«Manch­mal braucht es gar nicht so viel De­sign»

Was kann Hightech-Medizin von illegalen Partys lernen? An der Planung des neuen Zürcher Kinderspitals von Herzog & de Meuron ist ein Innen­architekturbüro beteiligt, das sich aus einem Berliner Clubraum in den 1990er-Jahren an die Spitze der aktuellen Designkunst empor­gearbeitet hat. Co-Gründer und Geschäftsführer Chris Middleton über die eigene Herangehensweise – bei Gestaltung und Entwurfsmethodik.

Date de publication
16-06-2022

TEC21: Herr Middleton, wie kommt man aus einem Berliner Nachtclub in das Zürcher Kinderspital?

Chris Middleton: Natürlich über Umwege. Angefangen haben wir als Betreiber des Kinzo-Clubs Ende der 1990er-Jahre. Damals beschäftigten wir uns sehr viel mit dem Innenraum – und mit der ihm eigenen zwischenmenschlichen Dynamik. Daraus entstand eine intensive Auseinandersetzung mit den Nutzerinnen und Nutzern: Wann, wie und warum betreten sie einen Raum, nehmen ihn an und kommen gern wieder? Dieser Ansatz ist bis heute das Zentrum unserer Arbeit und ergänzt die Planung von Herzog& de Meuron für das Kinderspital in Zürich.

Was ist Ihre Rolle beim Kinderspital?

Im Gegensatz zu anderen Projekten sind wir nicht selbst planend, sondern nur beratend tätig. Wir unterstützen Herzog&de Meuron speziell bei der Gestaltung und Organisation der Büro- und Laboreinheiten im Forschungsgebäude. Diese Arbeitsbereiche des Kinderspitals nutzen Doktorandinnen und Doktoranden, und darin befinden sich auch eine Bibliothek und das Audito­rium. Unser Fokus richtet sich nicht nur auf die Gestaltung, sondern wir setzen auch die Brille der verschiedenen Nutzergruppen auf. Zum Beispiel diejenige eines Assistenzarzts: Wann erscheint er zur Arbeit? Wie läuft sein Tag ab? Wie erlebt er das Haus? Wie ist seine «user journey» oder seine «user experience», wie man auf Englisch sagt?

Sprechen Sie dazu mit den verschiedenen Nutzerkreisen?

Wir machen grosse Online-Abfragen, bei denen jede Nutzerin und jeder Nutzer Einfluss nehmen und eigene Bedürfnisse im Multiple-Choice-Verfahren anmelden kann. Zudem führen wir Interviews vor allem mit Führungskräften, die für ihre Abteilung sprechen, oder mit Personen, die ganz eigene Tagesabläufe haben. Wir versuchen dann, die unterschiedlichen Tages- und auch Wochenabläufe zu visuali­sieren und übereinanderzulegen, um zu sehen, wo es Synergien gibt und man Dinge bündeln kann. Zusätzlich zu den Interviews organisieren wir Workshops mit Gruppen von 10 bis 15 Leuten, um verschiedene Szenarien durchzuspielen. Solche Bedarfsermittlungsverfahren funktionieren unserer Erfahrung nach in mehreren Dimensionen. Die Nutzer werden zu Co-Autoren des Entwurfs. Es ist unser Ziel, dass wir die Autorenschaft mit den Nutzerinnen und Nutzern teilen.

Bringen Sie in das Spitalprojekt auch etwas ein, das unmittelbar aus den ersten Tagen des Kinzo-Clubs in Berlin kommt?

Das Gespür für Atmosphären. Das war im Club extrem wichtig und ist es natürlich auch im Kinderspital. Entscheidend für die Atmosphäre sind da nicht nur Oberflächen und Materialien, die weit­gehend von den Architekten bestimmt werden, sondern die Nutzerinnen und Nutzer. In unserem Club haben wir früher sehr viel Liebe in Details gesteckt, die am Ende überhaupt nicht zur Geltung kamen, weil es derart voll, dunkel und verraucht war. Man ist hingegangen, auch allein, weil man wusste, man würde immer jemanden treffen. Das war am Ende wichtiger als die Gestaltung. Aber man musste eine erste Gruppe von Menschen überzeugen, dahin zu gehen. Dieses Phänomen lässt sich auch auf Orte wie den Arbeitsbereich des Kinderspitals übertragen.

Erzählen Sie uns mehr von den Anfängen, die mit dem Betrieb eines Nachtclub verbunden sind?

