Ar­chi­tek­tur und Unar­chi­tek­tur im Stras­sen­bau

Der Strassenbau in seinen Bezügen zu Landschaft und Topographie hat in den letzten beiden Dezennien im Urteil der Öffentlichkeit eine wesentliche Wandlung erfahren. Stand in den sechziger Jahren die Optimierung der Verkehrsprobleme allein zuoberst in der Gunst der Verantwortlichen und der Benutzer, so zeigte sich mit der zunehmenden Dichte unseres Strassennetzes bald einmal die Unhaltbarkeit solchen Denkens. Der Umschwung – oder zumindest die Korrektur der Zielvorstellungen - bei der Strassenprojektierung ist heute, in regional unterschiedlichem Mass allerdings, deutlich erkennbar. In der Hierarchie der Werte beginnt ideelles Gut zu klettern..., glücklicherweise, die Zeit drängt.

Date de publication
04-06-1984

Was ist Architektur?

Architektur ist ein aus dem Griechischen abgeleitetes Wort und heisst Baukunst. Es ist die Disziplin, die «gemäss Lexikon» bestimmte praktische Anforderungen mit Hilfe der gegebenen Baustoffe und Konstruktionsarten im Rahmen bestimmter finanzieller Möglichkeiten erfüllt und dabei zugleich dem Anspruch auf Schönheit und Angemessenheit genügt. Baukunst ist somit als Ergänzung zur Baukunde zu verstehen, als das, was über die reine Funktionalität hinausgeht. Dabei handelt es sich aber nicht etwa um phantasievoll originelle Verzierung, sondern um Verfeinerung und Kultivierung der rohen Form, um Ausdruck der Funktionalität in der Gestaltung, um Harmonie des Bauwerks in sich und mit der Umwelt.

Architektur im Strassenbau bedeutet somit Ermittlung derjenigen funktionell befriedigenden Lösung, die im Rahmen der finanziellen Gegebenheiten ein Optimum an Ästhetik und Umweltfreundlichkeit erreicht, und Unarchitektur wäre demnach reine Funktionalität ohne differenzierte Gestaltung und ohne Bezug zur Umwelt. So betrachtet ist Architektur im Strassenbau keineswegs eine Frage finanzieller Investition, sondern einzig eine Frage des intellektuellen Aufwandes bei der Planung und Projektierung. Ein Aufwand, der allerdings im Gegensatz zur Lösung technischer Probleme über das handwerklich Lernbare hinausgeht und zusätzlich im Bereich des Kreativen ein gewisses Mass an Begabung, Sinn und Interesse für Ästhetik und Umweltbezug erfordert.

Integrale Ingenieurbauwerke wie Wasserbauten, Kraftwerke, Bahnen und Strassen sind zweifellos besonders markante Eingriffe in die natürliche Landschaft, und der Strassenbau nimmt dabei eine Sonderstellung ein, weil er einerseits bezüglich Massstab und anderseits bezüglich Gestaltung und Einpassung in die Umgebung bei weitem am meisten Variationsmöglichkeiten aufweist. Man kann sich deshalb zu Recht fragen, warum der Architektur, der Baukunst im Strassenbau, in der Ausbildung und in der Planung und Projektierung so wenig Beachtung geschenkt wurde, warum Strassenbau-Architektur als Entwurfsziel im Vergleich zu den technischen Zielsetzungen meistens nur einen geringen Stellenwert aufwies. Das Unbehagen über die damit verbundene Qualitätsinsuffizienz musste ja früher oder später Reaktionen auslösen, die sich heute in einer in sich widersprüchlichen Strassenfeindlichkeit manifestieren und im Schlagwort «Verbetonierung der Landschaft» artikulieren. Erklären lässt sich diese Fehlentwicklung nur aus eine Fehlentwicklung nur aus einem historischen Rückblick.

Entwicklung im Strassenbau

1955 betrug der Motorfahrzeugbestand in der Schweiz 330000 Einheiten, gegenüber 100000 im Jahr 1939. Heute sind es zum Vergleich etwas über drei Millionen, d. h. etwa zehnmal mehr als 1955. Das Wachstum des Motorfahrzeugbestandes hatte 1955 zwar noch lange nicht seinen Höchststand erreicht, aber mit einer jährlichen Zuwachsrate von etwa 13% oder einer voraussichtlichen Verdoppelung in acht Jahren war es bereits sehr eindrücklich. Das Hauptstrassennetz bestand damals aus Ortsverbindungsstrassen; d. h. dass auch die Hauptachsen zwischen den grossen Städten von Dorf zu Dorf führten.

