Ausgeblickt – die Zukunft der Axenstrasse
Entstanden um die Mitte des 19. Jahrhunderts, verband die Axenstrasse nie allein Brunnen SZ und Flüelen UR, sondern die ganze Nation. Sie eröffnete Blicke ins Herz des Schweizer Selbstverständnisses von der Tellsplatte über den Urnersee zur Rütliwiese. Was bedeutet es, wenn sie in Zukunft zur Betonröhre wird?
Chänzeli: Nimmt die Landschaft Formen an, die wie gebaut erscheinen, bekommt die Topografie architektonische Namen. Tatsächlich steht der Wanderer hier wie auf einer Kanzel, weit geht der Blick auf die metallblaue Seefläche, bewaldete Abhänge und schroffe Felsen, gezackte Berglinien im Morgendunst. Die Rederichtung aber stimmt nicht bei dieser Kanzel: Von hier predigt man nicht, es hallt hinauf. Was da spricht, ist der Verkehr. Tief unten, am Ufer des Urnersees, zieht sich ein Asphaltband entlang, durchgezogene Mittellinie, Scheinwerfer. Wenige Schritte später, hinter einer Biegung des Fusswegs hinab nach Brunnen, hört man nur mehr Kuhglocken. Der Weg ist taunass, durch den Nadelwald schimmert eine besonnte Wiese. Das unmittelbare Nebeneinander von Lärm und Ruhe, Verkehr und Idylle, hier ist es zum ersten Mal.
Die Axenstrasse ist weitaus älter als das Auto; ihre Bedeutung erschliesst sich am besten zu Fuss. Von Brunnen nach Flüelen führt auch ein Abschnitt des «Schweizerwegs», doch wer direkt entlang der Fahrbahn geht, dem erschliesst sich ein komplexeres Bild. Schrittweise offenbart sich, was der zukünftige Verlust der Ausblicke mit sich bringt und über heutige Positionen zum Verkehr aussagt.
Abgase und Alpenluft
Heutige Verkehrsbauwerke tragen profane Namen: 100 Höhenmeter unterhalb des Chänzeli liegt die «Ausfahrt 41 Brunnen Süd». Die aufgeständerte Beschleunigungsrampe schwingt leicht mit jedem Wagen, der darüberfährt, das Geländer des Fusswegs neben der Fahrbahn vibriert stetig. Die Reihe der Autos reisst nicht ab, «tack-tack» machen die Reifen auf der Dehnungsfuge am Ende der Brücke. Lkw, Camper aus Deutschland, Lieferwagen, Motorräder aus Zürich. Dies verspricht einer der letzten schönen Spätsommertage zu werden.
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Den steil über der Strasse aufragenden Fels sekundiert Beton. Dessen Verwitterungsspuren erlauben eine relative Datierung: Eine Patina aus schwarzen Regenspuren überzieht die älteren Einbauten und lässt sie mit dem Fels verschmelzen, die jüngeren strahlen hell, ein Abschnitt grobes Mauerwerk wiederum stammt noch aus dem Vorbetonzeitalter. Hier wird schon lang und immer wieder in die Vertikale gegossen und gebaut, um den Berg festzuhalten. Es riecht nach Abgasen und frischer Alpenluft zugleich, kühl am späten Morgen.
Parkplatz Wolfsprung, Blickbesuch
«’s isch einfach schön. Wir haben ja Gäste dabei. Denen wollen wir was zeigen.» Dafür hat der Reisebus aus Stuttgart eigens ein Glasdach. Der Busfahrer trägt ein gestärktes weisses Hemd, durch eine elegante Brille mit dünnen Gläsern blicken scharfe Augen, die schon Millionen von Kurven gesehen haben. Dass die Axenstrasse in einen Tunnel verlegt werden soll, enttäuscht ihn. «Dann können wir ja gleich eine Nachtfahrt anbieten», meint auch seine Begleiterin. Der Bus macht Pause auf dem Parkplatz Wolfsprung, Senioren vertreten sich die Beine und knipsen. Und die enge Strasse stört ihn nicht? «Wenn Sie so Bus fahren wie ich …», ein Anflug von einem Lächeln im bescheidenen Stolz. In der Schweiz, da sei die Autobahn schmaler als in Deutschland, und man müsse langsamer fahren: 80, 100, da müsse man aufpassen. Dass die Autobahn zwischen Brunnen und Flüelen zur Landstrasse mit Gegenverkehr wird, sich durch Betongalerien windet und durch einen Ort zwängt, ist ihm gar keine Erwähnung wert.
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Fels, von Beton sekundiert
In den 1960er-Jahren machte die Materialprüfungsanstalt Empa eigens «Fallversuche im Massstab 1:1», um die Galerien für die Axenstrasse sicher bemessen zu können. Obwohl die Felswände bis zu 350 Meter über der Fahrbahn aufragen, liess man dabei die Steine nur aus 50 Metern Höhe fallen, denn «Steine aus grösserer Höhe werden meistens direkt in den Urnersee geschleudert», wie es 1972 lapidar auf den Seiten unserer Zeitschrift hiess.1 Das Ergebnis waren die markanten auskragenden Betondächer, die die Axenstrasse über mehrere Kilometer nördlich von Sisikon überspannen, getragen von massiven, leicht nach unten geneigten Zugbalken und diese spiegelnden Stützstreben. Schon damals aber war nicht allein der bröckelnde Berg eine Herausforderung, sondern auch der stete Verkehr: die Tatsache, dass man die Strasse nicht für eine Baustelle sperren kann, ohne ein Verkehrschaos von nahezu nationalen Ausmassen zu verursachen. Das ist auch heute wieder ein Grund für die Planung eines parallel laufenden Tunnels.