Unsere Eröffnung war Samstag, 21. November 1998, in der Galerie Kai Hilgemann in Berlin-Mitte, direkt unter meiner Studenten-WG. Hilgemann fragte uns beim Einzug, ob wir nicht mit ihm gemeinsam eine Bar betreiben möchten. Das fanden wir natürlich total spannend. Wir haben dann alle möglichen Möbel gebaut für diese Bar – einen Tresen, verschiedene Beleuchtungsszenarien – und ganz bewusst nicht die Eingangstür von der Galerie gewählt, sondern den Seiteneingang durch eine Brandwand. Das war der Startpunkt unserer Zusammenarbeit als Team nicht nur an der Uni, sondern auch geschäftlich, wenn man so will. Nach ein paar Monaten mussten wir aber raus, weil der Ansturm für den Galeristen zu gross wurde. Der Club zog dann in den Keller um. Obwohl wir den Ausbau in den Semesterferien mit einfachsten Mitteln vorgenommen haben, blieb der Ort eine angesagte Adresse. Wir hatten damit gerechnet, nach drei Monaten schliessen zu müssen. Doch wir konnten bleiben, bis das Haus saniert wurde. Danach fanden wir bis 2005 Räume in einem Plattenbau am Berliner Alexanderplatz. So wurde aus einer kleinen Bar ein Club mit 400 m2 Fläche und eine eigene Firma. Nach dem Diplom trennten wir uns davon und gründeten in derselben Konstellation – Martin Jacobs, Karim El-Ishmawi und ich – ein Architekturbüro.

Der gewollte Untergang des Clubs war die Geburtsstunde des Architekturbüros?

So ist es. Aber wir haben schon mit dem Club ein Netzwerk aufgebaut, von dem wir heute noch profitieren.

Der Nachtclub, die Urhütte der Architektur?

 

Diesen Ort in Berlin-Mitte musste man kennen: eine unscheinbare Treppe, die neben einem Gründerzeithaus an der Linienstrasse direkt vom Gehsteig in den Untergrund führte. Dort hinter der Kellertür war man plötzlich in einer warmen, rot-violett ausgeleuchteten Welt. Der «Kinzo Club» war vor knapp 25 Jahren eine bekannte Adresse für Partygänger: DJs heizten die Stimmung an, und hier floss der von den Betreibern und Gestaltern der Bar kreierte «Kinzo Cooler». Karim El-Ishmawi, Martin Jacobs und Chris Middleton hatten in mühseliger Feinstarbeit den Tresen gebaut und wussten das Schummerlicht perfekt zu dosieren. Es war nicht die einzige Bar ohne offizielle Genehmigung: Da waren noch die «Sechstagebar», offen alle sechs Tage, die «Mittwochsbar» in einem Hinterhof und markiert nur mit einer müden Glühbirne, sowie «Kunst und Technik» gegenüber vom Bode-Museum.

 

Wenn die Berliner Behörden vorgaben, diese Orte ohne Schankgenehmigung nicht zu kennen, dann mag das eine Strategie gewesen sein, die aufgegangen ist. Wenig später wurde Berlin zum Ort der Start-ups, und wer davon nicht eingegangen ist, hat abgehoben. In Berlin fliesst längst nicht mehr nur Alkohol, sondern auch Geld. Geblieben aber ist der Mythos der Ursprungs aus der ausgefeilten Improvisation. Das gilt für Kinzo wie für seine Kunden: Aus illegalen Bartendern sind gefragte Gestalter geworden, deren Fokus nach wie vor auf Innenräumen liegt. Der Kreis der Kundschaft hat sich den Zeiten angepasst: Es sind New-Economy-­Firmen wie Zalando und SoundCloud, die dank Internet und gewieften Geschäftsideen längst grosse Konzerne sind, sich aber weiterhin in eine ursprünglich wirkende Ästhetik des Experiments einhüllen. Dass selbst der etablierte Suhrkamp Verlag nach solcher Interior-­Expertise fragt und sich Stararchitekturbüros wie Herzog & de Meuron vom ehemaligen Underground inspieren lassen, spiegelt einen Prozess des Erwachsenwerdens wider. Oder, um die Anfänge aufzugreifen: Neben guten Erinnerungen und wichtigen Erkenntnissen ist auch eine gewisse Ernüchterung darüber eingetreten, dass Schein und Sein nicht immer übereinstimmen.

Wieso denn eigentlich Innenraumgestaltung? Wollten Sie im selben Genre bleiben?

Als wir in den frühen Nullerjahren unser Diplom gemacht haben, konnten wir keine Jobs als Architekten in Berlin finden. So mussten wir uns mit kleinen Anfragen begnügen, und die waren vornehmlich im Interior-Bereich angesiedelt. Wir wollten ursprünglich Hochbau machen. Erst als wir uns bewusst mit dem Innenraumthema auseinandersetzten, erkannten wir das grosse Potenzial – und die damals noch oft unterschätzte Relevanz – der Innenraumgestaltung. Daraus entwickelten wir eine interdisziplinäre Arbeitsweise. In unseren Team sind die Architektur, die Innenarchitektur, Design und Stadtplanung vertreten.

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Welche fachlichen und thematischen Schwerpunkte bringen Sie drei denn selbst ein?

