«Die Kos­ten der So­la­re­ner­gie sind kein Ar­gu­ment mehr»

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi ist Spezialistin für Solarenergie in Gebäuden. Im Gespräch erzählt sie, wo die Schweiz bei der Nutzung von Solarenergie im Vergleich mit anderen Ländern steht und wo sie die Herausforderungen für die Solarindustrie verortet.

Date de publication
30-05-2021
Julia Jeanloz
Redaktorin in ­Verant­wortung für die SIA-Beiträge bei der Zeitschrift Tracés

SIA: Laure-Emmanuelle Perret-Aebi, Sie sind Mitglied in mehreren Arbeitsgruppen – unter anderem beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) – die sich mit der architektonischen Integration von Photovoltaik in Gebäude beschäftigen. Weshalb dieses Engagement, und was bedeutet es Ihnen?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: Mit diesem Thema beschäftige ich mich schon seit mehreren Jahren, zunächst an der EPFL und danach am Schweizer Zentrum für Elektronik und Mikrotechnik (CSEM). Dort leite ich die Entwicklung von Technologien, die ein Solarpanel zu einem vollwertigen Baumaterial werden lassen. Das verfolge ich nunmehr weiter mit der Koordination des europäischen Projekts Be-Smart1 für die EPFL und mit meinem Beratungsbüro. Wenn wir die Energiewende in unserem Land erfolgreich meistern wollen, dann müssen wir die erneuerbaren Energien deutlich stärker einsetzen. Die Sonnenenergie ist ein Teil davon: Wir haben genügend Dächer und Gebäudefassaden, um unseren gesamten Energiebedarf zu decken. Die Technologie ist heute ausgereift, effizient und zu wettbewerbsfähigen Kosten einsetzbar.


SIA: Weshalb setzen wir sie dann noch nicht flächendeckend ein?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: Weil es nicht nur um Technik geht. Energiewende und ökologischer Wandel müssen unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden: natürlich unter technologischen, aber vor allem unter gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekten. Die Ausschüsse, in denen ich mitarbeite, sind fachübergreifend. Fachleute aus den Bereichen Ingenieurwesen, Architektur, Stadtplanung, Design, Soziologie und Politik setzen sich zusammen, um nicht nur technische Lösungen zu finden, sondern auch Strategien zu entwickeln, die den Wandel und ein globales Bewusstsein ermöglichen. Ich bin davon überzeugt, dass ein Umstieg nur möglich wird durch einen interdisziplinären Ansatz. Denn nur so werden die Anliegen der einzelnen Akteurinnen und Akteure berücksichtigt. Durch mein Engagement kann ich die Funktionsweise unserer Gesellschaft und ihrer Belange besser verstehen und in den Implementierungsprozess der Solartechnologie eingreifen. Das ist extrem spannend!


SIA: Was waren die wichtigsten Entwicklungen der SIA-Normen im Bereich Photovoltaik in den letzten Jahren?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: Die Technologie der Solarmodule, die ins Bauwerk integriert werden können, hat sich schneller entwickelt als die Normen, die für das Bauen gelten. Das macht unsere Aufgabe nicht gerade einfacher. Nichtsdestotrotz werden auf nationaler und internationaler Ebene grosse Anstrengungen unternommen, um diese Normen zu aktualisieren. Einerseits will man damit dem dringenden Anliegen zur Installation von Solarmodulen nachkommen und andererseits die Sicherheit und Qualität unserer Bauten gewährleisten.


SIA: Sind Normierung und Innovation Gegenspieler oder ergänzen sie sich?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: Wirkliche Innovationen sind nicht möglich, wenn man dabei zugleich die Normierung bedenkt – das wäre dann wahrscheinlich eher ein Optimierungsdenken. Ein Innovationsprozess muss frei seinen Lauf nehmen können. Man muss frei sein, Dinge zu erfinden, sich etwas vorzustellen, zu träumen und die ausgetretenen Pfade des «das haben wir schon immer so gemacht» zu verlassen. Wenn ein innovatives Produkt auf den Markt kommen soll, muss man an seine Anwendung denken. Das Produkt muss einer gewissen Anzahl von Regeln entsprechen – den Normen –, um sicherzustellen, dass seine Verwendung keine Menschenleben gefährdet. Normen müssen also innovativ und schnell anzupassen sein, um einen möglichen Fortschritt für die Gesellschaft, wie beispielsweise die Nutzung erneuerbarer Energien, nicht auszubremsen.


