Fas­sade mit Wür­fen

Baumschlager Eberle Architekten haben in Lingenau im Bregenzerwald ein Therapiezentrum erstellt. Die Schindelfassade verleiht dem Bau eine ländlich-festliche Erscheinung. Dabei ist sie auch Teil eines effizienten Energiekonzepts und unerwarteter Grundrisskonstellationen im Innern.

Date de publication
10-06-2020

Lingenau in Vorarlberg auf 685 m Höhe ist die älteste Siedlung dieser ländlichen Region. Das Dorf liegt auf einer Sonnenterrasse und ist umgeben von Weideland und Weilern. Nicht weit von der Kirche und dem Haus des Kaplans – gegenüber den Gasthäusern «Traube» und «Adler» – befindet sich das Grundstück des neuen Therapiezentrums für ­Personen mit gesundheitlichen Problemen. Es lag seit jeher brach. Irgendwie wirkte die Stelle wie eine Zahnlücke – es fehlte etwas, sagt Jürgen Stoppel, Projekt­leiter von Baumschlager Eberle Architekten. Diese ­positionierten das Zentrum so, dass in einer Enfilade mit den anderen Bauten eine dörfliche Erweiterung der Strasse entstand.

Altbewährtes als Grundlage

Das Therapiezentrum ist die Filiale des Netzwerks ­«Zentrum für den Arbeitskreis für Vorsorge und Arbeitsmedizin» im Vorarlberg. Die Bauherrschaft erklärte sich sofort mit einer Schindelfassade einverstanden. Diese verankert den Bau in der Region und verleiht ihm etwas Vertrauenerweckendes, Bekanntes. Da im Zentrum auch psychologische Betreuungen erfolgen – der Besuch also in manchen Fällen mit einer gewissen Schwellenangst verbunden ist –, ist man glücklich über dieses «vertraute Kleid».

In Vorarlberg und Tirol haben Schindelfassaden eine lange Tradition, archäologisch kann man sie bis in die römische Zeit zurückverfolgen. Die traditionellen Landwirtschaftsbauten sind dreiteilig: hinten das Tenn für das Heu, in der Mitte der Stall und vorn der Wohnteil. Die Wetterseiten sind jeweils mit Weiss­tanne geschindelt, die übrigen mit Fichte. Die geschuppten Oberflächen finden sich heute auch an Kirchen und Einfamilienhäusern, meist kombiniert mit Ziegeldächern. 

Baumschlager Eberle Architekten liessen die Fassade auf allen Seiten mit Fichte schindeln. Es sind einzelne eckige Holzstücke, 30 cm lang, 12 bis 15 mm breit und 8 mm dick. Sie wurden mithilfe eines Elektrospalters von Hand geteilt und anschliessend mit Klammern an der Fassade befestigt.

Alles in allem kostet diese Hülle fast gleich viel wie jede andere Fassadenverkleidung. Zusammen mit der Unterkonstruktion beläuft sie sich auf 130 Euro pro Quadratmeter. Das rohe Holz ist ohne chemische Behandlung natürlich geschützt. Dazu muss es jedoch aus einer Höhe von über 1400 m ü. M. stammen, denn nur dort wächst es so langsam, dass es eine genügend witterungsbeständige Oberfläche entwickelt und seine Jahresringe dicht genug sind, um sich gut spalten zu lassen.

Der Wurf: schützendes Element

Die ausschwingenden Elemente unter Dach und Fensterbrüstung im oberen Stockwerk heissen «Würfe», erklärt Jürgen Stoppel. Die linksbündig positionierten Elemente gliedern die Fassade wie bei traditionellen Häusern. Sie fassen die Fenster leicht asymmetrisch gegen links zusammen und verleihen dem Fassadenbild eine dezent übergeordnete, horizontale Wirkung.

