Ein klei­nes Stück Stadt

Kontrast in St. Margrethen

Die Planungen für St. Margrethen machen Identitätskonflikte offensichtlich: Unterschiedliche Vorstellungen von Stadt und Dorf treffen aufeinander.

Publikationsdatum
29-12-2014
Revision
18-10-2015

Geplant wird Grosses für die kleine St. Galler Gemeinde St. Margrethen: eine städtische Grossform, bestehend aus nutzungsdurchmischten, aber einheitlich gestalteten Modulen mit Gewerbeflächen, Büros, Einkauf und Wohnen, angereiht an einem zentralen – vorzugsweise belebten – Boulevard. Eine urbane Insel mitten im 5500-Seelen-Dorf. Diese saubergefegte Version von Stadt steht nicht nur im Kontrast zum feingliedrigen und heterogenen Dorf selbst, sondern auch zur heutigen Nutzung – einem seit mehreren Jahrzehnten als Lagerplatz (zwischen)genutzten Areal des ehemaligen Holzverarbeitungsunternehmens HIAG.

Mit der Einstellung des Betriebs im Jahr 1979 begann für die Gemeinde eine schwierige Zeit. Arbeitsplatzverlust und Abwanderung bewirkten eine geringere Wohnnachfrage, dementsprechend fehlten die Investitionen, und die Bausubstanz verschlechterte sich. Doch dieser «urbane Bruch» hinterliess hinter dem Bahnhof nicht nur eine rund 70.000m2 grosse ­Lücke, sondern schaffte auch eine Chance für die innere Siedlungsentwicklung. Aufgrund der Grösse des ­Areals stellen sich für die Gesamtgemeinde gleichzeitig auch Fragen der Neupositionierung und Identität: Was ist St. Margrethen? Wo will es hin 

Wer entscheidet und wie 

Die HIAG hat die Debatte über die Ausrichtung der ­Gemeinde entscheidend mitgeprägt. So sahen sich die Verantwortlichen der Gemeinde im Lauf der Zeit mit diversen Entwicklungsideen des Grundeigentümers konfrontiert, z. B. ein Fachmarkt im Bereich Bau und Freizeit, ein Outlet-Store im Bereich Textilien oder ein ­Logistikzentrum für einen Grossverteiler. 

Die «Flugbahn» des HIAG-Areals forderte nicht nur die Identität der Gemeinde heraus, sondern veränderte auch die Planungskultur: So kann die Abfolge von Entwicklungsideen und ihre Reaktion darauf als ein Wandel von einer passiven zu einer aktiven, intervenierenden Haltung gelesen werden. Schliesslich wurde die Idee des Logistikzentrums unter Androhung einer Planungszone niedergeschmettert. Die Verantwortlichen wussten nun immer deutlicher, was schlecht wäre für die Gemeinde, aber nicht, wie sie zu einer positiven und realistischen Zukunftsvorstellung kommen. 

Nichtsdestotrotz bewirkte diese Intervention Dialogbereitschaft. Unter Beizug von externem Know­how (Nüesch Development und ERR Raumplaner) gelang es, einen Prozess auf die Beine zu stellen, in dem die öffentlichen und privaten Interessen austariert werden konnten. Wesentliches Element dabei war ein neues Entwicklungsmodell, das das Areal international im Bereich Retail positioniert und in einen dicht bebauten, nutzungsdurchmischten und durch öffentliche Räume geprägten Stadtteil verpackt. Belebung und Stärkung des öffentlichen Raums sind dabei nicht nur Forderungen der öffentlichen Hand, sondern bilden die Basis des neuen betriebswirtschaftlichen Modells (Stichwort Frequentierung).

Lernen von St. Margrethen

Am Schluss sind sich also alle Entscheidungsträger einig, dass im Dorf St. Margrethen ein ­neuer Stadtteil geplant werden soll. Zwei kritische Punkte können an dieser Stelle angebracht werden.

Erstens: Kann Stadt einfach so gebaut werden? Die ­Qualitätsvorstellungen von Stadt orientieren sich hier im Wesentlichen an einer auf die Morphologie verkürzte Version der traditionellen europäischen Stadt (Kompaktheit, Stärkung der öffentlichen Räume, Einheitlichkeit). Sie kann sich nur dort materialisieren, wo wir die Akteure dafür vorfinden, in diesem Fall auf einer In­dustriebrache. Auch in dieser Agglomerationsgemeinde erfolgt Urbanisierung also inselartig und nicht flächendeckend. Es findet eine Entflechtung statt: Die konzentrierte Verdichtung an einem Ort entlastet die Entwicklungen im Ortskern und macht ortssensitivere Aufwertungen möglich. Paradoxerweise schafft das Streben nach Einheitlichkeit auf Ebene der Gesamtgemeinde Heterogenität.

Zweitens: Wie steht es um die Identität der ­Gesamtgemeinde? Durch den oben genannten Ent­flechtungsmechanismus wird die Gemeinde vom Urbanisierungsdruck entlastet. Das heisst auch, dass potenzielle Identitätskonflikte vorerst umgangen werden können. Das Thema der Identität der Gesamtgemeinde (Wer sind wir? Wohin wollen wir?) schwingt aber trotzdem in den Entscheidungsprozessen mit, ohne dass es in expliziter Art und Weise angegangen wird. Nur eine Politisierung jenseits formal-politischer Arenen und Expertengremien (z. B. Planungswerkstatt) kann dazu führen, dass St. Margrethen eine neue urbane Qualität entwickeln kann, die auf seinen Eigenheiten beruht und nicht auf romantischen Vorstellungen von Dorf und Stadt. Die entscheidenden Reflexionen darüber hätten wohl nach der Intervention und vor dem Einschlagen in das neue Entwicklungsmodell stattfinden müssen. 

St. Margrethen


Gesamtfläche: 6.9 km(Siedlungsfläche: 34.8%)
Bevölkerung: 5667 Einwohner
Exekutive: 7 Personen (Gemeinde­präsident im Vollamt)
Legislative: Gemeindeversammlung
Politische Verantwortung für die Bauverwaltung: Gemeindepräsident; die anderen Exekutivmitglieder sind keinem spezifischen Departement zugeordnet.
Beschäftigte in der Bauverwaltung: 1 Hochbauleiter, 1 Sach­bearbeiter,
1 Bausekretärin
Behandelte Baugesuche 2012: 248

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