Ein ar­chi­tek­to­nisches Her­ba­rium

Im Vortragssaal des Botanischen Gartens in St. Gallen spielen Pflanzen eine zentrale Rolle. Der Holzbau von Tom Munz Architekt mit minimaler Gebäudetechnik wird denn auch durch Orchideen auf dem Dach ergänzt.

Date de publication
03-11-2022

Hinten und seitlich ist der Vortragssaal von Gewächshäusern aus Stahl und Glas umgeben. Auf der Vorderseite befindet sich ein Platz, in Pflanztrögen wachsen hohe Kamelien und Azaleen im Sommer, und dahinter steht etwas erhöht die alte, eindrückliche Orangerie, die dem Ort etwas Südländisches verleiht. Zwischen den raumhohen Fenstern im Saal befindet man sich mitten in dieser Pflanzenvielfalt.

«Betreffend der Verglasung haben wir viel mit der Bauherrschaft diskutiert. Wir wollten die Vegetation inszenieren und ein Licht- und Schattenspiel auf den Platz und ins Innere des Baus projizieren», so Tom Munz, der Architekt. Schaut man von draussen in den Raum, erscheinen die Silhouetten der Pflanzen wie durch ein Kaleidoskop. Erst genaues Hinsehen zeigt, ob man tatsächlich Pflanzen vor dem gegenüberliegenden Fenster sieht oder Schattenfragmente der Klettergewächse vor der Fassade, die sich auf dem Vorhang abbilden, oder aber die Spiegelung eines Baums auf der anderen Seite des Baus im Fensterglas.

Ob Schatten, Spiegelung oder Pflanzen, alles bewegt sich leicht im Wind und wandert mit dem Sonnenstand oder verdunkelt sich durch eine nahende Wolke. Ein Grünfilter im Glas verstärkt den Effekt, und natürlich hat die Vegetation auch eine klimatisierende Wirkung.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Stadt aus Holz – Bildungsbauten aus Holz». Weitere Artikel zum Thema Holz finden Sie in unserem digitalen Dossier.

Mit Vorhängen, die auch der Raumzonierung dienen, lässt sich der Saal abdunkeln. Ein grüner Einbau aus gebeizten Mehrschichtplatten mit Schränken für Mikroskope und Bücher sowie einem Waschbecken und Elektroverteilung trennt das Foyer ab. In der anderen Ecke liegt der Notausgang mit einem Fenster zum Querlüften. Zwischen zwei Vorträgen, wenn es schnell gehen soll, lassen sich beide Türen, die in Ost-West-Richtung des grössten Winddrucks des St. Galler Hochtals angelegt sind, öffnen.

Opferbretter und norwegische Seife

Das Gegenstück zum Metall der Gewächshäuser bildet am Vortragssaal Holz. Die Struktur ist an den alten, klassisch und seriell erweiterbaren Orangerientypus angelehnt. Das stapelbare Stabwerk war ohne Spezialtransport lieferbar – ein Vorteil, auch weil der Garten während des Baus geöffnet war. Die Teile waren schnell vor Ort verschraubt und die Deckenelemente eingeschoben.

«Die Stadt bestand zuerst auf stählernen Windverbänden, wir insistierten jedoch darauf, dass das auch mit Holz machbar sei. Nun ist alles aus regionalem, unbehandeltem Fichtenholz», berichtet Tom Munz. Einzig die beiden -Türen sind gemäss SIA-Norm oberflächengeschützt und nach St. Galler Eco-Standard lackiert.

Den UV-Schutz des Holzes im Innern, eine Verseifung nach norwegischem Rezept, brachte die Firma Blumer-Lehmann an. Die exponierten, schneller vergrauenden äusseren Fassadenecken schützen Opferbretter – ein traditionelles Bauernhauselement. Wenn sie abgenutzt sind, kann man sie abschrauben und auswechseln und muss nicht das ganze Element auswechseln. Die sägerohen Bretter unter der Dachkante folgen demselben Prinzip.

Orchideendach auf Kautschuk

Die schlanken Blätter der Orchideen auf dem Flachdach werfen ihre Schatten auf den Platz. Die seltenen Exemplare finden im städtischen Umfeld ohne magere Erde nur wenig Platz, obschon ihre Sporen fast überall sind. Die Fachleute im Botanischen Garten, die sich um sie kümmern, legten auch den Dachaufbau mit Speichermatten fest, die auf einer Naturkautschukfolie liegen.

Eigentlich sahen die Architekten vor, dass das Regenwasser über den Rand hinunterplätschert. Doch Versuche zeigten, dass das Wasser überhandnehmen könnte. Schliesslich entschied man sich für eine moderate Variante, bei der nur wenige Tropfen fein über die Dachkante rieseln und der Rest in den Ecken kontrolliert in ein Leitungssystem läuft. Von dort erreicht das Wasser die Beete um das Fundament und erspart so das Giessen am Abend.

«Es ist alles so gebaut worden wie im Wettbewerb vorgeschlagen – nur die begrünte Fassade kam dazu», erzählt Tom Munz. Im Projektvorschlag hatten die Architekten Bedenken wegen der hohen Betriebskosten und liessen sie weg, thematisierten sie aber später in Gesprächen. Der ehemalige Leiter des Gartens, Hanspeter Schuhmacher, war Feuer und Flamme, worauf die Gärtner Pflanzen und die Standorte in den Beeten entsprechend den Himmelsrichtungen bestimmten.

AM BAU BETEILIGTE
 

Bauherrschaft:
Hochbauamt Stadt St. Gallen

Architektur:
Tom Munz Architekt, St. Gallen

Tragkonstruktion:
Borgogno Eggenberger + Partner, St. Gallen

Skelettbau Holz:
Blumer-Lehmann, Gossau

Elektroinstallationen:
Elektro Akermann, St. Gallen

Gebäudetechnik:
Gübeli Energie Technik, Degersheim

Bauphysik:
Studer + Strauss, St. Gallen

Brandschutz:
Meile + Hollenstein, Mühlrüti

 

Gebäude

Geschossfläche: 110 m2

Volumen: 542 m3


Holz und Konstruktion

Stabwerk: Fichte (Schweiz)

 

Daten und Kosten

Projekt und Bauzeit: 2017–2020

Gebäude (BKP 2): 5500 CHF/m2

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