«Frü­her war man freier»

Christian Menn ist Brückenbauer. Er diplomierte 1950 als Bauingenieur an der ETH in Zürich. Dort war er auch von 1971 bis 1992 Professor für Konstruktion. Zu seinen bekanntesten Bauwerken gehören die Sunnibergbrücke in Klosters sowie die letztes Jahr eröffnete Zakim Bunker Hill Bridge in Boston. Zurzeit bearbeitet er verschiedene Brückenprojekte in Buffalo, Louisville, Wisconsin und Princeton

Date de publication
04-06-2004

TEC21: Herr Menn, Sie haben vor über 50 Jahren als Ingenieur angefangen. Wie hat sich der Berufverändert in dieser Zeit?
Christian Menn: Man war früher freier. Heute gibt es viel umfangreichere Normen, und Einsprachen sind ebenfalls ein wichtiger Punkt geworden. Es reden mehr Leute mit, alles ist vernetzten Man hat angefangen, Bauwerke viel differenzierter anzuschauen, teilweise mit guten, aber auch mit weniger guten Resultaten.

Wie fing Ihr Berufsleben an?
Es herrschte nach dem Krieg eine Aufbruchstimmung. Später, in den 1960er-Jahren, ging das dann so weit, dass machbar hielt. Die grossen Infrastrukturbauten dieser Jahre mussten schnell gebaut und wirtschaftlich sein, sonst nichts. Flüsse wurden ohne Umschweife begradigt, Strassen, ohne dass man sich über die Auswirkungen eines solchen Bauwerks Gedanken machte, in Landschaft und Siedlungsräume gelegt. Man hatte relativ wenig Erfahrung und erkannte kaum künftige Umweltprobleme. Die Tausalzproblematik zum Beispiel, die uns später stark beschäftigte, war noch gänzlich unbekannt. Allerdings hätte man Mitte der 1960er-Jahre, als man mit dem Salzen anfing, die Gefahrdung erkennen können und sollen. Verbesserungen der Konstruktionsweise fanden aber erst statt, als sich die ersten Schäden bemerkbar machten. Man hat zu wenig in die Zukunft geschaut.

Werden vielleicht auch heute wieder Bauweisen angnoandt, von denen man später sagen wird, das hätten wir wissen müssen?
Ich denke schon, allerdings nicht im selben Ausmass. Es besteht meines Erachtens die Gefahr, über neuen technischen (Wunder-)Mitteln die Grundlagen des Handwerks zu vergessen. Nehmen Sie als Beispiel den Abstand der Eisen in einem Stahlbetonbau. Ich habe erlebt, dass Ingenieure bei schlanken Bauteilen einfach den Abstand der Eisen unter das zulässige Mass verkleinerten. Sie dachten sich, dass sie einfach einen sehr flüssigen Beton verwenden, wie man ihn ja heute bestellen kann. Aber: Es geht eben nicht so einfach. Es gibt gute Gründe, den Eisenabstand nicht zu gering zu machen, und die lassen sich nicht mit einem niedrigviskosen Beton aus der Welt schaffen.

Ist nicht der Anspruch an die Zusammenarbeit mit anderen Planern gestiegen?
Auf jeden Fall. Die Ingenieure sind nicht mehr selbstständig, sie müssen Spezialisten beiziehen, nur schon wegen der bereits angesprochenen viel kritischeren und differenzierteren Betrachtung von Bauwerken. Ich bin allerdings stark in Opposition zur um sich greifenden Gewohnheit, vor allem im Brückenbau, umgehend Architekten beizuziehen, sobald es <etwas Besseres> sein soll. Es soll natürlich allen freigestellt sein, selber Architekten oder Landschaftsarchitekten beizuziehen, aber auf keinen Fall darf dies, wie es bei Wettbewerben immer öfter der Fall ist, zwingend verlangt werden. Es ist ein fatales Zeichen an Ingenieure, vermittelt zu bekommen, dass ihnen gestalterisch nichts zugetraut wird. Wir Ingenieure sind nahe bei den Naturwissenschaften, und wir sollten versuchen, bei unseren Bauwerken das Gleichgewicht zu visualisieren - sei es im Verhältnis mit der Landschaft oder im Bauwerk selber. Wir kommen vom optimalen Tragsystem her und verfeinern es nach verschiedenen Kriterien. Architekten jedoch haben eine ganz andere Herangehensweise. Sie stehen in der Nähe der Kunst, und am Anfang steht meist eine gestalterische Idee. Für eine Brücke darf das aber nicht der Ausgangspunkt sein, die Federführung kann nicht bei Architekten liegen. Sie können allerdings bei der Ausgestaltung ihren Beitrag leisten.

