«Wir müs­sen auf die Be­ruf­srol­len fo­kus­sie­ren»

In den technischen Berufen fehlen auch heute noch die Frauen. Die Diskussionen ähneln sich seit Jahren: Was sind die Gründe? Wie kann die Situation verbessert werden? Eine Bestandsaufnahme mit Raphaela Hettlage, Teamleiterin Diversity der ETH Zürich.

Date de publication
21-12-2021

Frau Hettlage, es gibt eine Vielzahl verschiedener Vorstösse, um die Begeisterung der Mädchen für die technischen Berufe zu fördern. Sie scheinen aber nicht richtig zu fruchten. Täuscht der Eindruck?

Raphaela Hettlage: Die Schweiz hat sicher ein MINT-Problem. Man hätte gern mehr Fachkräfte, und es gibt zu wenig – sowohl Männer als auch Frauen. Mittlerweile ist das Bewusstsein da, etwas unternehmen zu müssen. Ich habe aber eine sehr starke Tendenz bemerkt, dass die Verantwortung immer weiter nach unten verschoben wird: von der Schule in den Kindergarten, vom Kindergarten ins Elternhaus. Jeder ist überzeugt, sein Bestes zu tun, ist aber auch der Meinung, man müsste noch viel früher anfangen. Das hat möglicherweise auch damit zu tun, dass viele der Einzelbemühungen nicht den Erfolg bringen, den sich die Initiatorinnen wünschen. Was zu einer gewissen Frustration führt. Engagiert man sich in diesem Bereich, ist es wichtig zu wissen, dass es auf jeder Stufe etwas bringt.

Trotz der vielen Initiativen scheinen Klischees wie «Technik ist nur etwas für Männer» oder «Mädchen können keine Mathe» erstaunlich lebendig zu sein. Wie kommt das?

In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Binarität wichtig, die bei uns stark mit den Rollen der Frau und des Manns einhergeht. Die klassischen Geschlechterrollen sind immer noch in unseren Köpfen verankert. Nur wenige trauen sich etwas zu tun, was ausserhalb dieser klar definierten Rollen liegt. Es wäre besser, sich auf Berufsrollen zu fokussieren und sich zu fragen: Was habe ich für ein Bild im Kopf, wenn ich an Bauingenieurinnen denke? Was macht den Beruf einer Bauingenieurin aus? Was muss ich dafür mitbringen? Was kann ich schon? Wenn es gelingen würde, die Berufsrollen besser von den Geschlechterrollen zu trennen, hätte man schon viel erreicht.

Um sich ein Bild vom Beruf der Bauingenieurin zu machen, braucht es Vorbilder. Ich kann nur etwas sein wollen, was ich kenne und was ich sehe.

Das ist richtig. Immer noch fehlen Bauinge­nieurinnen in der Breite: eine Tante, eine Bekannte im Sportverein, eine Nachbarin und auch solche, die nach aussen in Erscheinung treten. Auch in ihrer Selbstverständlichkeit. Wichtig ist auch, dass von­seiten der Gesellschaft die gleichen Fragen gestellt werden, sonst ändert sich nie etwas. Ein Mann wird nicht gefragt: Vier Kinder und eine Karriere als Bauingenieur – wie machen Sie denn das? Besser wären offener formulierte Fragen wie: Sie sind Eltern, wie gehen Sie damit um? Ist das schwierig?

Sie sprechen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie an. Wo stehen wir in der Schweiz?

In der Schweiz fehlen die strukturellen Bedingungen, um den Beruf weiterführen zu können.Was sehr speziell ist in der Schweiz, in Deutschland und Österreich, ist die Vorstellung des Ernährermodells. Der Mann muss einen Beruf ausüben, der eine Familie ernähren kann. Frauen müssen das nicht. Wenn beide Gehälter gebraucht werden, überlegt man sich viel eher, welche Berufe sich eignen, um gemeinsam mit jemanden eine Familie zu haben. Und plötzlich werden die MINT-Berufe interessanter.

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Gelingt das in anderen Ländern besser?

In vielen osteuropäischen und arabischen Ländern gibt es zahlreiche Ingenieurinnen. In den sozialistischen Regimes ging es nicht darum, welches Geschlecht jemand hat, sondern um die Zahl der benötigten Arbeitskräfte – wie im Krieg. Dafür ist der Staat auch bereit, strukturell – mit Kinderbe­treuung – zu unterstützen. Viele Fragen stellen sich dann nicht mehr.

Sie nannten auch die arabischen Länder. Das wundert mich.

Es gab eine Studie, die gezeigt hat, dass es sehr viel mit dem Prestige zu tun hat, den ein Beruf mit sich bringt. Die Machtausübung erfolgt im arabischen Kontext eher über die geistlich-religiösen Berufe. Dort sind Frauen unerwünscht. Die technischen und naturwissenschaftlichen Berufe sind neutraler konnotiert und darum offener für alle.

