Von Sei­len um­garnt

Ein Unternehmen sollte seine Märkte im Blick und seine Produkte stets vor Augen haben. Ein Drahtseilnetzhersteller im Kanton Bern nahm sich dies zu Herzen und baute zusammen mit rollimarchini Architekten seine eigene Fassade: natürlich eine Seilfassade.

Date de publication
10-11-2022

Fährt man durch Trubschachen BE, sticht ­einem das erweiterte Firmengebäude der Jakob Rope Systems AG noch gar nicht besonders ins Auge. Der lange ­schwarze Bau steht von der Strasse aus gesehen in zweiter Reihe, teilweise verdeckt vom weissen Firmenbau des Konfektionsgebäudes aus dem Jahr 1995 und von einem angrenzenden Haus. Weist das Konfektionsgebäude nur sehr dezent auf die hier produzierten ­Waren hin – entlang seiner Längsseite sind einige mit Streben gehaltene Drahtseile zu erkennen –, verfolgt das heutige Hauptgebäude eine gänzlich andere Strategie. Starke Edelstahlseile umhüllen den 150 m langen und etwa 23 m breiten Bau komplett und lassen ihn als Einheit erscheinen, obwohl er aus verschiedenen Bauabschnitten zusammengesetzt worden ist.

Dabei könnte man bei den Seilen einer optischen Täuschung unterliegen. Ohne genaueres Hinsehen entsteht der Eindruck, einige wenige Bündel von Seilen laufen im Zickzack um das ganze Gebäude herum, ja umweben es wie ein Band. Diese Idee, ein langes Seil um die Baute zu schlingen, war auch die erste Intuition der Architekten von rollimarchini. In enger Zusammenarbeit mit der Ingenieurabteilung der Bauherrschaft kam man aber schnell zu dem Schluss, dass eine solche bautechnische Umsetzung kaum zu realisieren ist. Die Seildehnung und Lagebeständigkeit eines solch langen stählernen Elements hätte den ästhetischen Anforderungen nicht genügt, und auch eine Montage wäre schwierig zu bewerkstelligen gewesen.

Kurz statt lang

Die heute umgesetzte Lösung umgeht diese Probleme elegant: Nicht einige sehr lange Stahlseile umspannen das Büro- und Produktionsgebäude, sondern viele bedeutend kürzere Seilabschnitte. 1050 einzelne Seile mit einer Gesamtlänge von knapp 20 km sind nun montiert und bilden ein elegant wirkendes Seilband aus Edelstahl vor der dunklen Fassade. 20 000 m2 Seilfassadenfläche sind so entstanden.

Die Seile sind nicht direkt auf die Aussenhaut des Gebäudes montiert. Sie sind auf eine auskragende, bis zu 10 m hohe Tragkonstruktion aus Stahlrohren aufgespannt. Die vertikalen Stahlrohre haben einen Durchmesser von 168.1 mm und eine Wandung von 10 mm, während die horizontalen Riegel mit 193.7 mm etwas grösser ausfallen. Die Materialstärke ist am oberen Träger 10 mm, am unteren waren 8 mm ausreichend. Dies hängt mit der Konstruktion der Seilaufnahme ­zusammen.

Um die Seile auch bei den jahreszeitlichen Temperaturschwankungen und auftretenden Wind­lasten stets unter der gewünschten Spannung zu halten – die Dehnungen ergeben sich nicht nur beim Seil selbst, auch die stählerne Rahmenkonstruktion trägt dazu bei –, sind sie am oberen Riegel fixiert. Rechenartig ausgeschnittene Flacheisen, die am Träger angeschweisst sind, bilden die Halterung für Druck­federn, an denen die Seile aufgehängt sind. Die Federn gleichen auftretende Längenänderungen aus. Am unteren Riegel der Tragkonstruktion ist keine Seilfixierung angebracht. Hier laufen die einzelnen Seile mit gleichen Einfall- und Ausfallwinkeln um das Rohr.

Nicht die Statik macht den Durchmesser

Im Gegensatz zu allgemein üblichen Seilanwendungen, etwa bei Brücken, Seilbahnen oder Ähnlichem, war bei dieser Seilfassade nicht die Belastung ausschlaggebend für den verwendeten Seildurchmesser. Lasten ergaben sich hier ja «nur» aus dem Eigengewicht des Seils, der Temperatur, der Vereisung und dem Wind. Verkehrslasten und Eigengewichte von anderen Bauteilen, wie etwa bei einer Brücke, kommen hier nicht vor.