Wie sehen Sie dieses Verhältnis im Hochbau?
Das ist etwas ganz anderes. Hier steht die Architektur, eine Idee am Anfang. Die Rolle des Ingenieurs ist es, sein Gegenüber bei der Umsetzung dieser Idee zu unterstützen, aber in klar untergeordneter Position. Ich denke auch, dass die Ingenieure im Hochbau normalerweise nicht einen sehr grossen Beitrag zum architektonischen Ausdruck leisten können. Kostenmässig ist der Anteil der Tragkonstruktion mit heute rund 15 % immer kleiner geworden. Die Tragkonstruktion richtet sich oft nach Fassadengestaltung und Haustechnik, nicht umgekehrt.

Das scheinen allerdings für angehende Ingenieurinnen nicht gerade verheissungsvolle Perspektiven zu sein.
Die Gesellschaft hat darauf reagiert, dass die Ingenieurausbildung offensichtlich Absolventen produzierte, die sich lediglich mit Funktion und Wirtschaftlichkeit von Bauwerken auseinandersetzen und alle anderen Aspekte vernachlässigen. So verfiel man immer öfter der Idee, Aufgaben, die ursprünglich eine Domäne der Ingenieure gewesen waren, Architekten zu übertragen. Umso tragischer ist es natürlich, wenn die Hochschulen die nicht-technischen Seiten unseres Berufes vernachlässigen. Der Bauingenieurberuf könnte heute durchaus interessanter sein, weil die Öffentlichkeit sensibilisierter und kritischer ist. Die Absolventen aber sind darauf nicht gut vorbereitet.

Warum nicht?
Das ist unter anderem eine Folge der Verwissenschaftlichung der Ausbildung. Die wichtigsten Ziele der Baukunde sind ja die Tragsicherheit, die Gebrauchstauglichkeit und die Dauerhaftigkeit. Das sind rein technische Zielsetzungen, und für diese gibt es für jedes Bauwerk unendlich viele Lösungen. Die Bauherrschaft erwartet aber normalerweise vom Planer zu Recht mehr als "nur" eine technisch korrekte Lösung. Nämlich, dass das Bauwerk eine ideale Verbindung darstellt zwischen den Anforderungen der Wirtschaftlichkeit und nichttechnischen Aspekten wie der Ästhetik. Das heisst aber, dass die Zahl der theoretisch möglichen Lösungen viel kleiner wird. Und da kommt die Baukunst ins Spiel, die nur noch teilweise mit der Technik zu tun hat.

Wie haben Sie Ihre Zeit als Lehrer an der Hochschule erlebt?
Als ich an die ETH kam, war ich fasziniert von der ganzen Forschungsarbeit, die da geleistet wird. Wenn ich im Rückblick den Einfluss der Forschung in unserem Beruf mit demjenigen in anderen Disziplinen vergleiche, dann habe ich allerdings auch meine Zweifel. Und das nicht zuletzt darum, weil eine wesentliche Komponente unseres Berufes, die Baukunst, weit über das hinausgeht, was mit wissenschaftlicher Forschung je abgedeckt werden kann. Kommt dazu, dass die für die Ingenieure wesentlichen Erkenntnisse der Forschung oft in der umfangreichen Verpackung, in der sie dargereicht werden, untergehen.

Was meinen Sie mit Verpackung?
Forschung muss breit abgestützt sein, aber die Vermittlung der Forschungsergebnisse sollte so klar und einfach wie möglich sein. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Die Plastizitätstheorie dient ja dazu, die Plastizität des Materials bei der Tragsicherheit berücksichtigen zu können. Sie ist damit lediglich ein Baustein in unserem ganzen Nachweiskonzept. An der Hochschule wird sie aber in ihrer ganzen wissenschaftlichen Breite vermittelt, was schlussendlich dazu führt, dass die Studenten die Essenz davon schlechter verstehen, als wenn sie auf das Eigentliche reduziert würde. 

