Lan­ger Park im Fluss

Eine Velotour auf den Glattwegen zwischen Dübendorf und Opfikon ZH führt entlang des Fil Bleu: ein Generationenprojekt zur Aufwertung des Flussraums über Gemeinde-, Funktions- und Zeitgrenzen hinweg. Bei der Koordination spielt Studio Vulkan Landschaftsarchitektur eine zentrale Rolle.

Date de publication
15-10-2020

Das grüne Wasser der Glatt bildet eine klare Grenze zwischen den Ufern und verbindet Stadt- und Landschaftsräume entlang ihres rund 38 km langen Laufs vom Greifensee zum Rhein. Doch das war nicht immer so. Noch auf der Dufourkarte von 1864 schlängelte sie sich durch das nach ihr benannte Tal, das nicht sie selber, sondern der Gletscher der letzten Eiszeit in die Landschaft geschürft hat.

Entlang des flachen, undefinierten und durchlässigen Betts entstanden sumpfiges Land und Auen, in denen längst verschwundene Vogel- und Baumarten lebten. Der kleine Fluss überschwemmte immer wieder Felder und Höfe, bis er zwischen 1878 und 1895 mit finanzieller Hilfe des Bundes im Mittellauf begradigt, kanalisiert und das Land melioriert wurde.

Seither ist die Ökomorphologie des ganzen Flusses und seiner Ufer stark beeinträchtigt. Nur auf der offenen Ebene des Gemeindegebiets Fällanden ist die Landschaft noch rural geprägt. Ab dort verläuft der Fluss weitgehend gerade innerhalb klarer Schranken – im Mittellauf durch urbanen Raum.

Dübendorf: den Faden aufnehmen

Nach der Hermiker-Brücke – ein bescheidener Hinweis auf die Ortsgrenze zu Dübendorf – endet die landschaftliche Weite des idyllischen Zürcher Oberlands. Hier, am östlichen Stadtrand, fliesst die Glatt fast übergangslos in die Agglomeration von Zürich ein: Die Eishalle, erhöht ein Einfamilienhausquartier aus den 1950er-Jahren, dann das Zentrum von Dübendorf, wo sich der Flussraum durch eine lange Uferpartie, begleitet von mäandrierenden Beeten, vorerst weitet. Doch bereits nach der Bahnhofstrasse verdichten sich Grün und Weg wieder und umschliessen die steiler werdenden Ufer.

Auf dem trassierten Weg liegt zurückhaltend der erste Prototyp des Fil Bleu: Eingeleitet durch eine dezente Schwelle, führen Stufen ans Wasser zu einem Betonsteg zwischen Gras und Schilf. Keine 100 m nördlich liegt der Bahnhof Dübendorf mit der Glattalbahn, die täglich im Minutentakt Tausende von Pendlern nach Zürich spediert. Für sie und nachfolgende Generationen soll mit dem Projekt Fil Bleu, das auf unbestimmt Zeit in die Zukunft reicht, das Naherholungsgebiet an der Glatt mit Zugängen zum Wasser und parkähnlichen Abschnitten aufgewertet werden.

«Unter anderem soll ein einseitig durchgehender Fuss- und Veloweg entstehen, denn die Überlandstrasse von Dübendorf nach Schwamendingen ist zu verkehrsreich für Radfahrer», erklärt Dominik Bückers von Studio Vulkan. Zudem sollen die Lebensräume der Pflanzen und Tiere vernetzt und ökologisch verbessert werden. Einfache temporäre Möbel machen als Vorboten auf die Umsetzung des Projekts aufmerksam. Darüber hinaus greifen Infografiken markante Industriebauten auf und führen narrativ entlang des Wegs.

Den vollständigen Artikel finden Sie in TEC21 31/2020 «Landschaft im Umbruch».

Zwischen Haselnusssträuchern und Buchen stehen drei solche geschwungenen Fil-Bleu-Bänke mit Blick übers Wasser auf die denkmalgeschützte untere Mühle Birchlen. Ihre etwas abgenutzte Fassade, die schlecht bepflanzten Blumentöpfe und das Plakat «Konzerninitiative, ja!» am Mühlesteg zeugen vom Gebrauch der Liegenschaft durch Privatleute und Handwerker.