Die Strassenbautätigkeit beschränkte sich im wesentlichen auf die neuralgischen, sicherheitsriskanten Stellen, die notdürftig korrigiert und ausgebaut wurden. Anderseits zeigte die Entwicklung der Wirtschaftskonjunktur steil nach oben. Der Besitz eines Motorfahrzeuges rückte auch für weniger begüterte Bevölkerungsschichten mehr und mehr in greifbare Nähe, und uneingeschränkte Mobilität wurde zum wichtigsten und erstrebenswertesten Ziel im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten. Die politischen Voraussetzungen für die Entwicklung eines nationalen Hochleistungs-Strassennetzes waren damit gegeben. 1958 wurde deshalb dem Volk eine Vorlage für ein neues Strassengesetz unterbreitet. Liest man heute die Pressekommentare vor und nach der Abstimmung, deren Ergebnis 515000 Ja gegen 91000 Nein betrug (bei einem ablehnenden Stand), dann ist man davon beeindruckt, dass im wesentlichen nur ie positiven Aspekte des gewaltigen Bauvorhabens in Betracht gezogen wurden.

Nachteile wurden vermutlich gar nicht erkannt, sie konnten nicht erkannt werden, einerseits, weil das Ausmass des geplanten Werkes und das Ausmass des künftigen Motorfahrzeugverkehrs die Vorstellungskraft überstiegen, und anderseits, weil der technischen Entwicklung eine beachtliche Steigerung des Wohlstandes zu verdanken war und kein Grund bestand, sich auch nur im geringsten technikfeindlich zu verhalten. Vor der Abstimmung las man Sätze wie «Der Bürger wird jedoch ein entschlossenes Ja in die Urne legen, wenn er die Strassenverkehrsmisere endlich steuern und sich den Vorzügen des Motorfahrzeugverkehrs nicht mutwillig entziehen will.»

Nach der Abstimmung lauteten Kommentare beispielsweise: «In der überaus wuchtigen Annahme des Strassenbauartikels wird man auch einen Hinweis auf die Motorisierungsfreudigkeit des Schweizervolkes zu erblicken haben. Nicht zuletzt im Hinblick auf die Verkehrssicherheit aller Strassenbenützer dürfte somit Eile im Strassenbau geboten sein.»

1962 wurde das definitive Nationalstrassennetz vom Parlament beschlossen. Verschiedene Delegationen von Politikern und Planern hatten an Studienreisen ins Ausland, insbesondere in die USA, teilgenommen, um modernsten Autobahnbau an Ort und Stelle kennenzulernen. Was sie nach Hause brachten, war Begeisterung für die Grosszügigkeit und verkehrstechnische Perfektion im amerikanischen Strassenbau, aber keinerlei Bedenken über negative Auswirkungen des Motorfahrzeugverkehrs. Inzwischen hatte der Nationalstrassenbau in der Schweiz bereits begonnen. Nach der langen Stagnation im Strassenbau mangelte es allerdings an Erfahrung und Mut zur Erstellung technisch und ökologisch optimaler Lösungen.

Der erste Äutobahnabschnitt von Luzern nach Hergiswil, Kernstück der Nationalstrasse N2, war kaum etwas anderes als eine richtungsgetrennte Nebenstrasse, die kurvenreich und unübersichtlich mitten durch potentielles Wohngebiet führte. Die Kritik der Öffentlichkeit liess denn auch nicht lange auf sich warten. Bemängelt wurden jedoch nicht etwa umweltrelevante Nachteile, sondern der langsame Baufortschritt, die immer höheren Baukosten und der sogenannte helvetische Perfektionismus. So sollten etwa Landerwerbsverfahren vereinfacht und abgekürzt werden, Vorfabrikation und Normierung sollten gefördert werden, oder die gelegentüch noch gebauten Naturstein-Stützmauern wurden als anachronistische Überbleibsel aus dem Strassenbau des Säumerzeitalters bezeichnen.

Rückwirkungen dieser Kritik auf die Planung blieben nicht aus. Als Entwurfsziele rückten eindeutig verkehrstechnische Optimierung, Wirtschaftlichkeit und kurze Bauzeit in den Vordergrund. Dass Landschafts- und Umweltschutz in der Zielhierarchie höchstens eine untergeordnete Bedeutung hatten, kann insofern nicht erstaunen, weil diese Kriterien auch beim Bahnbau seinerzeit keine Beachtung fanden und weil die wenigen, die auf die Bedeutung dieser übertechnischen Anforderungen hinwiesen, in der Öffentlichkeit nicht auf Resonanz stiessen.

