In­ter­ve­nie­ren – aber wie?

Wie können Städte gerechter wachsen und lebenswert bleiben? Das Tagungsthema des ETH Wohnforums – ETH CASE war anspruchsvoll. Eine erste Antwort lieferte die Stadtsoziologin Saskia Sassen: indem die öffentliche Hand steuernd eingreift. Wie genau, wurde heftig diskutiert.

Date de publication
15-04-2019

«Schauen Sie sich diese Liste an», forderte die weltberühmte Stadtsoziologieprofessorin Saskia Sassen in ihrem Referat und wies auf ein Bild, das sie soeben hinter sich an die Wand projiziert hatte. «Vielleicht finden Sie Ihre Stadt ja auch darauf. Allerdings wäre das bad news für Sie.» Die Liste zeigte jene Städte, in denen die Aktivitäten auf dem Bodenmarkt innerhalb eines Jahres am meisten zugenommen hatten – ein Indiz für die Attraktivität der Stadt und dafür, dass die Bodenpreise rasch in schwindelerregende Höhen steigen.

Wem gehört die Stadt?

Sassen fokussierte dabei auf ein vergleichsweise neues Phänomen: In den 1980er-Jahren gelang es der Finanzbranche, Kauf- bzw. Hypothekarverträge für Immobilien mathematisch zu abstrahieren; in grossen Mengen gebündelt und mit anderen Anlagen gemischt, ergaben sie ein neues, auf den internationalen Finanzmärkten handelbares Produkt. Auf diese Weise wurden selbst bescheidenste Bauten und Bauvorhaben, die bisher nur auf lokalen Märkten gehandelt wurden, für internationale Investitionsgesellschaften interessant. Der gewinnträchtige Handel mit diesen abstrahierten Produkten auf den internationalen Finanzmärkten, so Sassen, habe unter anderem auch zur Subprime-Krise von 2010 geführt, deren Kosten letztlich die Öffentlichkeit zu tragen hatte. 

Vor allem aber führten solche Praktiken dazu, dass Besitzverhältnisse verunklärt wurden. «Wussten Sie, wie viele historische Gebäude in London, die seit Jahrhunderten die Identität dieser Stadt bilden, heute chinesischen Investitionsgesellschaften gehören?», fragte Sassen weiter. Das Problem sei nicht, dass ausländische Firmen die Bauten besässen, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese sich ausschliesslich für deren Wert als Finanzinstrument interessierten.

Dass diese Gebäude viel mehr sind – physische Verkörperungen einer Kultur, Identität stiftende Elemente einer Stadt, Heimat von Menschen –, würde dabei ignoriert. «Diese Gebäude lügen», so Sassen. «Sie sind nur noch Kulissen. Ihre Fassaden sind vertraut, und sie drücken vertraute Werte aus. Doch wer sich hinter den Fassaden verbirgt und ob er diese Werte tatsächlich vertritt, weiss niemand.» Sie folgerte: Der Boden müsse in lokalem Besitz bleiben und dürfe nicht zum Spielball der internationalen Finanzwirtschaft verkommen. 

Und mehr noch: Der Bodenbesitz müsse in der Bevölkerung breit verteilt sein, wie dies im 20. Jahrhundert ab dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Zurzeit jedoch öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich. Der Grundbesitz kumuliert sich bei Wenigen, während die grosse Mehrheit keine Verfügungsgewalt mehr über den Boden hat. Die Struktur, die auf uns zukomme, warnte Sassen, kennen wir aus der Geschichte: Feudalismus und absolute Macht bis hin zur Leibeigenschaft.

Der freie Markt kanns nicht richten

Auf diesen fulminanten Auftakt folgten drei Podiumsdiskussionen, bei denen stets zwei Pole repräsentiert waren: einerseits die Schweiz bzw. Zürich und andererseits die internationale Situation. Auf dem Podium sassen jeweils vier Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Branchen und Institutionen wie Forschung, Planungsbüros, Politik, Recht, Verwaltung, UN Habitat. Ausgangspunkt war das Postulat, dass die Stadt als Lebensraum allen, die dies wollen, als lebenswerte Wohn- und Arbeitsstätte zur Verfügung stehen müsse. Alle Podiumsgäste waren sich darin einig, dass dieses Ziel nur mit Interventionen der öffentlichen Hand in den Markt zu erreichen sei.