Wir kennen uns schon seit dem Grundstudium und haben alle drei in Berlin Architektur studiert. Martin ist zudem ein super Handwerker. Er hat eine Ausbildung bei einem der besten Schreiner Berlins gemacht, danach mehrere Jahre in einem Modellbaubüro gearbeitet und u.a. für David Chipperfield Architects das Modell der Museumsinsel gebaut. Bis heute begleitet er jeweils Projekte bis in die späteren Leistungsphasen, während Karim und ich in der Entwurfsphase und den Wettbewerben zum Einsatz kommen. Wir zwei kümmern uns zudem um die Entwicklung und die Vision des Unternehmens.

Was hat sich an Ihrer ursprünglichen Arbeitsweise verglichen mit heute geändert?

Wir arbeiten digitaler und vernetzter. Manchmal ist es sogar ein bisschen zu viel Kommunikation über die verschiedenen Kanäle. Persönlich kann ich nicht mehr so tief in die kreativen Prozesse einsteigen; als Geschäftsführer einer Firma bin ich auch verantwortlich für fast 60 Mitarbeitende. Deshalb kommentiere ich eher, korrigiere oder gebe Impulse, wie man Entwürfe schärfen kann oder eine überraschende Ironie integriert. Trotzdem wollen wir Gründer uns aus dem kreativen Teil nicht ganz zurückziehen. Deswegen verstärkten wir nun unsere Administra­tion, damit wir wieder mehr Zeit für die inhaltliche Arbeit finden.

Wie haben Sie gelernt, den Betrieb so aufzubauen, dass er läuft? Das ist ja etwas, woran auch kreative Architekten scheitern.

Wir feilen daran. Wir haben zum Beispiel überlegt: Macht es mehr Sinn, Experten auszubilden für spezielle Phasen mit speziellen Eigenschaften? Oder wollen wir eher mit Generalisten arbeiten? Im Moment haben wir uns für eine Zwitterlösung entschieden: Wir sind in Projektteams organisiert, die wiederum mehrere verschiedene Projekte bearbeiten. Diese Teams funktionieren relativ autark; damit machen wir gute Erfahrungen.

Wesentlich ist zudem eine gute Unternehmenskultur. Dazu gehört nicht allein eine gute Kaffee­maschine, wir setzen vor allem auf persönlichen Austausch. Im Herzen unseres Büros haben wir eine grosse Materialbibliothek, in der Vorträge gehalten werden können oder man auf einer grossen Leinwand Videos anschauen kann. Hier essen wir gemeinsam Mittag, halten kurze Meetings ab oder treffen uns auf spontane Kaffeepausen. Einmal im Monat am Dienstagmorgen stellt jedes Projektteam den anderen «Kinzos» seine aktuellen Projekte vor. Dadurch entsteht ein besonderes Gemeinschaftsgefühl.

Wann sind Sie so stark gewachsen?

Wir haben 2014 ein grosses Projekt gewonnen: das Innenraumkonzept für den Campus der Ersten Bank am neuen Hauptbahnhof in Wien. Damals waren wir acht Mitarbeiter, wir haben aber behauptet, wir seien 15 (lacht). Und dann mussten wir schnell neue Leute einstellen! Plötzlich beplanten wir eine Fläche von 65 000 m2. Parallel dazu gestalteten wir das Büro des Start-ups SoundCloud. Als die Bilder von dieser Realisierung veröffentlicht wurden, bekamen wir unglaublich viele neue Anfragen. Andere junge Firmen wollten genau so etwas haben. So kamen zwei Dinge zusammen: einmal die Start-up-Szene, zum anderen die Erste Bank als Vorreiterprojekt für grössere Projekte.

Können Sie etwas zu Ihrer Entwurfsmethodik sagen?

Ein interessantes Beispiel ist unsere Arbeit für den Versandhändler Zalando. Ein typischer Fall, bei dem ein kleines Start-up, das ursprünglich in einem Fabrikgebäude untergebracht war, sich er­weitert. Zuvor war alles ein bisschen improvisiert, aber es hatte auch Charme und Atmosphäre. Dann wird die Firma gross. Sie stellt sich professionell auf und braucht mehr Platz. Ein Neubau ist in der Regel aber gesichtslos. Deshalb haben wir versucht, den Charme der Fabrik in den Neubau zu übersetzen. Dabei haben wir uns am Projekt für SoundCloud orientiert, wo wir ein altes Fabrikge­bäude einfach roh belassen haben, mit Gussasphalt als Bodenbelag, Eichenmöbeln, von Beton gefassten Deckendurch­brüchen. Die ansonsten nur rohen Materialien strahlen Wärme aus; ab und zu sieht man die Backsteinwände. Dieselben Materialien tauchen im Neubau von Zalando auf: Gussasphalt, Eichenholz, Beton. Die richtige Beleuchtung überträgt zudem das Gefühl, es strahle immer noch so eine Wärme aus. Das war aus meiner Sicht ein interessantes Experiment: zu er­kennen, dass sich so etwas auch in einen Neubau und auf grössere Räume skalieren lässt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 20/2022 «Innenausbau mit Methode».

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