrer. Sie boten und bieten Orientierung in einer von den ausgehenden 1960er-Jahren bis heute anhaltenden Phase, die geprägt ist durch den Verlust von allgemeingültigen Normen, durch die Schwächung historischer Kontinuitäten sowie durch eine Partikularisierung der Architekturtheorie. Was bis in die 1950er-Jahre der avancierten, akademisch gestützten architektonischen Produktion eine Kohärenz verliehen hatte, also die Idee der Moderne, der Zusammenhang mit Begriffen wie der «Avantgarde», dem «Organischen» oder dem «Industriellen», begann sich allmählich aufzulösen. Zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren lief eine kontroverse Debatte um das Erbe der modernen Architekturtheorie. Sie drehte sich um Begriffe wie «Transparenz», «Postmodernismus», «Dekonstruktion», «kritischer Realismus», «Collage», «Neo-Marxismus» etc. und war bestimmt von Persönlichkeiten wie beispielsweise Manfredo Tafuri, Aldo Rossi, Robert Venturi, Colin Rowe, Bernard Tschumi, Georges Teyssot, Kenneth Frampton, Henri Lefebvre, Fredric Jameson, Charles Jencks und Oswald Mathias Ungers. Die schulbildende Rolle einzelner Protagonisten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Architektinnen und Architekten eine gemeinsame Sprache abhanden gekommen war.

Theoretisches Vakuum

In dem bis in die späten 1920er-Jahre tonangebenden deutschen Sprachraum war der Mangel an architektonischen Normen seit den 1960er-Jahren besonders eklatant. In K. Michael Hays’ Anthologie zur Architekturtheorie nach 1968 gibt es bezeichnenderweise kaum einen deutschsprachigen Beitrag.2 Wer also, wie Jacques Herzog und Pierre de Meuron, Anfang der 1970er-Jahre begann, an der ETH Zürich Architektur zu studieren, betrat ein offenes Feld. Die Kontroversen um das Erbe der Moderne wirkten auf die damaligen Studierenden anachronistisch. Die meisten jungen Architektinnen und Architekten empfanden die Situation als unübersichtlich. «Man redete nur», meinte im Rückblick beispielsweise Herzog.3 Oder in den Worten von Peter Märkli: «Es herrschte ein Vakuum».4 Die beispiellose Wirkung, die Aldo Rossi als Gastdozent an der ETH Zürich auf die Studierenden der 1970er-Jahre ausübte, rührte daher, dass er das bestehende Vakuum für einen Moment buchstäblich füllte und Normen etablierte.
Jacques Herzog und Pierre de Meuron, beide Jahrgang 1950, also beinahe zwanzig Jahre jünger als Rossi, betonten stets, dass sie Rossi als ihren prägenden Lehrer während dieser Zeit in Zürich betrachteten. Herzog erinnerte sich 1988 in einem Interview, dass Rossi sie nicht nur als Theoretiker, sondern auch durch seine «charismatische Persönlichkeit» inspiriert habe.5 Bis Ende der 1980er-Jahre war Rossis Vorbild in ihrer Produktion denn auch unübersehbar.

Gebaute Bilder

Einer der ersten verwirklichten Bauten von Herzog & de Meuron spricht explizit die Sprache Rossis. Die Fassade des Blauen Hauses (1979/80) ist eine eindeutige Hommage an ihren Lehrer. Die fast wie ein Aquarell anmutende Fassade mit den beiden Okuli, welche die Besucher des Hauses gleichsam anzuschauen scheinen, spielt direkt auf die Typologien Rossis an, beispielsweise dessen kleine Häuser oder «Kabinenhäuser», wie er sie Ende der 1970er-Jahre als Gegensatz zur grossen Struktur des Wohnblocks entwarf.6 Allerdings ist die Referenz fast überdeutlich. Sie ist derart explizit, dass unwillkürlich die Unterschiede ins Blickfeld rücken. Die Blaufärbung ist das eigentliche Thema des Hauses, sie gibt ihm den Namen. Sie verweist auf Yves Klein und dessen Idee der Immaterialität. Die Fassade funktioniert aber nicht als Zeichen, sondern bildhaft. Kleins Erfindung – nämlich Objekte mittels eines blauen Pigments so zu überziehen, dass sie den Betrachtern einen imaginären Raum erschliessen – wird von den Architekten übernommen als Mittel, die kleine Dimension des Hauses auszuweiten, die Enge buchstäblich zu sprengen. Man muss Kleins Œuvre somit nicht zwangsläufig kennen, um die Sprache des Hauses zu «lesen», sondern kann es angesichts der blauen Fläche der Fassade als Bild sehen und das Gefühl der Dematerialisierung konkret erfahren. Diese Differenz zu Rossi wird beim Fotostudio Frei in Weil am Rhein (1981/82) noch augenfälliger. Auch dieses Projekt lehnt sich an Rossis Methoden an, indem es die Geschichte und Typologie des Fotografischen evoziert. Allerdings schaffen Herzog & de Meuron diese Verbindung abermals nicht über traditionell feststehende, eindeutige Zeichen, sondern durch ein Netz von Assoziationen, die im fertigen Gebäude, das nur zu jener Zeit und an jenem Ort stehen kann, zusammenlaufen. Die Oberlichter in Gestalt von Kuben, die auf das Dach gesetzt sind, erinnern symbolisch an Kameragehäuse. Die Dachpappe, als Fassadenverkleidung eingesetzt, spielt auf das lichtempfindliche Material Asphalt an, ohne das die Fotografie nicht denkbar wäre (mit dessen Verwendung für die erste lichtbeständige Heliografie durch Nicéphore Niépce 1822 die Geschichte der Fotografie ihren Anfang nahm). Beide Beziehungen sind aber keineswegs konventionell, sondern lassen sich auch aus dem lokalen Kontext heraus erklären, im Fall der Dachpappe mit Blick auf die Materialien der Schuppen und Provisorien der Umgebung. Ausserdem assoziiert die kistenförmige Gestalt des Ateliers mit den kubenartigen Oberlichtern unmittelbar die Form einer Camera obscura.
Auch die in den frühen 1980er-Jahren entworfenen Bauten wie das Steinhaus (Tavole), das Haus für einen Tierarzt (Dagmersellen) und das Sperrholzhaus (Bottmingen bei Basel) stehen Rossis Ansatz einerseits insofern nahe, als sie eine spezifische Sympathie für die unscheinbaren Gegenden der Peripherie und die alltäglichen Gesten der Zweckbauten thematisieren, unterscheiden sich aber anderseits dadurch, dass sie jedes Mal eine Situation schaffen, für die es keine Vorbilder zu geben scheint. Die ersten urbanen Projekte in Basel, das Wohn- und Geschäftshaus Schützenmattstrasse (Wettbewerb 1984/85, Ausführung 1992/93) und das Wohnhaus entlang einer Scheidemauer (Wettbewerb 1984, Ausführung 1987/88), übernehmen von Rossi die Strategie der Diskontinuität beziehungsweise des schockartigen Einfügens einer zerschnittenen Grossform in den bestehenden Raster, sind aber zugleich so spezifisch für die räumliche und historische Struktur der jeweiligen Quartiere, dass sie nur dort stehen können.

