Zwis­chen Strasse und Gleis­fluss

Mit der Wohnbebauung Zollstrasse Ost in Zürich schaffen Esch Sintzel Architekten ein anregendes Stück Stadt am Rand des Gleisfelds.  Sie erklären die innerstädtische Weite und den Blick auf die einfahrenden Züge zu einer neuen Qualität urbanen Wohnens.

Date de publication
27-08-2020

Schon als Student liebte ich dieses Zürich, wie es sich bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof präsentierte. Anders als am See, wo eine betuliche Bürgerlichkeit herrschte, zeigte sich die Stadt hier, am Fluss der Gleise, als eine harte und kompakte Front. Besonders in der Nacht versprach die von Leuchtschriften bekrönte Häuserwand, die mit unzähligen Fenstern hinter schwarzen Schuppen und Abstellgleisen aufragte, jene grossstädtische Anonymität, die wir suchten.

Entsprechend erleichtert war ich, als das städtebauliche Konzept, das 2013 dem Wettbewerb für eine neue Gebäudeschicht entlang der Gleise zugrunde lag, «eine Weiterführung der bestehenden Körnung bis zum Rand des Quartiers» forderte. Doch entsprach das schliesslich gekürte Projekt dieser Vorgabe? Es zeichnete die Grenzlinie zum Gleisfeld weich und liess die charakteristischen Horizontalen der Trauflinien aus der Perspektive verschwinden. Die wandlose Pfeiler­architektur schien einen Hang zur Auflösung zum Ausdruck zu bringen. Trotz Backstein war ich skeptisch, ob dieses Projekt nicht eher in die offenen Räume der Agglomeration passen würde als in den Zürcher Kreis 5 mit seinen Blöcken. Und wurde eines Besseren belehrt.

Von der Zollstrasse ausgehend

Der detailliert ausformulierte Masterplan von agps Architekten und Atelier Girot reagiert auf die bestehenden Unregelmässigkeiten der Zollstrasse, indem er dort zurückspringt, wo die gegenüberliegenden Bauten hervortreten, und umgekehrt. Überdies schreibt er unterschiedliche Gebäudehöhen vor und definiert Lücken, sodass die Bauten eine geschlossene Strasse bilden, die keine klassische Rue Corridor ist.

Gefordert war also ein Balanceakt zwischen Einzelgebäude und Stras­senbebauung, der Esch Sintzel Architekten perfekt gelang. Das Relief ihrer Fassaden ist tief genug, dass sich die massiv gemauerten Pfeiler in der Perspektive zu einem hinreichend geschlossenen und soliden Gegenüber zum Bestand verbinden. Die Pfeilerarchitektur integriert dabei problemlos die vorgeschriebene Loggia und schafft eine starke Verknüpfung von Baukörper und Stadtraum.

Indem die Enden der Gebäude leicht ausdrehen, bevor die Fassaden in die Tiefe führen, wird im Stras­senraum eine Bewegung um die Ecke herum aktiviert. Dabei nehmen die Bauten die Blockgeometrie des Quartiers auf, zu dem das Gleisfeld und die Zollstrasse schräg verlaufen. So werden sie zu Verbindungsstücken zwischen dem Quartier und dem Gleisfeld, wovon vor allem die Zwischenräume profitieren. Der eine öffnet sich und wird mit Brunnen und Sitzstufen zum Platz, der andere bleibt eng, findet aber mit präzisen Ausdrehungen Anschluss an die Stichgasse gegenüber, die sich in Hofdurchgängen fortsetzt, um sich schliesslich in der ­Tiefe der Blöcke zu verlieren.

Mit ihren erkerartigen Öffnungen scheinen die Gebäude an der Zollstrasse Schwung aufzunehmen für eine Bewegung, die sich bis an die Gleise fortsetzt und dort wellenartig ausläuft. So stehen die Bauten entschieden an der Strasse, nicht am Gleis, und die Gerade der Strasse gibt der rückwärtigen Aufgliederung den notwendigen Halt. Dort entstehen Raumtaschen, die als Schwellenräume zur Weite des Gleisfelds willkommen sind und in denen die Höhendifferenz zwischen Strasse und bahnseitiger Promenade überwunden wird.

Es sind dies erstaunlich intime Orte, die sich für vielfältige Arten der Aneignung anbieten. Das macht das Gleisufer, als Rückseite des Quartiers, äusserst attraktiv. Es ist nicht einfach eine einhüftige Strasse, sondern ein öffentlicher und dabei überraschend beschaulicher Raum. Die Häuser übernehmen dabei jene Aufgabe, die an Gewässern das dichte Grün übernimmt, das die Ufer vor der dahinter liegenden Betriebsamkeit schützt. Dass die Adressen an der Zollstrasse liegen, versteht sich fast von selbst. Verbindungen zur Gleispromenade bestehen über Velo- und Nebenräume.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 25/2020 «SBB Immobilien: An Zürichs Gleisufern».

Vielfältige Räume

So gelingt es, mit den drei Gebäuden höchst unterschiedliche, je attraktive Stadträume zu bilden: eine Strasse, einen Platz, eine Gasse, das Gleisufer. Die Architektur lässt die Bauten an diesen Räumen teilhaben und umgekehrt. Die Tiefe des Fassadenreliefs schafft Schwellenräume, beginnend mit dem tektonischen Gerüst von Pfeilern und Decken, den gewellten Brüstungen, den tiefen Fenstern, den Wohnungsloggien bis hin zu den Erkern und der Loggia an der Strasse. Davon profitiert die Stadt, es profitieren aber auch die Wohnungen. Sie finden über ein nicht minder reiches inneres Relief Anschluss an den Aussenraum, gewähren über Erker weite Einblicke in den Strassenraum oder schieben sich weit in den offenen Raum hinein.

Am Bau Beteiligte

 

Architektur
Esch Sintzel, Zürich


Bauherrschaft
SBB Immobilien


Totalunternehmung
PORR SUISSE


HKLS- und Tragwerksplanung
EBP, Zürich


Farbberatung
Andrea Burkhard, Zürich


Landschaftsarchitektur
Andreas Geser, Zürich


Baumanagement
GMS Partner, Zürich

 

Facts & Figures


Projektwettbewerb
2014, 1. Preis


Programm
139 Wohnungen, Ateliers, Gewerbe, Restaurant, Bar


Planungs- und Bauzeit
2014–2019


Baukosten
54 Mio. Fr. (BKP 2, KS)

 

 

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