Der freie Markt, so der Grundtenor, funktioniere hier nicht. Denn die Menschheit wächst exponentiell, und die Urbanisierungsrate steigt. Es gilt, das für die Ernährung notwendige Kulturland nicht leichtfertig zu verbauen. Die Städte wachsen also, aber sie sollen möglichst wenig in die Fläche wachsen und sich stattdessen verdichten.

Doch damit steigen die Bodenpreise; in vielen Metropolen sind sie für viele schon unerschwinglich. In London beispielsweise können sich unzählige Verkäuferinnen, Müllmänner, Krankenpflegerinnen, Bus-Chauffeure, Serviceangestellte und Feuerwehrleute die Wohnkosten nicht mehr leisten und pendeln täglich von der Peripherie, um das Zentrum am Funktionieren zu erhalten. Die Folgen sind Segregation und Verkehrsüberlastung.

Instrumente und ihre Anwendung

Dass es an der öffentlichen Hand sei, die Entwicklung in nachhaltigere Bahnen zu lenken, darüber herrschte auf dem Podium ein breiter Konsens. Mit welchen Instrumenten dies zu geschehen habe, war dagegen umstritten. Jacqueline Badran, Bodenökonomin und Zürcher Nationalrätin, stellte mit Bezug auf Saskia Sassens Referat fest, dass es in der Schweiz ausländischen Investitionsgesellschaften dank Lex Koller nicht gestattet sei, Immobilien zu erwerben. Dennoch seien auf einem Markt, in dem konstant Unterangebot und Nachfrageüberhang herrschen, keine fairen Preise möglich. Der Zugriff auf Boden ist ein essenzielles Grundbedürfnis, denn ohne Boden kann ein Mensch weder essen noch wohnen.

Aus diesem Zwangskonsum resultiere ein massives Machtgefälle, das letztlich die Demokratie bedrohe. Gründete sich die absolute Macht des Adels nicht auf den Bodenbesitz, und sind unsere freiheitlichen Gesellschaften nicht das Ergebnis der bürgerlichen Revolution, die diesen Umstand beseitigte? Daher müsse sichergestellt sein, dass der Mehrwert aus dem Boden der Gemeinschaft erhalten bleibe, so Badran; vorzugsweise durch mehr staatlichen Bodenbesitz. Ökonomie-Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom habe mit ihrer Arbeit zur Allmendwirtschaft hinreichend aufgezeigt, wie dies funktioniere.

Andere Gesprächsteilnehmende waren anderer Meinung. Auch wenn der Boden mehrheitlich in privatem Besitz bleibe, sei es möglich, mit geeigneten staatlichen Instrumenten steuernd einzugreifen, etwa mit unterschiedlichen Formen der Mehrwertabschöpfung oder der Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Viele Staaten kennen solche Instrumente. Allerdings kommen sie meist nur zurückhaltend zum Einsatz.

In der Schweiz etwa schöpfen nicht alle Kantone das Potenzial des Mehrwertausgleichs (vgl. TEC21 17/2018) gleich konsequent aus. An vielen Orten dieser Welt kommen Korruption und Besitzstandwahrung autoritärer politischen Eliten hinzu. Ein mehr oder weniger ausgeprägtes Vollzugsdefizit besteht fast also überall. Umso wichtiger sei es, forderten die Podiumsgäste, dass die lokalen Zivilgesellschaften für eine konsequente Umsetzung aller juristischen Instrumente einstehen.

Der ETH Forum Wohnungsbau 2019 «LAND NUTZEN! Wie Städte gerechter wachsen und lebenswert bleiben können» fand am 5. April 2019 im ETH Zentrum statt. Die Video-Aufnahmen der Tagung sind hier verfügbar.

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