«Zwei selbst­be­wuss­te Men­schen»

Zwei Generationen Neufert

Jeder ein Ausdruck seiner Zeit: Obwohl Peter Neufert dieselbe Laufbahn einschlug wie sein Vater Ernst, stand er nicht in dessen Schatten. Was die beiden Architekten charakterisiert, verdeutlicht ein Gespräch mit Peter Neuferts Frau Marys und seiner Tochter Nicole Delmes.

Publikationsdatum
28-01-2015
Revision
27-12-2018

Lilian Pfaff: Wie kam es zur Gründung des gemeinsamen Büros von Ernst Neufert und seinem Sohn Peter? Es bestand von 1953 bis 1955 –– war das eine sogenannte Starthilfe des Vaters für den Sohn ?
Marys Neufert: Das kann man so sagen.
Nicole Delmes: Es gibt Tagebücher von meinem Grossvater aus der Zeit, als er noch Peter in Darmstadt unterrichtet hat. Dort steht, dass Peter ein wilder Kerl gewesen sei, nur Flausen im Kopf hatte und nach Amerika wollte. Das heisst, Ernst Neufert wusste, wo es langging. Ich kann mir vorstellen, dass er ihn schützen oder ihm ins Leben helfen wollte.

Johannes Kister: Amerika war für beide wichtig.
Neufert: Das muss man aus der Zeit heraus verstehen. Damals nach Amerika zu gehen, direkt nach der Uni, war ein Abenteuer. Peter wollte etwas Eigenes auf die Beine stellen. Es war aber zehn Jahre nach Kriegsende, das darf man nicht vergessen. Man hatte von Amerika viel gehört, aber davon, was es bedeutete, dort als Architekt ein Büro aufzumachen, wusste man nicht viel. Ernst Neufert ist unter anderen Umständen nach Amerika gegangen. Frank Lloyd Wright hatte ihn nach Taliesin East in sein Haus eingeladen.

Kister: Man könnte sich vorstellen, dass Ernst Neufert seinen Sohn ermutigt hätte, nach Amerika zu gehen, denn für ihn selbst waren die amerikanischen Architekten eine wichtige Referenz. Aber es hört sich eher so an, dass er hierbleiben sollte, um zu lernen, was ein richtiger Architekt ist.
Delmes: Es ist erstaunlich, denn Peter hätte sich in Amerika mit seiner Architektur ausleben können, mit den besten Referenzen durch seinen Vater. Ernst war wohl froh, dass sein Sohn nicht nach Amerika ging. Denn er selber wollte sich 1936 auf den Weg in die Staaten machen, als die «Bauentwurfslehre» ein so grosser Erfolg wurde. Das kann aber auch eine Geschichte sein, die er selbst erzählt hat, um seinen Entschluss hierzubleiben zu rechtfertigen.

Pfaff: Haben sich Vater und Sohn über ihre Architektur ausgetauscht?
Neufert: Architekten schauen sich Projekte der anderen an. Sie haben gegenseitig ihre Bauten gesehen, aber nicht alle. Beim Haus X1 (vgl. «Networker mit Kunstsinn») hat sich Ernst Neufert immer mal wieder in den Garten gestellt und gesagt, o. k., so kann man das auch machen … so eine Aussage seinerseits bedeutete viel.

Pfaff: Es gibt deutliche Differenzen in der architektonischen Auffassung.
Neufert: Das Selbstbewusstsein von Ernst Neufert hat das gut verkraftet. Peter hatte sich schon immer von seinem alten Herrn abgegrenzt, sobald er aus Darmstadt weggegangen war, war die Distanz hergestellt. Deswegen ist er auch als erste Abnabelung vom Vater ins Büro Peter Friedrich Schneider in Köln gegangen.

Kister: Woran würden Sie das noch festmachen?
Neufert: Ich glaube nicht, dass er es anders machen wollte. Er hatte seine Ideen, die er durch­setzte – aber nicht gegen den Vater, das lag ihm nicht. Er konnte auch zahlreiche Einfamilienhäuser realisieren, so wie er gern wollte. Da brauchte es keinen Kampf mit dem Vater, der eigentlich auch keine Kämpfernatur war. Sie waren eigenständige, selbstbewusste Menschen.

Pfaff: Peter Neufert wurde als Fliegerarchitekt bezeich­net, der über seine Baustellen fliegt, und als jemand, der sich in öffentliche Diskussionen einschaltete.
Neufert: Das ist etwas übertrieben. Das mit dem Flieger macht natürlich eine schöne Überschrift in der Zeitung, dass die Bauherren alles aus der Luft serviert bekommen, aber es war ein winziges Flugzeug, und nirgendwo steht, dass Ernst Neufert auch schon geflogen ist. 