Der recht ­üppige Seildurchmesser von 12 mm ergab sich aus der erwünschten Lesbarkeit und dem Erscheinungsbild der Seile vor der Fassade. Zu dünne Seile hätten einen zu geringen Effekt erzielt, viel dickere eine schwierigere Montage, eine umfangreichere Trägerkonstruktion und natürlich auch höhere Kosten nach sich gezogen. Die Rohrkonstruktion musste nämlich auf den Seildurchmesser abgestimmt sein.

Der Grund hierfür liegt am Stahlseil selbst: Stahlseile können nur bis zu einem bestimmten Biegeradius umgelenkt werden. Die verwendeten Rohrrahmen, um die das Seil herumläuft, brauchen daher einen Mindestdurchmesser. Bei den nun verwendeten Edelstahlseilen mit 12 mm Durchmesser ist dies gewährleistet. Die Konstruktionsweise der Seile wird als ­6 × 19-WC bezeichnet. Dies bedeutet, um eine stählerne Einlage (WC) werden sechs Litzen mit je 19 Drähten geführt.

Dezenter Schleier

Es dürfte auf der Hand liegen, dass die elegante Seilfassade bauphysikalisch keine Aufgabe übernimmt. Die Beschattung durch die Seile ist zu gering, ein Wärme- oder Witterungsschutz ausgeschlossen und eine Begrünung nicht vorgesehen. Von innen gesehen wirkt das vor den grossen Fensterflächen verlaufende Geflecht nicht einschränkend. Es erscheint eher wie ein dezenter Schleier oder wie eine filigrane Absturzsicherung.

Mit der Umwebung ihres Firmenhauptsitzes mit den selbst produzierten Edelstahlseilen macht das Emmentaler Unternehmen vielmehr ein Bauprodukt sichtbar, das im allgemeinen eher weniger wahrgenommen wird. Am Gebäude steht es hier sogar wahrlich im Vordergrund, was jedoch auch praktische Gründe hat: Zwischen der thermischen Gebäudehülle und der Seil­fassade ist ein genügend grosser Abstand, damit eine Reinigung der Fassade stattfinden kann.

Gewöhnlich fristen Seilkon­struktionen eher ein Schattendasein, obwohl sie zahlreiche Aufgaben er­füllen. Welcher Passant betrachtet schon die Absturzsicherung einer Brücke oder etwa die Fangnetze zur Suizidprävention? Auch die mittlerweile oft und immer öfter durchgeführten Fassadenbegrünungen bilden zwar manchen Blickfang, Bewunderung erheischen allerdings meist die Rankgewächse selbst. Die Drahtseilkonstruktionen, die diese erst ­ermöglichen, interessieren kaum, gehen sogar mit beziehungsweise in der Begrünung unter.

So ist es doch nachvollziehbar, dass ein Seilhersteller sein Produkt repräsentativ hervorhebt und sich von ihm wahrlich umgarnen lässt. Gleichsam als grüner oder stählerner Faden zieht sich diese Produktpräsentation auch durch das Gebäude. Absturzsicherungen und Innenfassaden sind mit Drahtseilnetzen ausgeführt, Besprechungszonen mit Glaswänden und Lichtkuppeln werden von Rankgewächsen umwoben.

Schliesslich zeigt sich das Unternehmen auch verwoben mit dem Standort in Trubschachen. Die ­Produktion der Netze für Fassadenbegrünungen, für ­Sicherheitsnetzlösungen und Ähnlichem, erfolgt zwar in einem Werk in Saigon – selbstverständlich mit ausgedehnter begrünter Fassade –, aber auch im Emmental wird produziert. Seilmaschinen wickeln kilometerlange Seilstränge aus Edelstahl, aber auch Faserseile, etwa für Spielplätze, verlassen das Werk. Und mit der Übernahme der Habegger Seilzugtechnik und ihrer Verlagerung nach Trubschachen hat man sich einen weiteren, bodenständigen Markt erschlossen. Stellt die Firma doch Seilzüge, die etwa in der Forstwirtschaft zum Einsatz kommen, her. Vielleicht kommt die Ähnlichkeit von Seilen mit Wurzeln nicht von ungefähr.

Fabrikerweiterung Trubschachen

 

Bauherrschaft
Jakob Rope Systems, Trubschachen


Architektur
rollimarchini Architekten, Bern


Stahlbau
Von Niederhäusern, Erlenbach


Generalunternehmung
Frutiger, Thun


Fassade
Jakob Rope Systems, Trubschachen


Fertigstellung
2019 (erste Etappe)
2022 (zweite Etappe)

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