Einen Katzensprung weiter liegt die Baustelle des Giessenturms, wo hinter einer dunklen, 85 m hohen Fassade 300 Mietwohnungen entstehen. Dann wandelt sich die Umgebung: Die Grenze zu Wallisellen kündigt sich durch ein schier unüberblickbares Verwirrspiel aus Unterführung, Auffahrten und Strassen sowie der Haltestelle des 12er-Trams mitten auf einer Wiese an. Die Gevierte um die Kreuzung der mit dünnen Grasstreifen gesäumten Ring- und Überlandstrasse teilen Industrie von Kommerz.

Wallisellen: vom Seidenweg zum Dschungel

Auf der anderen Seite fliesst der Chriesbach in die Glatt. Obschon zwischen Wallisellen und dem Fluss die A1 liegt, will die Gemeinde vom Naherholungsgebiet profitieren und beteiligt sich am Projekt Fil Bleu. Die ­Ge­meindegrenze liegt rechts des Seidenwegs, über den die S-Bahn in rund 10 m Höhe in einem eleganten Bogen Richtung Bahnhof Dübendorf donnert. Zwischen den immensen Wandscheiben der Bahnbrücke, die die neue Wohnsiedlung (TEC21 9–10/2016) teilt, liegt ein Restaurant am Wasser. Es gehört zum Baufeld A des Zwicky-­Areals der im Jahr 2001 stillgelegten Seiden- und Baumwollzwirnerei. Jogger am Glattufer, Jugendliche, die unter der Bahnbrücke Fussball spielen, daneben tadellos renovierte Bauten aus der Zeit, als hier noch Faden produziert wurde.

Westwärts führen Weg und Fluss durch einen Tunnel, über dem Auffahrtschlaufen Stadt und Autobahn mehrspurig verbinden. Darunter ist davon nicht viel zu spüren. Doch eine Auf­gabe des Fil Bleu wird sein, nachts hier für besseres Licht zu sorgen – was nicht einfach ist, denn es darf die sensiblen Wasserlebewesen nicht durcheinanderbringen. Studio Vulkan sucht mit dem AWEL und dem ANL des Kantons nach Lösungen.

Auf der anderen Seite, in Schwamendingen, folgt der Weg einem Zaun, bevor er sich bei der ARA Neugut teilt. Nimmt man den unscheinbareren Zweig über die Brücke, so gelangt man auf einem Waldweg an den Fabrikkanal, den Zwicky & Co 1851 bauen liess, um die Flussenergie zu nutzen. Die fast wilde Natur des Altenrieds, ein schmaler Streifen extensiven Grüns, überrascht.

Schwamendingen: Landmarken ­himmelwärts

Am Ende des Waldstreifens, wieder unten an der Glatt, stehen temporäre Möbel des Fil Bleu auf einer kleinen Wiese. «Manche Möbel sind gut platziert, andere weniger», bemerkt Dominik Bückers. Die Platzierung der Möbel liegt in der Hoheit der Gemeinden. Für die spätere, permanente Möblierung will man hier von den Fehlern lernen. Stadtwärts links ein komplett leerer Platz mit Rissen im Asphalt, hinter dem in ungewohnter Perspektive das 20-stöckige Hochhaus Hirzenbach und das sich rasant wandelnde Schwamendingen erscheinen. Unter den Zeichen der Verdichtung weichen hier über Jahrzehnte gewachsene «richtige» Bäume der neuen, voluminösen Architektur, den Tiefgaragen und den engeren Bauabständen. Zwergenhaft wirkende ­Exemplare und Sträucher verzieren heute die Freiräume der einstigen Gartenstadt.

Der Ausblick macht deutlich: Entlang des Flusses ist der umliegende heterogene Stadtraum oft durch Bänder aus Hecken und Bäumen verdeckt, er führt ein Schattendasein hinter den dynamischen Entwicklungs­achsen, als eine Art Rückseite der offiziellen Adressen der Stadt. Umgekehrt hat der Flussraum schon ein paar Strassen weiter nur noch eine geringe landschaftsprägende Wirkung. Er verschwindet im Siedlungskonglomerat der sich unaufhaltsam entwickelnden Stadt – und zeichnet sich gerade durch diese Zurückhaltung aus.