SIA: Wo steht die Schweiz bei der Nutzung von Solarenergie im Vergleich zu Ländern wie China oder den Vereinigten Staaten?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: Der weitaus grösste Markt für herkömmliche Photovoltaikanlagen befindet sich in Asien, vor allem in China. Europa hat sich diese Chance entgehen lassen, obwohl immer noch einige Unternehmen in dem Bereich aktiv sind. China hingegen hat in diesen Markt massiv investiert und dabei den Wettbewerb zum Nachteil der europäischen Akteurinnen und Akteure stark verzerrt. Das hat jedoch zu einer beeindruckenden Kostensenkung geführt, sodass Solarstrom heute die günstigste Energieform darstellt.
Etwas anders verhält sich der Markt in Bezug auf Photovoltaikelemente für Gebäude. Dort geht es um Baumaterial, Farben und Grössen, die auf Mass gefertigt werden können – im Gegensatz zu den Standardpanels, die für grosse Solarkraftwerke konzipiert sind. In der Schweiz und in Europa gibt es einige Unternehmen, die auf die Herstellung von gebäudeintegrierter Photovoltaik, sogenannte GiPV-Panels, spezialisiert sind. Sie sind stärker verbunden mit dem Glas- und Fassadenbau, also dem Bauwesen. Die Bauindustrie ist sehr konservativ und agiert lokal. Das Geschäftsmodell dieser Unternehmen unterscheidet sich daher von dem der grossen chinesischen Solarmodul-Produzenten. Erfreulicherweise entwickeln sie sich derzeit in Europa. Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass in China alles sehr schnell vorwärts geht und dass der GiPV-Markt, der dort vor fünf Jahren noch kaum entwickelt war, gerade rasant zulegt. Seien wir also kreativ und innovativ, damit unsere europäische Industrie mit ihrem eigenen Ansatz ihren festen Platz im Markt findet.


SIA: Vor welchen Hindernissen steht die Nutzung der Solarindustrie in der Schweiz? Und wie kann man sie überwinden?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: In jedem Fall sind die Hindernisse für die Implementierung und Nutzung der Solarenergie nicht mehr technologischer Art. Die Module sind effizient, kostengünstig, farbig, in verschiedenen Texturen und Grössen erhältlich, leicht, gross, klein. Sie können sogar künstlerisch gestaltet werden. Das muss uns bewusst sein. Daher ist hier eine enorme Kommunikationsarbeit im grossen Stil gefordert, und zwar nicht nur von Seiten des Ingenieurwesens und der Wissenschaft. Der Verein Compáz, den ich vor vier Jahren mit zwei Freunden gegründet habe, verfolgt genau dieses Ziel: Wir wollen über diese Technologien sprechen und sie über künstlerische Arbeiten bekannt machen – damit verleihen wir ihr eine emotionale Komponente und die breite Öffentlichkeit kann ihr immenses Potenzial erfassen.


SIA: Was ist auch noch wichtig?

Laure-Emmanuelle Perret-Aebi: Die grössten Spannungsfelder, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, ist die Angst vor Veränderung. Ebenso fehlt uns der Mut, feste und effiziente Entschlüsse für das Klima zu fassen, und es mangelt uns an Kreativität, uns das Morgen vorzustellen, wenn wir uns einmal von den aktuellen und den vergangenen Denkmustern befreien würden. Es sind eindeutig diese Denkmuster, die uns daran hindern, eine nachhaltige und resiliente Welt zu bauen und in ihr zu leben.
Die Politik spielt dabei eine wichtige Rolle: Entscheide müssen klar, ehrgeizig und mutig sein. Gesetze und Verordnungen müssen im Einklang mit den Zielen stehen, die eine Energiewende ermöglichen. Sie müssen förderlich sein, nicht hinderlich. Das braucht Zeit. Es muss jedoch schneller gehen, denn Zeit haben wir nicht mehr viel. Aber die Kosten der Solarenergie sind kein Argument mehr – inzwischen ist diese Energiequelle die preiswerteste.


Anmerkung

1 Be-Smart ist ein Forschungsprojekt der EU, das im Wesentlichen zum Einsatz von gebäudeintegrierter Photovoltaik (GiPV) beiträgt und die Kosten bis 2030 um 75 % senken soll: https://www.besmartproject.eu/.

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