Ein Glied in der Kette

Das Gemeinschaftskraftwerk Inn und sein Umfeld

Ein Flusskraftwerk steht selten für sich allein. Der Neubau des ­Gemeinschaftskraftwerks Inn schliesst die Anlagenkette zwischen St. Moritz und Prutz. Die Betreiber betonen die ökologischen Vorteile für den Fluss, die sich aus dem Projekt ergeben. Ein Blick auf die Problematik von Schwall- und Restwasserabfluss.

Date de publication
18-10-2018
Revision
22-10-2018

Der Inn ist der wasserreichste Fluss der Alpen. Er gab nicht nur seinem Ursprungsort im gerühmtesten Hochtal der Alpen – dem Engadin – den Namen, auch die heutige Tiroler Landeshauptstadt schmückt sich seit dem 12. Jahrhundert mit seiner Überbrückung. Innsbruck liegt etwa mittig zwischen den Wasserkraftwerken Kirchbichl und Prutz-Imst, die 1941 respektive 1956 in Betrieb gingen. Dazwischen liegt heute die mit 150 km längste noch verbliebene frei laufende Strecke des Inns.

Unterhalb Kirchbichl folgen nämlich 18 Kraftwerke – die ersten wurden 1924 erbaut – bis zur Mündung in die Donau in Passau. Islas bei St. Moritz war das erste Schweizer Kraftwerk am Inn. Seit 1932 wird das Wasser des jungen Inns aus dem St. Moritzersee ausgeleitet und in einem Stollen zum Krafthaus geleitet, bevor es bei Celerina wieder ins Flussbett gelangt. In der unterhalb von St. Moritz gelegenen Charnadüra-­Schlucht fliesst daher im Bett des Inns nur noch eine Restwassermenge von 0.075 m3/s.1

Auch die Kantonsstrasse zwängt sich durch die Engstelle. Mit 4.4 MW Turbinenleistung und einer nur kurzen Ausleitungsstrecke fällt Islas aber nur eine untergeordnete Bedeutung in der Kraftwerkskette des Inns zu. Wirklich grosse Auswirkung auf das Abflussregime des Schweizer und in der Folge des angrenzenden Tiroler Inns haben die Speicherkraftwerke der Engadiner Kraft­werke (vgl. TEC21 40/2014 und «Spektakuläre Taucharbeiten», TEC21 48/2016). Sie nehmen zwar nur teilweise das Wasser aus dem Fluss selbst, beeinflussen aber mit den Abflüssen aus den Speicherseen Livigno und Ova Spin den Pegel des Inns entscheidend.

Italienisches Wasser sorgt für Schwall

Es beginnt mit dem Livigno-Stausee. Der 9 km lange See liegt zum grössten Teil auf italienischem, die ihn absperrende Bogenstaumauer Punt dal Gall zur Hälfte aber auf Schweizer Boden. Der Inhalt des 164 Mio. m3 fassenden Reservoirs dient in erster Linie als Saison­speicher – im Sommer fallende Niederschläge werden im Winter in der Kraftwerkszentrale Ova Spin oberhalb von Zernez verstromt. Eine Leistung von 50 MW ist hier installiert. Auch ein Pumpbetrieb vom Stausee Ova Spin in den von Livigno ist möglich. Ausserdem wird dem Ova Spin unter anderem Wasser aus dem Inn zugeführt. Die Wasserfassung mit einer Kapazität bis zu 32 m3/s liegt bei S-chanf, der Inn führt ab hier einen Restwasserabfluss von 0.8 m3/s zwischen Oktober und Mai respektive 3 m3/s in den restlichen Monaten. Das in Ova Spin gesammelte Wasser fliesst nun zur Zentrale Pradella, mit 288 MW Gesamtleistung das wichtigste Kraftwerk im System der Engadiner Kraftwerke.

Vom Ausgleichsbecken Pradella, das ebenfalls mit Wasser aus dem Inn gespeist wird, wird das verstromte Wasser zur Zentrale Martina geleitet, wo es nochmals genutzt wird und eine Leistung von 70 MW erbringt. Hierauf wird es direkt wieder in den Inn geleitet, was aufgrund der Wasserdurchflüsse von 93 m3/s zu beachtlichen Schwallerscheinungen im unterstrom liegenden Flussabschnitt führt. Da der Inn aufgrund der Wasserentnahme in S-chanf und Pradella einer Restwasserstrecke entspricht (ab Pradella fliessen noch ca. 2 bis 5 m3/s als Restwasser im Fluss), kann der plötzliche Anstieg des Abflusses durch die Einleitung des Kraftwerks Martina bis zum 30-Fachen des im Flussbett vorhandenen Wassers ausmachen. Dies kann rasche Wasser­tiefen­änderungen im Bereich mehrerer Dezimeter, ja sogar bis zu 1.5 m ausmachen.