Westwärts gelangt man zur Autobahn, die vom Milchbuck herkommt und deren Verkehr in der Höhe das markante Heizkraftwerk Aubrugg beidseitig umspült. Von unten ist zuerst nur der weiss-rote Kamin zu sehen, der steil himmelwärts ragt. Etwas näher teilt, ähnlich wie das Obergeschoss die Fahrbahn, der meteo­ritenhafte Sockel den Veloweg. Fährt man dann links dem Fluss entlang, endet der Weg unter ­einer Brücke.

Opfikon: Schrebergärten und Rasenflächen

Ein Umweg, entweder über den Saatlenweg entlang des Hunziker-Areals oder zurück zum Heizkraftwerk und dann durch das Quartier Auzelg, führt wieder ans ­Wasser. Auzelg, enklavenartig eingeklemmt zwischen Autobahn und Glatt, wirkt, wie wenn es seit den 1950er-­Jahren unverändert da liegen würde – wäre da nicht eine Gruppe dunkelhäutiger Jugendlicher, die sich auf Schweizerdeutsch zurufen.

Der nördliche Quartierrand ist geprägt durch ein weitflächiges Schrebergarten-­Patchwork und Handwerksbetriebe in alten Landwirtschaftsbauten. Richtung Opfikon werden die grünen Flussufer breiter und flacher. Der Weg führt immer wieder über vertrockneten Boden unter den Autobahnbrücken hindurch, wo kein Regen hinfällt. Der Autobahnlärm wird von dem startender Flugzeuge übertönt. Irgendwann erscheint rechts unten am Wasser das «Fenster»: Die Bank mit Holzbaldachin ist ein weiterer Prototyp des Fil Bleu.

Die Rückfahrt führt durch den Glattpark Opfikon, dessen monumentale Fronten klar sind: die neue «Stadt» auf der einen Seite, gegenüber der baumgesäumte Fluss und dazwischen eine aufgespannte, wohl acht Fussballplätze grosse Fläche. Der Glattpark gehört eigentlich nicht mehr zum Fil Bleu. Dominik Bückers betont aber, dass man durchaus Synergien voneinander schöpfe. Ganz allgemein sei es einfacher, im übergeordneten Rahmen des Fil Bleu zu verhandeln. Das hat sich zum Beispiel bei der Beleuchtung des Glattwegs gezeigt, von dem auch der Glattpark Opfikon profitierte – da das AWEL der Beleuchtung in Flussnähe gegenüber kritisch eingestellt war.

Gegensätze im Ungleichgewicht

Die Tour führt vor Augen, dass das marathonhafte Projekt Fil Bleu bestehende und neue Situationen verbindet. Keine einfache Aufgabe angesichts der dynamischen Grenzen um die Glatt, die immer kleinflächigere, zergliedertere und gegensätzlichere Funktionstrennungen umfassen, die oft brüsk aufeinanderprallen. Der diesen Entwicklungen zugrunde liegende Nutzungsdruck macht eine ganzheitliche Betrachtung nötiger denn je.

Ob die Glatt als identitätsstiftendes Element erhalten bleibt, hängt zudem davon ab, wie das vielerorts bestehende Ungleichgewicht der Gegensätze ausbalanciert wird: Stadt – Land und Gemeinden; Freizeit – Natur­raum; motorisierter Verkehr – Fussgänger; Vorderseiten – Rückseiten; fliessende Übergänge – klare Grenzen; Alt – Neu. Der Wandel erfolgt meist zu schnell und zu sehr zugunsten des Neuen. So sind zum Beispiel Tabula-rasa-­Lösungen, um Neues zu schaffen, oft schon im Umgang mit bestehenden Ressourcen wie Altbauten und Infrastruktur nicht respektvoll und zielführend. Bestand ermöglicht aber auch Orientierung, indem er Geschichten erzählt, und ist so ein Zeitmassstab. Er verschafft Ruhe in der sich rastlos entwickelnden Umgebung.

Letztendlich handelt es sich beim Glattraum weitgehend um eine künstliche, lineare Parklandschaft, in der auch die Natur im Dienst der menschlichen Bedürfnisse steht. Darum spielen die wenigen, kostbaren Orte eine wichtige Rolle, an denen die Natur weitgehend sich selbst überlassen ist und der «raison d’être» von Pflanzen und Tieren in sich selbst beruht. Sie bilden ein Gegenüber zum kontrollierten Raum, zur Erlebnislandschaft mit ihrem vielschichtig komponierten Neben­einander aus Natur, städtischen Einflüssen und punktuell gestalteten baulichen Interventionen.