Der VSS (Verein Schweiz. Strassenfachmänner) entwickelte in grosser Zahl verkehrstechnische und bauliche Normalien wie Querprofile, Übergangskurven, Bemessungstabellen für Betonstützmauern usw., aber nur in rudimentären Ansätzen Dokumente über Architektur im Strassenbau. Der Umschwung kam zu Beginn der siebziger Jahre. Ein grosser Teil des Gesamtnetzes war bereits erstellt, und man verfügte nun auch schon über beträchtliche technische Annehmlichkeiten und Vorteile. Anderseits hatte der rein technisch orientierte Strassenbau einige ökologisch höchst fragwürdige Blüten getrieben (z. B. Ostring in Bern), und die schwerwiegenden Emissionen des Motorfahrzeugverkehrs begannen sich immer deutlicher auszuwirken.

Der Strassenbau mit seiner gewaltigen Eigendynamik zufolge des grossen Zeitbedarfs von der Planung bis zur Fertigstellung vermochte diesem Umschwung in der öffentlichen Meinung nicht zu folgen, wurde deshalb als provokatorisch empfunden und geriet zusehends heftiger ins Kreuzfeuer der Kritik. Während Politiker früher gerne die Eröffnung eines Strassenstücks als Pu-blizitätspodium in Anspruch nahmen, hielten sie sich nun in kritischen Situationen im Hintergrund und Hessen die Ingenieure mit ihren zum Teil ökologisch missglückten Verkehrsmonumenten im Regen stehen. Bei der teuren Sihlhochstrasse wurden die Bauabschrankungen bei Nacht und Nebel entfernt; kein Mensch nahm Kenntnis vom ersten Auto, das über dieses Teilstück fuhr, jedenfalls war es nicht ein Oldtimer, in dem ein Politiker sass. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf den modernen Strassenbau waren divergierend.

Aktuelle Situation

Heute haben sich die ZielVorstellungen in der Strassenprojektierung gewandelt. Funktionalität allein genügt nicht. Architektonische Kriterien müssen in den erstrangigen Entwurfszielen mitberücksichtigt werden. Viele Planer und Ingenieure sind deswegen enttäuscht und desorientiert. Sie haben sich während langer Zeit an das Projektierungsleitbild der sechziger Jahre gehalten und müssen nun den Vorwurf entgegennehmen, eines der wichtigsten Projektierungsziele, die Architektur im Strassenbau, viel zu wenig beachtet und gepflegt zu haben.

Viele Fehler sind irreversibel, andere lassen sich nur notdürftig korrigieren. Die Bereitschaft, dies einzusehen, ist zwar grösstenteils vorhanden, aber es fehlt oft an der diesbezüglichen Ausbildung und an den Grundlagen für eine architektonisch anspruchsvolle Strassenprojektierung. Die Auswirkungen dieser «Krisensituation» sind zum Teil grotesk. Auf der einen Seite wird traditionelle Strassenbautechnik hartnäckig und mit untauglichen Argumenten verteidigt, auf der anderen Seite sind Ansätze zu absurder Nostalgie-Architektur erkennbar, die zeigen, dass sogar die Ingenieure selbst das Vertrauen in die architektonischen Werte und Möglichkeiten moderner Bautechnik verloren haben.

In diese Richtung gehen zum Beispiel Vorschläge, im Hinblick auf ein altes Dorfbild neue Strassenbrücken in Holz auszuführen. Auch wenn sich Holz für Fussgängerstege vorzüglich eignet, sollte man es für eine Strassenbrücke doch nur dann verwenden, wenn auch im Verkehr nur Pferdekutschen zugelassen würden. Die Gestaltungs- und Konstruktionsmöglichkeiten mit modernen wirtschaftlichen Baustoffen sind unbegrenzt. Dies sollte für den Ingenieur eine Herausforderung sein, und auf gar keinen Fall sollte er sich zu der Bankrotterklärung verleiten lassen, dass nur mit 200 Jahre zurückliegender Bautechnik umweltfreundlich gebaut werden könne. Solche Überlegungen gelten für Brük-ken, Galerien und insbesondere auch für den Bau von Stützmauern. Bruchsteinmauerwerk ist sicher umweltfreundlich und fügt sich harmonisch in eine gebirgige Landschaft ein, allerdings nur im traditionellen Massstab. Eine hohe Stützmauer muss deshalb in Beton ausgeführt werden, aber nicht als roher unförmiger Klotz, sondern gegliedert, gestaffelt, mit allen Möglichkeiten, die die moderne Bautechnik zulässt.

Es ist in der Tat unverständlich, dass weitherum lange Zeit keine Anstrengungen unternommen wurden, dieses heikelste und in der rohen Form hässlichste Strassenbau-Element zu gestalten. Gerade diese Fehler führten zu schwerwiegender und irreversibler Beeinträchtigung schönster Landschafts- und Ortsbilder. Das Argument, Sicherheit und Dauerhaftigkeit könnten nur mit einer massig-rohen Betonwand gewährleistet werden, ist absurd und widerspiegelt lediglich das eigene Unvermögen. Auch bei Brücken ist die von Fachleuten selbst konstruierte Korrelation von Ästhetik und ungenügender Dauerhaftigkeit völlig verkehrt und von bedenklich kontraproduktiver Auswirkung.