Sechs Sekunden Ausblick
«Kommt da ein 50-Kubikmeter-Block runter, dann ist das ein halbes Jahr lang kaputt, Feierabend.» Seit Anfang des Jahres bis jetzt, Anfang Oktober 2021, hat das hochtechnisierte Sicherheitssystem zur Überwachung der Axenstrasse gegen Steinschlag 250 «Ereignisse» registriert, also rechnerisch fast eines pro Tag. Die weitaus meisten sind nur von Wild losgetretene Steine. Doch es fällt auf, dass Stefan Gielchen, Leiter der Baustelle der neuen Axenstrasse, der diese Fakten referiert, bei der Besichtigung der Abschnitte unter den Felswänden den Bauhelm aufsetzt. Gielchen taugt so gar nicht als Verkörperung der strassenbauenden Autolobby, auch wenn er «so ’n Schiff» fährt, wie er selbst sagt, einen Volvo SUV. Eher professionell und nüchtern wirkt er dem Projekt gegenüber. Er ist Bergbauingenieur. Bevor er in die Schweiz kam, hatte der Aachener noch in den letzten Kohlezechen des Niederrheins gearbeitet. Dann kam er zum Strassenbau und bald in die Schweiz. «Seit den 90er-Jahren krabble ich im Tunnel herum», bekennt er. Nun soll er von Seiten des Tiefbauamts des Kantons Schwyz hier zwei insgesamt 7.7 km lange Tunnel bauen, die die Axenstrasse vor Steinschlag schützen, indem sie in den Berg, der sie stetig bedroht, hineinverlegt wird. Auf einem Abschnitt von 120 Metern wird der Verkehr auch in Zukunft am Ufer des Urnerseesauftauchen. Bei der vorgesehenen Geschwindigkeit von 80 km/h bedeutet das knapp sechs Sekunden Tageslicht und Ausblick.
Sisikon, eine Dorfstrasse als Autobahn
Noch geniessen die Autofahrer sehr viel länger die spektakuläre Sicht über den See, unterbrochen von einem aufregenden Stakkato aus kurzen Tunnelabschnitten und dem stroboskopartigen Pfeilerrhythmus der nicht auskragenden Galerien. Und sie fahren mitten durch einen Ort. Durch Sisikon, etwa auf halber Strecke zwischen Brunnen und Flüelen, drängt sich alles, was zehn Kilometer früher oder später auf der Autobahn fährt. «Dein Leben schützen / Unterführung benützen», dichtet ein Verkehrsschild in einem Metrum, das wohl eher ungewollt ebenso sehr stockt wie der Verkehrsfluss an den meisten Spätnachmittagen. Der Gasthof Sternen gleich neben der Strasse verspricht «GANZER TAG POULET IM KÖRBLI» nebst einem Schweizerkreuz. Der Wirt ist überzeugt, dass er weniger Kunden haben wird, wenn der Tunnel erst an Sisikon vorbei durch den Berg geleitet wird. Seine Kollegin vom Hotel Eden ein paar 100 Meter weiter sieht das anders. Trotz einer grossen Festgesellschaft findet sie, Tablett in der Hand, genug Zeit für klare Worte über die geplante Strassenverlegung in den Tunnel: «Das muss kommen! Eine Nationalstrasse durch ein Dorf, am Trottoir entlang, das ist doch kein Zustand. Das muss kommen.» Die Gäste kämen sowieso.
Ein paar Meter unterhalb der strapazierten Dorfstrasse, in Richtung Seeufer, zwischen Einfamilienhäusern und Chalets, vernimmt man die Strasse nur noch als entferntes Rauschen, fast könnte es ein Wasserfall sein. Direkt am Seeufer aber dröhnt der Wald. Ohne dass man die Strasse sieht, schallt sie laut über den stillen Wasserspiegel hinweg. Beschaulich schaufelnd legt ein Raddampfer an, und als der weg ist, stürzt sich lautstark ein Deutscher nackt ins Wasser – «Ist das geil!».
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 36/2021 «Uferloses Unterfangen?»
Anmerkung und Literatur
1 Franz Pfister: Die Steinschlaggalerien an der Axenstrasse, in: Schweizerische Bauzeitung, 2. 11. 1972, S. 1118–1120.
– Hans-Ulrich Schiedt: Die Alpenstrassenfrage oder «Die prinzipielle Figur des Kreuzes»,
in: Wege und Geschichte (2002), S. 34–39.
– Erika Flückiger Strebel: Die Axenstrasse. Vom Nadelöhr zur Transitstrasse und Touristenattraktion, in: Wege und Geschichte (2012), Heft 1, S. 29–33.