Zunächst einmal ist ein Berufswunsch immer auch der Wunsch nach ökonomischer Sicherheit und Stabilität – wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist oder wenn ein Regime insbesondere Ingenieure oder Ingenieurinnen sucht, wählen Frauen und Männer vermehrt solche Berufe. Zudem gibt es Daten, die zeigen, dass z. B. in Tunesien und Jordanien die nationalen Eintrittsexamen an der Universität über die weitere Studienrichtung entscheiden: Wer die höchste Punktzahl erreicht, wird zum Medizin­studium zugelassen, wer die zweithöchste Punktzahl schafft, zum Ingenieurstudium, und wer die dritthöchste Punktzahl hat, studiert eben Jura. Die meisten Frauen haben sich ihren Beruf nicht ausgesucht, sondern die Noten haben sie ausgewählt.

Eigentlich wissen wir in unserer aufgeklärten Welt, dass die vorhin erwähnten Klischees nicht stimmen. Es gibt dazu ein interessantes Experiment, das zeigt, wie hartnäckig und vielleicht unbewusst wir an unseren Vorstellung festhalten.

Ja, man hat Studierende zu einem Mathetest gebeten. Teilte man ihnen vor dem Test mit, dass Männer und Frauen unterschiedlich abschneiden, schnitten die Männer besser ab. Sagte man, es gäbe keine Unterschiede, schnitten Männer und Frauen gleich gut ab. Es braucht nur so wenig, um einen Bias, den alle in sich tragen, wieder aufzuheben.

Was kann helfen, hier gegenzusteuern?

Wir brauchen grundsätzlich einen inklu­siveren Unterricht und eine inklusivere Didaktik. Das hat nicht nur mit der Genderfrage zu tun, sondern auch mit Ethnien und Neurodiversität.

Wie können Arbeitgeber dieses Wissen bei der Suche nach Fachkräften zu ihrem Vorteil nutzen?

Enthält eine Stellenanzeige einen Zusatz wie: «Wir freuen uns über Bewerbungen von Frauen» oder «Alle Geschlechter sind bei uns willkommen», zeigt das die Offenheit für Diversität. Je nach Formulierung der Stellenanzeige bewerben sich ganz unterschiedliche Personen, was erwünscht ist. Man kann damit auch dem Imposter-Syndrom vorbeugen, das bei Frauen in der Wissenschaft sehr verbreitet ist.

Was ist das Imposter-Syndrom?

Das ist die Vorstellung: Ich bin hier, aber ich bin fälschlicherweise hier. Die Frauen fürchten sich davor, dass jemand ihre – subjektiv empfundene – Unfähigkeit aufdecken könnte, und begründen Erfolge mit Fremdeinwirkungen oder dem glücklichen Zufall. Versucht ein Betrieb zu vermitteln, dass viele Varianten von Personen willkommen sind, ist den Bewerbenden klar, dass man nicht an einer Standardperson gemessen wird.

Ist das auch der Schlüssel, um weibliche Mitarbeitende zu halten?

Es gibt Studien, die zeigen, dass Frauen sehr motiviert in den MINT-Fächern studieren, sich aber, sobald sie ihre ersten Karriereschritte tun, oft mit der Kultur innerhalb des Unternehmens sehr unwohl fühlen und schneller aussteigen. Sie sehen keine Zukunft für sich und fühlen sich als Person nicht angesprochen. Ich habe kürzlich mit Studierenden gesprochen. Die jungen Männer sind überzeugt, dass sich die Kultur ändern muss, und sie möchten in Unternehmen arbeiten, die die Diversität im Team unterstützen. Das fand ich beruhigend. Wenn hier wertschätzende Coworker ausgebildet werden, ist das ein Fortschritt.

Wir sind also auf dem richtigen Weg. Sind wir zu ungeduldig?

Vielleicht brauchen wir tatsächlich noch etwas Zeit für einen Wandel. Grundsätzlich ist Diversität im Team sicher von Vorteil. Durch verschiedene Per­spektiven ergibt sich ein ganz anderer Ideenpool. Und die Planerinnen und Planer bauen ja auch immer für jemanden. Der Auftraggeber oder die Auftrag­geberin fühlen sich vielleicht auch wohler, wenn es verschiedenartige Ansprechpartner gibt.

Eine Studie der Schweizerischen Vereinigung der Ingenieurinnen SVIN zeigt die ernüchternde Wahrheit zum Thema «Vereinbarkeit von Beruf und Familie»

Neue SIA-Datenbank

 

Der Handlungsbedarf, Frauen für Bauberufe zu begeistern, ist nach wie vor gross. Auch die Vereine und Verbände der Branche müssen bereit sein für den Wandel. Der SIA verfügt mit dem Netzwerk «Frau und SIA» über ein Kompetenzzentrum und die Denkwerkstatt für Genderfragen und Diversität. Ziel des Netzwerks ist es, das Bewusstsein für die Gleichwertigkeit von Frau und Mann in den Ausbildungsinstitutionen und in der Arbeitswelt zu etablieren. Im Januar 2022 wird zudem die Datenbank www.sia-now.ch online gehen. Dort wird man Profile von Ingenieurinnen und Architektinnen aufrufen und diese auch kontaktieren können. Auch gibt es einen YouTube-Kanal «Frau und SIA», wo Frauen die von ihnen realisierten Objekte vorstellen.

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