Eine ähnliche Entwicklung hin zu immer grösserer Detailgenauigkeit scheint sich bei den Normen abzuspielen. 
In den 1960er-Jahren erfolgte im konstruktiven Ingenieurbau der Übergang vom Konzept der zulässigen Spannungen zu demjenigen der Tragsicherheit. Wir weisen nach, bei welcher Belastung das Gleichgewicht verloren geht. Das Bauwerk selbst kann aussehen wie es will, es kann sich verformen, Risse bekommen usw., aber solange es nicht einstürzt, ist die Tragsicherheit gewährleistet. Dies verlangte dann nach ergänzenden Nachweisen für Gebrauchstauglichkeit, Dauerhaftigkeit, Ermüdungssicherheit, Erdbebensicherheit usw. So wurden die Normen umfangreicher und komplizierter, und es besteht die Tendenz, zu viel zu genau regeln zu wollen. Vieles muss man regeln, aber Vorschriften über Feuersicherheit im Brückenbau, Sicherheit gegen Terroranschläge, Redundanz, Robustheit usw. scheinen mir denn doch ziemlich problematisch.
Die Entwicklung ist natürlich auch Ausdruck der Strukturen. Aus meiner Zeit als Präsident einer Normenkommission weiss ich, dass verschiedenste Aspekte hineinspielen. So tragen zu einer neuen Norm immer sehr viele Personen bei, die sich bei der kritischen Begutachtung gegenseitig nicht weh tun wollen. Wenn Sie Forschung betreiben und diese findet nicht in Normen ihren Niederschlag, dann ist sie nichts wert, und Sie werden am Schluss auch keine Forschungsmittel mehr erhalten. Ich stelle auch fest, dass an Symposien teilweise in einer Sprache zu den Leuten gesprochen wird, die diese unmöglich verstehen können. Ingenieure sollten die Übersicht haben, sie sollen Probleme und nicht zuletzt auch ihre Kompetenzgrenzen erkennen und mit Spezialisten diskutieren können.

Was hatte die Einführung von Rechen- und Zeichnungsprogrammen auf die Ingenieursarbeit für einen Einfluss?
Einen grossen und positiven. Der Computer hat unsere Arbeit sehr erleichtert und es ermöglicht, auch ganz komplizierte Tragwerke zu berechnen. Es wird manchmal kritisiert, dass man sich zu stark auf den Computer verlasse. Ich sehe das aber nicht als grosses Problem. Die meisten Ingenieure verstehen durchaus, ihren gesunden Menschenverstand zu gebrauchen.

Gab es in dieser Zeit noch andere für den Beruf wichtige Entwicklungssprünge?
Die Vorspannung war ein ingenieurmässiger Quantensprung. Daneben gab es in der Baustofftechnologie immer wieder im Einzelnen vielleicht nicht so bahnbrechende, aber in der Summe doch wichtige Neuerungen. Die von mir aus gesehen entscheidenden Entwicklungen betrafen die Dauerhaftigkeit, die stark verbessert werden konnte. Wenn Sie die Entwicklung unserer Zeitschrift über die fahre ansehen, was könnten wir besser machen Ich muss vorausschicken, dass ich das Heft, als ich an der ETH unterrichtete, natürlich gelesen habe, dies aber heute, was im Übrigen für Fachzeitschriften generell zutrifft, weniger regelmässig tue. Ich finde, Ihr könntet kritischer sein. Journalisten sind ja das Gewissen einer Zunft, und da fehlt mir manchmal eine gewisse Schärfe. Richtig ist dagegen meiner Ansicht nach, dass die Architektenseite stärker gewichtet ist als der Ingenieurteil. Fachtheoretische Artikel haben ihre Berechtigung und sollen ihren Platz erhalten. Allgemein wären mehr Beiträge über Ausbildung wünschenswert. Was mir persönlich am besten gefällt: Themen, die die Leute bewegen. Ich lese zum Beispiel sehr gerne Leserbriefe. Im Heft könnten das aber gut auch ausgewählte Themen sein, die, vielleicht über mehrere Ausgaben hinweg, kontrovers diskutiert werden.

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