Eine mögliche Strategie, um Veränderungen und einen Ausgleich herbeizuführen, ist, Komplexem mit Einfachem zu begegnen. Das umfasst auch den Mut, Bestehendes zu belassen. Das Projekt Fil Bleu wagt den Versuch, die Zeit selber zum gestaltenden Element zu machen, indem es den Planungshorizont offen hält, zukünftigen Interventionen Raum lässt und damit eine Möglichkeit zur Balance schafft – und anstelle eines mit gewohnter schweizerischer Gründlichkeit abgeschlossenen architektonischen oder landschaftsgestalterischen Projekts Offenheit, Unsicherheit und das Imperfekte in Kauf nimmt. Das macht das vielschichtige Unterfangen zukunftsfähig, und die kommende Generation kann an den Faden anknüpfen und ihn weiterspinnen.
 

Natürliche Lebensräume


Im weitgehend urbanisierten Glattraum gibt es letzte Fragmente von Lebensräumen, die von der einst reichen Kulturlandschaft zeugen.

Naturnaher, dynamischer Flusslauf: Der Oberlauf (Fällanden, Greifensee) ist ein Fliessgewässer mit relativ konstanter Fliessgeschwindigkeit.

Naturnaher dynamischer Seitenbach: Der Fil Bleu nimmt die Mündungen als vernetzende Elemente zu den Seiten­gewässern in die Massnahmenliste auf (z. B. Chriesbach bei Dübendorf).

Auenwald: Letzte, fragmentartige Reste von Auenwäldern (z. B. Altenried und Auzelg).

Feuchter Hochstaudenflur: An Böschungen gibt es einige Flächen (z. B. Schwamendingen). Der Bestand an hohen, üppigen Stauden bleibt ohne Pflege über längere Zeit bestehen.

Baumhecken und Ufergehölze: Der Gewässerraum wird mehrheitlich von einem Gehölzgürtel begleitet. Die strukturierenden Hecken benötigen eine periodische Pflege, damit sie nicht verwalden.

Krautsäume: Sie begleiten Waldränder und Hecken an nicht regelmässig genutzten Böschungen oder Wiesen (z. B. auf dem Zwicky-Areal hinter der Neugutstrasse).

Ruderalflächen: Im Bereich der Stettbachwiesen besteht eine Ruderalfläche, in der die Sukzession stetig fortschreitet und sich langsam in reifere Lebensräume weiterentwickelt.

Flachmoor: Ist vom Grundwasser geprägt. Je nach Stand, ph-Wert und Wärmehaushalt des Bodens entstehen andere Vegetationstypen (z. B. am Waldrand Stettbach).

Brachen: Sie gehören zu unserer Kulturlandschaft und waren nur noch selten anzutreffen. Heute werden sie durch den ökologischen Ausgleich wieder gefördert.

Verschiedene Verkehrsachsen zergliedern das Glatttal, doch die Vernetzungen dieser Landschaften über diese Barrieren sind nicht gewährleistet.

Wasserqualität


Eine der grössten zukünftigen Herausforderungen im Glatttal stellt die Verbesserung des stark beeinträchtigten ­ökomorphologischen Zustands dar. Es fehlen Lebensräume für Pflanzen und Tiere. Die Strukturierung des bestehenden Gerinnes bis zur eigendynamischen Laufentwicklung kann die Qualität positiv beeinflussen. Für Strukturanpassungen ist jedoch Raum erforderlich, der für eine Aufwertung der Glatt sicher­zu­­stellen ist. Viele Seitenbäche sind in einem ähnlich schlechten Zustand. Deren Revitalisierung, Aufwertung des Mündungsbereichs sowie eine Verbesserung der Längsvernetzung sind wichtige Grundlagen für eine Wiederbesiedelung mit Lebewesen. Der Massnahmenplan Wasser Glatt des AWEL (2005) stellt einen Schritt in diese Richtung dar. Die Massnahmen werden durch den Fil Bleu aufgegriffen und ergänzt. (Studio Vulkan / Danielle Fischer)

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