Was der Bo­den er­zählt

Editorial von Tracés 1/2015

Publikationsdatum
02-02-2015
Revision
25-08-2015

In seinem Werk «Dirt. The Erosion of Civilizations» zeigt der Geologe David Montgomery, dass unsere Städte auf kultivierbarem Boden erbaut wurden, der die eigentliche Grundlage unseres Lebens bildet. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Lebenserwartung der Landwirtschaftsbetriebe oft dem Expansions- und Rezessionszyklus unterlag, nachdem die Intensivlandwirtschaft sich ausserhalb fruchtbarer Flusstäler ausgeweitet hat: Eine Rezession tritt ein, sobald die organische Verbindung zwischen den Nutzungs- und den Regenerationszyklen unterbrochen wird.

Gemäss Montgomery ist die Menschheit mit dem alten Problem der Bodenverschlechterung nun weltweit konfrontiert, was die Fähigkeit unseres Planeten beeinträchtigt, mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten. Heute beträgt der Anteil kultivierbarer Böden bloss 4% der Erdoberfläche: In den letzten zehn Jahren wurden jährlich im Mittel 24 Milliarden Tonnen Humus zerstört – dies entspricht mehreren Tonnen pro Person oder dem Fünfzigfachen der Bodenregenerierungsrate.

Laut einem kürzlich publizierten Bericht der London Zoological Society ist die Artenvielfalt in den letzten vierzig Jahren weltweit um die Hälfte zurückgegangen.

In der Ausgabe 1/2015 von Tracés plädiert die Redaktion deshalb für einen neuen «Bodenbericht» im Projekt für Stadt und Land, der einen gemeinsamen Rahmen für die Vielfalt der Handlungen und der Entscheidungen einer Gesellschaft liefert. Im Gegensatz zu einer reinen Ermittlung des durch die Städte und zum Nachteil der Landschaft entstandenen Bodenverbrauchs benötigen wir einen Bodenbericht, der den Boden als materielle Schnittstelle allen Austauschs und aller Prozesse charakterisiert – ob diese nun biologischer, mechanischer oder kultureller Art seien. Montgomery geht es darum, die «anthropozentrische Stadt» herauszufordern: Die Dynamik Stadt / Land soll aufgezeigt und somit eine grössere Durchlässigkeit für die Habitate und die Verkehrswege aller Arten vorgesehen werden.

Der Boden ist, wie Städteplaner Paola Viganò es ausdrückt, als «erneuerbare Ressource» zu betrachten. Der Bericht wirkte dann wie eine Art «Zoom», mit dem Böden und ihre Leistungen betrachtet werden können. Der Boden erweist sich als eine aussergewöhnliche Schnittstelle in der interdisziplinären Wechselwirkung: Man denke nur an die Vielfalt der Masseinheiten, Zeitskalen und Analyseinstrumente, die ihn betreffen. Im Bodenmateriel sind sämtliche Spuren, Überbleibsel und Fragmente, welche das Gedächtnis einer Landschaft bilden, aufbewahrt.

In den 1980er-Jahren legte der Begriff der «Landschaft als Palimpsest» den Akzent auf Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit. Diese Tradition setzt sich heute im neuen Bodenbericht fort, der die Polaritäten zwischen Natur und Kultur, Geschichte und Imagination miteinander verbindet. Weit davon entfernt, ein blosses Instrument zu sein, ist das «Bodenprojekt» (Bernardo Secchi) eine Diskussionsbasis, um verschiedenartige Erfahrungen in Übereinstimmung zu bringen. Dabei erlangt das Verhältnis zwischen den Grössenordnungen «lokal» und «global» eine greifbare Selbstverständlichkeit, wie es Saskia Sassen in «La terre comme infrastructure de vie: Die Erde als Lebensinfrastruktur» durch die Skizzierung der Bodenverschlechterung als Erscheinung globaler Geopolitik anschaulich darstellt.

Mobilisierende Berichte sind zur Regenerierung von Lebenszyklen und zur Aufrechterhaltung der lebensnotwendigen Funktion des Bodens nötig, um uns vor der sehr reellen Gefahr der Bodenverschlechterung zu schützen und unseren Platz auf der Erde zu sichern.

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