Pfaff: Peter feierte gern Feste. Wer war eingeladen? 
Neufert: Das war unterschiedlich. Es gab Cocktails nur für Bauherren, die zusammenpassen mussten, denn man konnte sie nicht willkürlich mischen. Es war immer viel los, alle zwei Wochen gab es eine Cocktailparty. Und dann gab es Feste mit einem Motto und Dekoration, zu denen man kostümiert kam.

Kister: Ernst Neufert war vom Bauhaus-Gedanken beeinflusst, bei dem die Technik als Teil der sozialen Verantwortung galt. War das bei seinem Sohn auch Teil der Zukunftsvision? Die Faszination des Bewegens scheint für ihn wichtig gewesen zu sein.
Neufert: Viele der Materialien, die dies ermöglichten, wurden damals erst erfunden oder erstmals im Bauwesen eingesetzt, wie z. B. Kunststoff. Er hat sich dafür interessiert und damit experimentiert. Aber ganze Wände aus Kunststoff gab es noch nicht, das war alles in den Anfangsstadien. 
Delmes: Wie die Verkleidung einer ganzen Fassade durch den Künstler Otto Piene an der Wormland-Fassade in der Hohen Strasse in Köln (Abb.). 

Pfaff: Wie kam es dazu? 
Neufert: Peter hatte ihn über die Künstlerin Mary Bauermeister kennengelernt. Und als Piene anmerkte, dass man seine Kunst auch als Fassade machen könnte, hat Peter ihn mit dem Bauherrn bekannt gemacht. Das Kunstwerk war mehr als nur eine Fassade, es war kinetisch – es drehte sich und war beleuchtet.

Kister: Wäre Peter gern Künstler geworden? 
Delmes: Nein, er war mehr am Austausch interessiert und wie weit man die Dinge noch ausreizen könne, als dass er sich allein damit im Atelier beschäftigen wollte. Es gab die Ausstellung «Der Geist der Zeit» in unserem Haus mit verschiedenen Künstlern, wie Arman, Max Bill, Heinz Mack, Almir Mavignier, Arnulf Rainer, Dieter Rot, Daniel Spoerri und anderen.
Neufert: Ich erinnere mich, Mary Bauermeister hat die Ausstellung kuratiert, und sie kannte all die Künstler. Sie wohnte in der Lintgasse, in einem Wohnhaus, das Peter entworfen hatte. Da man nicht sicher war, ob die Decke im Obergeschoss statisch trägt, haben wir angeboten, die Ausstellung bei uns zu machen. Moderne Kunst war noch gewöhnungs­bedürftig. Otto Piene war gefragt worden, was denn moderne Kunst sei. Er setzte sich an der Eröffnung zehn Minuten hin und sagte gar nichts. Danach meinte er: Sehen Sie, was Sie jetzt gedacht haben, das ist moderne Kunst.

Pfaff: Peters eigenes Haus X1 ist ein Paradebeispiel für seine künstlerische architektonische Haltung. Die Fassade erinnert an Malewitschs Kuben oder eine dreidimensionale Umsetzung eines Vasarely-Bilds.
Neufert: Hinten den einzelnen Kästen ver­bergen sich Schränke, Heizungen, Lüftungen und Müll­eimer. Alles funktionale Einheiten, die sich an der Fassade als Ausstülpungen ablesen lassen.

Kister: Peter scheint einen persönlichen Zugang zu den Projekten gehabt zu haben, ohne theoretischen Überbau.
Delmes: Mein Vater war nicht jemand, der ein Werk schaffen oder eine künstlerische Handschrift etablieren wollte. Er interessierte sich für das Projekt, und wenn es gebaut war, war es nicht mehr der Rede wert, sondern es musste etwas Neues kommen. Ich kann mich erinnern, wie er sich jahrelang aufgerieben hat für das Palmenhaus. Er hatte die Idee, Wohnen und Geschäfte in einem Mini-Gesellschaftskonzept zu vereinen. Das wurde nicht genehmigt wegen eines Stockwerks. Für diese Idee hat er jeden Meter gekämpft und dann aufgeben müssen. Es wurde so verkleinert, dass der Bau keine Kraft mehr ausstrahlte. Unter dieser Beschränkung hat er sehr gelitten. 

Interview von Dr. Lilian Pfaff, Korrespondentin TEC21, und Johannes Kister, Professor an der Hochschule Anhalt in Dessau am Bauhaus, der die Bauentwurfslehre für die Neufert-Stiftung aktualisiert, mit Peter Neuferts Frau Marys Neufert, und Tochter Nicole Delmes am 2. August 2013 im Haus X1 in Köln.

 

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