Gewässer auf kleinem Niveau

Direkt betroffen von Restwasserstrecken sind Wasserlebewesen und -sportler. Im Internet können Letztere Ratschläge erhalten, wann diverse Strecken, etwa die Innschlucht bei Tarasp, mit dem Kajak befahrbar sind, ohne dass es zu Grundberührungen aufgrund Niedrigwasser kommen sollte. Fauna und Flora haben da schon andere Probleme, geht es bei ihnen doch ums Überleben.

Flüsse in Restwasserstrecken gleichen oftmals nur noch Bächen. Aufgrund des geringeren Abflusses verringert sich die benetzte Fläche – das nasse Flussbett fällt kleiner aus. Es bilden sich weniger verschiedenartige Abschnitte mit unterschiedlichen Wassertiefen aus. Fliessgeschwindigkeiten, Temperaturen und Sauerstoffsättigung des Wassers können sich verändern. Einträge in den Fluss, zum Beispiel aus Abwasserreinigungsanlagen oder der Landwirtschaft, haben eine stärkere Auswirkung auf die chemische Zusammensetzung des Wassers.

Eine grosse Problematik stellt die veränderte Geschiebeführung dar. Ein Gewässer mit geringerem Abfluss kann grundsätzlich weniger Geschiebe mobilisieren und transportieren. Viele Fischarten sind aber zum Laichen gerade darauf angewiesen. Auch die Kolmation – die Abdichtung der Gewässersohle durch Schwebstoffe – kann sich in Restwasserstrecken anders einstellen, und Auswirkungen auf den Grundwasserspiegel, der für die angrenzende Flora lebensnotwendig sein kann, sind nicht auszuschliessen.

Restwasserabgaben sind bei Ausleitungskraftwerken immer ein Interessenkonflikt zwischen Ökologie und Wassernutzung. Mit diversen Modellen – etwa dynamischen Restwassermodellen, in denen festgelegt wird, zu welchem Zeitpunkt wie viel Wasser im Fluss bleiben muss – wird versucht, diesen Konflikt zu entschärfen. Besonders im Winterhalbjahr oder zur Laichzeit der Fische können damit Schäden an Populationen vermindert werden. Im Sommer stehen aufgrund höherer Niederschläge in den alpinen Gewässern meist grös­sere Abflüsse zur Verfügung, sodass die Restwasserproblematik etwas weniger ausgeprägt ist. Trotz aller Bemühungen wird sich in Restwasserstrecken kein natürlicher Zustand eines Flusses ergeben. Daher spricht man meist von naturnahen Verhältnissen, auch beim Projekt Gemeinschaftskraftwerk Inn.

Immerhin wird 60 % des Schweizer Inns eine mindestens hohe Naturnähe zugestanden.1 Dies liegt insbesondere an unverbauten Schluchtstrecken, revitalisierten Auengebieten und Stauraumspülungen der Wehre S-chanf und Pradella, die zumindest versuchen, eine gewisse naturnahe Geschiebeführung zu bewerkstelligen. Dem Abschnitt zwischen Martina und Prutz, der durch den Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn betroffen ist, wird heute jedoch nur eine mittlere bis geringe ökologische Wertigkeit ausgewiesen.

Rette sich, wer kann

Die Wiedereinleitung des Wassers nach einem Kraftwerk, in vorliegendem Fall nach der Zentrale Martina, entschärft zwar die Restwasserproblematik, führt jedoch zu Schwallbelastungen der Flussstrecke. Die Spitzen von Schwallabflüssen stellen zwar noch kein Problem für Fauna und Flora dar – ein Hochwasser kann weit höhere aufweisen –, aber die kurzen zeitlichen Spannen ihres Auftretens haben dramatische Konsequenzen. Wasserlebewesen können abgeschwemmt werden oder trockenfallen. Die schnelle Temperatur­änderung – im Sommer kühlt das schnell eingeleitete, turbinierte Wasser den Fluss ab, im Winter hingegen erwärmt es ihn – beeinträchtigt die aquatischen Organismen.

Aus Restwasserstrecken im Oberlauf gelangt zu wenig laufendes Geschiebe in die Schwallstrecke, aus Kraftwerken, insbesondere Talsperren, meist gar keines. Daher ist die Gefahr einer Sohleintiefung in einer Schwallstrecke gegeben. Die Gefahrenschilder, die unterhalb von Kraftwerken Menschen vor einem Aufenthalt im Flussbett warnen, könnten entsprechend für zahlreiche aquatische Lebewesen gelten.