Von Aldo Rossi zu Rémy Zaugg

Spätestens mit der Siedlung Pilotengasse in Wien (1987/88, Ausführung 1989–1992) lösen sich Herzog & de Meuron endgültig von ihrem Lehrer. Die wie Kompositionen von Vorortzügen gekurvten Häuserzeilen sind ortsspezifisch und einmalig. Sie haben sich von jeglicher Typologie verabschiedet. Von nun an werden die Projekte wie Schauspieler eines grossen, nicht zu Ende geschriebenen Stückes in Erscheinung treten. Sie machen deutlich, was die Architekten bereits Mitte der 1980er-Jahre erkannt hatten, nämlich die Gefahr der spätmodernistischen Tradition, ohne Rücksicht auf den historischen und urbanen Kontext vorzugehen. In ihren Worten: «Als Schüler von Aldo Rossi haben wir von einem typologischen Ansatz her die Willkür der städtebaulichen Eingriffe nach dem Krieg kennengelernt, und seit einigen Jahren den Horror der rationalistischen Dogmatiker und Formalisten.»7
Zugleich scheinen sie damals das Dilemma gespürt zu haben, auf das Rossi im Lauf der 1980er-Jahre zusteuerte, nämlich das Problem des Formalismus oder genauer gesagt der Einengung in ein zunehmend starrer werdendes Repertoire, das sich nicht beliebig auf alle Bauaufgaben und Regionen anwenden lässt. Trotz oder gerade wegen der vorwiegend enthusiastischen Rezeption ihrer frühen Bauten erkannten sie die Problematik einer einseitig auf die ikonische Wirkung fokussierenden Rezeption. Charakteristisch dafür ist ihre differenzierte Diskussion des Begriffs des «Bildes». Der Einsatz von Bildern in der Architektur im Sinne einer «architecture parlante» öffnete zwar neue Türen und half, das Vakuum der 1970er-Jahre mit neuen Gehalten zu füllen. Aber die wenigsten wurden von einer breiten Öffentlichkeit akzeptiert, und ihre Wirkung war oft nur von kurzer Dauer. Herzog und de Meuron hatten die Funktion der Bilder bereits 1982 in ihrem Aufsatz «Das spezifische Gewicht der Architekturen» diskutiert.8
Aber die Konzentration auf die Artikulation von Bildern enthielt zugleich das Risiko, sich auf einzelne Bauten zu beschränken, die Bedeutung der Stadt als Ganzes aus den Augen zu verlieren und die historische Dimension zu vernachlässigen. Die Gefahr des Formalismus schien für sie so gross zu sein, dass sie den Begriff des Bildes bereits Mitte der 1980er-Jahre nur noch mit Vorsicht verwendeten. Seit Mitte der 1990er-Jahre, also nach ihrem Durchbruch als Stararchitekten, bezogen sie sich denn auch nur noch sporadisch auf Aldo Rossi. Anstelle von Rossi als Orientierungsfigur trat in ihre Rhetorik nun die bildende Kunst, namentlich Joseph Beuys und ihr gelegentlich als «fünfter Partner» bezeichneter Mentor Rémy Zaugg. Der einführende Text zu ihrer Werkmonografie bezieht sich auf Beuys und konsolidiert den Mythos des Ursprungs ihrer Architektur in der bildenden Kunst der 1970er-Jahre.9 Zu jenem Zeitpunkt hatten sie Rossi hinter sich gelassen. 
Bei diesem Aufsatz handelt es sich um einen Auszug eines Essays aus dem von Ákos Moravánszky und Judith Hopfengärtner herausgegebenen Buch «Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen», gta-Verlag, Zürich 2011.

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