Ein Brückenträger ist als Hohlquerschnitt ausgebildet. Die Wandstärken des Querschnittes sind für den Betrachter somit gar nicht erkennbar und haben demzufolge nichts, aber auch gar nichts mit Bauwerk-Ästhetik zu tun. Die Wahl dünner Wandstärken war ausschliesslich in Wirtschaftlichkeitsüberlegungen begründet, jenem Entwurfsziel, das in den sechziger Jahren neben der Sicherheit eindeutig an erster Stelle stand. Hauptursache vieler Brückenschäden sind übrigens Frost-Tausalz-Einwirkungen, und zwar vor allem wegen ungenügender Fahrbahnisolation, Verwendung von nicht salzresistentem Beton sowie ungenügender Betonüberdeckung der Eisen. Die Salzeinwirkung, die in den frühen sechziger Jahren noch gar nicht bekannt war, ist heute Ursache der meisten Brückenschäden.

In der traditionellen Zielhierarchie stand die verkehrstechnische Funktionalität zweffillos an erster Stelle. Bezüglich Sicherheit darf daran nichts geändert werden, aber in bezug auf den verkehrstechnischen Perfektionismus wären doch im Sinne des Landschaftsschutzes gewisse Vorbehalte angezeigt. Es werden tatsächlich auch heute noch Anschlüsse in traditionellem Stil gebaut, die wegen einer einzigen, völlig unbedeutenden Verkehrsbeziehung gigantische Ausmasse annehmen. Die fragwürdigen Anlagen von Wassen, Göschenen und Airolo sollten sich bei der neuen Zielsetzung nicht mehr wiederholen.

Die Situation in Graubünden

Graubünden verdankt seine historische Bedeutung vor allem seinen Verkehrswegen, und auch heute ist der stärkste Wirtschaftszweig des Kantons - der Tourismus - auf eine gute Verkehrsinfrastruktur angewiesen. Diese im Bewusstsein der Bevölkerung ehemals stark verankerte Tatsache wurde in den letzten Jahren mehr und mehr negativiert. Es wurde ein davon unabhängiges kulturhistorisches Szenarium konstruiert, das in propagiertem Ausmass kaum je vorhanden war. Schuld daran sind einerseits die Ingenieure selbst, die wenig zur Würdigung ihrer Arbeit beitragen und nicht zögern, eigene Werke zu verunstalten, und anderseits nicht zuletzt das Verhalten der sogenannten Denkmalpflege, die für Ingenieurbauwerke im allgemeinen und für moderne Verkehrsbauten im besonderen bisher äusserst wenig Verständnis und Interesse aufzubringen vermochte.

Es ist falsch, Verkehrsbauwerke, Brücken, die nicht mehr in Betrieb sind, zu erhalten. Es wäre besser, sie abzubrechen und als Modell mit Plänen und Stichen alter Passstrassen in einem Museum auszustellen. Davon hätte das Publikum viel mehr. Ein lobenswertes Beispiel hiefür ist das bescheidene, aber ausserordentlich schöne Grubenmann-Museum in Teufen. Es wäre auch angezeigt, an den schönsten Brücken der Rhätischen Bahn, dem Wiesener- und Landwasser-Viadukt, in einem kleinen Schaukasten die Brückenpläne zu zeigen. Die zahlreichen Wanderer, die dort vorbeikommen, interessieren sich dafür mindestens so sehr wie für die in immer grösserer Auflage vorhandenen naturkundlichen Belehrungen.

Schlussbemerkung

Architektur im Strassenbau sollte aber nicht nur eine, zwar berechtigte, Forderung sein, sie sollte begleitet und unterstützt werden durch Motivation, d.h. Würdigung vorhandener Werte. Die Rückwirkung der Ästhetik auf das Wohlbefinden des Menschen ist unbestritten. In den USA wurde die Architektur im Strassenbau lange Zeit völlig vernachlässigt. Seit einigen Jahren hat nun der Staat Kalifornien die Zielsetzung im Strassenbau gründlich revidiert, und aufgrund dieses Beispiels finden heute die architektonischen Belange im .Strassenbau in den Seminarien der Staats-Chefingenieure genau die gleiche Beachtung wie die technisch-funktionellen. Es ist zu hoffen, dass auch in der Schweiz die überragende Bedeutung ideeller Werte im technischen Bereich erkannt und entsprechend gewürdigt.

Text: Prof. Dr. Christian Menn, Institut für Baustatik und Konstruktion ETH-Hönggerberg, Zürich

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