Durch betriebliche oder bauliche Massnahmen können die negativen Auswirkungen eines Schwalls reduziert oder gar unterbunden werden. Der Betrieb eines Kraftwerks kann etwa angepasst werden, sodass das Ansteigen und Abfallen des Abflusses zeitlich langsamer vonstatten geht. Auch eine erhöhte Restwasserabgabe vermindert das Schwall-Sunk-Verhältnis. Aus wirtschaftlichen Gründen – faktisch ist dies abhängig vom Strompreis – geben Kraftwerksbetreiber aber zurzeit oft baulichen Massnahmen den Vorzug. Eine Möglichkeit wäre die Wasserrückgabe in einen geeigneten Vorfluter, der den Abfluss gedämpft wieder in den Fluss zurückleitet. Dies könnte etwa ein natürliches Gewässer (See) sein oder ein künstliches Ausgleichsbecken. In schmalen Gebirgstälern wie unterhalb Martina kann die Umsetzung eines Ausgleichsbeckens aber schwierig werden, da seine Grösse natürlich vom turbinierten Abfluss und dessen Dauer abhängt.

In der Schweiz jedenfalls sind die Kraftwerksbetreiber gemäss Gewässerschutzgesetz zu Mass­nahmen gegen den Schwall verpflichtet, wenn das Schwall-Sunk-Verhältnis 1.5 übersteigt und gleichzeitig nega­tive Auswirkungen auf Tiere und Pflanzen vorliegen. Die Sanierungs­frist für bestehende Anlagen läuft bis 31. Dezember 2030.2

Lachendes und weinendes Auge

Der Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn (GKI) löst die Schwallproblematik im Tiroler Abschnitt bis Prutz elegant, wenn auch mit einem gewissen Haken: Der vom Schwall betroffene Abschnitt wird in eine Restwasserstrecke umgewandelt. Das in der Zentrale Martina verstromte Wasser wird, sofort nachdem es wieder in den Inn geleitet ist, durch die neue Wehranlage des GKI in Ovella aufgestaut und hierauf über den 23.2 km langen Druckstollen zum Kraftwerk Prutz geleitet. Der Stauraum des Wehrs Ovella entspricht faktisch einem Ausgleichsbecken zur Sanierung von Schwall­abflüssen. Ein dynamisches Restwassermodell legt jahreszeitlich gestaffelt Abflüsse im Flussbett des Inns zwischen 5.5 und 20 m3/s fest.

Gemäss Genehmigungsbehörden – das GKI wurde sowohl nach dem österreichischen Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz UVP-G 2000 geprüft als auch der schweizerischen Umwelt­verträglichkeitsprüfung unterzogen – stellt der Stauraum des GKI zwar einen erheblichen Eingriff in die Gewässerökologie dar, jedoch wird die Schwallsanierung als ein ganz bedeutender öffentlicher Nutzen des Vorhabens eingestuft. «Das Erreichen der Umweltverträglichkeit scheint bei Erfüllung der Nebenbestimmungen (Auflagen, Massnahmen etc.) für die Gewässerökologie wie auch für den Naturhaushalt somit gegeben.»3

Ökologisch geht es also aufwärts, wenn auch auf niedrigerem Niveau – schliesslich verläuft der grösste Teil des Inns in einer Röhre. Für das menschliche Auge und Empfinden spielt dies keine grosse Rolle – heutige Generationen kennen unsere Flüsse nicht anders. Wasserlebewesen dürfen sich in Zeiten ohne Schwallbelastung zurückversetzt fühlen, und auch geografisch gesehen könnte man sagen, der Inn macht an der Grenze zu Tirol einen Sprung zurück: Das dynamische Restwassermodell für den Tiroler Abschnitt bezieht sich nämlich auf den unbeeinflussten Pegel bei St. Moritz (Oberengadin). Je mehr Wasser dort die Messstelle passiert, desto mehr verbleibt in Ovella im Fluss. Vom Bündner Oberengadin gleich ins Obere Gericht Tirols – das Unterengadin wird ausgeklammert, als ob es der Inn eilig habe, nach Passau zu kommen.

Anmerkungen

  1. PAN Planungsbüro für angewandten Naturschutz GmbH: Inn.Studie im Auftrag des WWF Österreich, Erläuterungsbericht, 15. Januar 2015.
  2. Bundesamt für Umwelt Bafu: Sanierung Schwall-Sunk, Strategische Planung, Ein Modul der Vollzugshilfe Renaturierung der Gewässer, Bern 2012.
  3. Gemeinschaftskraftwerk Inn GmbH, Errichtung des Wasserkraftwerks «Gemeinschaftskraftwerk Inn»; Genehmigung der Tiroler Landesregierung nach dem Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000; U-5161/1117.

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