Die Würfe haben aber nicht nur eine gestalterische Funktion, sie schützen vor allem die darunter liegenden Schiebeläden und die Fensterlaibungen vor Witterungseinflüssen. Konstruktiv handelt es sich um eine auf die Unterlattung genagelte, dreieckige Leiste, auf der die erste Schindelreihe befestigt wird – eine einfache Technik also.

Ein weiteres die Fassade schützendes Element ist der rund 70 bis 80 cm vorspringende Rand des blechernen Walmdachs, um das die Regenrinne einen feinen, dunklen Rahmen zieht. Durch diese Massnahme wird nur der unterste Teil der Fassade bei Regen nass.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 17–18/2020 «Schindeln: Tradition mit Zukunft».

Auch beim Übergang von der Hauswand zum Dach wurde in diesem Fall ganz untraditionell eine Hohlkehle geschindelt. Dach und Wand gehen fast fliessend in­einander über, das verleiht dem Bau zurückhaltende Eleganz. Die Konstruktion hat aber auch einen ökonomischen Vorteil: Ecken schindeln ist teurer als diese runde Lösung. Im Dach befinden sich Gauben, die 1.50 m tiefe Balkone aussparen und so die vier Wohnungen um einen kleinen Aussenraum bereichern.

Die Architekten verwendeten für die Fenstersimse Aluminiumbleche. Wie die traditionellen Simse aus Eiche sollen sie rund 80 Jahre lang der Witterung standhalten. Eigentlich braucht die Fassade keinen ­Unterhalt. Einzig die exponierten Würfe, an denen die Schindeln als Erstes vergrauen, haben nach rund 40 Jahren Erneuerungsbedarf. Für den Brandschutz gibt es bei Holzfassaden bis drei Etagen in Österreich wie in der Schweiz keine speziellen Vorlagen.

Keine Heizung und wenig Gebäudetechnik

Statt kurzlebiger technischer Installa­tionen für die Klimatisierung gibt es in jedem Raum einen einfachen Kombisensor für CO2, Feuchtigkeit und Temperatur. Aufgrund dieser Werte im Verhältnis zur Aussenluft entscheidet das System, ob gelüftet wird. Wie die alten Häuser in der Gegend hat das ­Therapiezentrum keine Zentralheizung.

Die traditio­nellen Grundöfen, die am Morgen angefeuert wurden, hielten die Wärme den ganzen Tag in Stube und Gang. Ganz anders im Fall des vorliegenden, modernen Lowtech-Konzepts: Hier ist die Innenraum­temperatur von zwischen 22 und 26 °C übers ganze Jahr hinweg gewährleistet. Der Temperaturausgleich erfolgt über die Masse der betonierten Zwischendecken und des Dachs. Anders als bei den traditionellen Fassaden mit direkt auf einen Strick genagelten Schindeln istdie Fassade des Zentrums hinterlüftet. Der bei der ­herkömmlichen Konstruktionsweise isolierende Effekt der Schindeln entfällt.

Die Fassade verleiht dem Bau einen ländlichen Ausdruck und reiht ihn ins Dorfensemble und die re­gionale Bautradition ein. Hinter dem Haus gibt es einen Garten, der auch eine Therapiefunktion hat. Hier pflanzen, ernten, kochen und essen Bewohner, Angestellte und Patienten zusammen.

So wie damit die bäuerliche Grossfamilie modern uminterpretiert wird, erfährt auch die traditionelle Architektur eine Transformation: Es geht nicht um Retro-Design, sondern um das Fortsetzen kultureller Werte beim Bauen: Präzision, Beständigkeit, ein respektvoller Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen sowie das Erkennen des Notwendigen.

AM BAU BETEILIGTE

Architektur
Baumschlager Eberle Architekten, Lustenau (A)

Ausführung Holzbau
Holzbau Fetz, Egg (A)

Baumeister
Oberhauser & Schedler, Andelsbuch (A)

Dach
Wild, Hittisau (A)

Schindelfassade
Zimmerei Fetz, Egg (A)

Bauherrschaft
aks, gesundheit, Bregenz (A)

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