«Tanz ist ein bio­me­cha­ni­scher Pro­zess»

Rolf Schneider arbeitete zuerst einige Jahre als Architekt, bevor er in wirtschaftlichen Krisenzeiten sein Hobby – das Tanzen – zum Beruf machte.¹ Seine Kenntnisse von Statik und Mechanik kämen ihm auch beim Tanzen zugute, erzählt er im Gespräch mit TEC21.

Publikationsdatum
11-10-2012
Revision
01-09-2015

TEC21: Herr Schneider, begonnen haben Sie Ihren beruflichen Lebensweg mit einer Malerlehre. Warum haben Sie sich damals für diesen Beruf entschieden?
Rolf Schneider:
Ich komme aus einem ganz kleinen Weiler in der Nähe von Lindau. Dort gab es fast nur Bauern ringsum, sodass ich in Bezug auf die Berufswahl ziemlich fantasielos aufgewachsen bin. Mein Vater war Maler, hatte aber beruflich nicht allzu viele Chancen, weil er sehr spät aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen ist. Er hat darauf spekuliert, dass ich mich nach der Meisterprüfung selbstständig mache und er dann bei mir arbeiten kann.  

Statt dem Wunsch Ihres Vaters zu entsprechen, haben Sie dann aber im Anschluss ein Architekturstudium begonnen.
R. S.:
Ja, ich bin nach der Meisterprüfung zunächst nach Zürich gegangen, um als Maler zu arbeiten. Dort wollte mir dann mein Onkel sein Malergeschäft übergeben. Ich wollte das aber nicht, weil ich noch sehr jung war, erst 22 Jahre alt. Stattdessen habe ich mich entschieden, noch zu studieren, und am Polytechnikum in München ein Hochbaustudium, Fachrichtung Architektur, begonnen. 

Schon damals war das Tanzen Ihr Hobby. Wann begann das?
R. S.:
 Ich habe, wie man das in Deutschland damals gemacht hat, mit sechzehn einen Tanzkurs für Anfänger besucht. Bald darauf bin ich dann durch Zufall in einen Tanzclub reingerutscht. Das war in Winterthur, wo ich während meiner Ausbildung zum Malermeister im Sommerhalbjahr jeweils als Maler arbeitete. Der Club hatte einen sehr guten Trainer – Walter Kaiser aus Zürich –, der später auch Weltmeister wurde. Er hat mich motiviert, Turnier zu tanzen. Nach einiger Zeit habe ich dann die Schweiz an internationalen Turnieren vertreten. 

Und während des Architekturstudiums in München haben Sie das Tanzen weiterhin als Hobby betrieben?
R. S.:
 Ursprünglich hatte ich vor, mir das Studium als Tanzlehrer zu finanzieren. Ich bin daher nach London gegangen und habe dort die unterste Tanzlehrerprüfung gemacht. Im ersten Semester meines Studiums in München schnitt ich aber so gut ab, dass ich ein Stipendium bekam. Daher habe ich dann nicht als Tanzlehrer gearbeitet, sondern weiter parallel zum Studium als Amateur Turnier getanzt.  

Sie haben nach dem Studium auch noch einige Jahre als Architekt gearbeitet.
R. S.:
 Ja, zuerst ein Jahr in Deutschland, dann einige Jahre in Südafrika, in Johannesburg. Als meine Frau unser erstes Kind bekam, kehrten wir zurück nach Zürich. 

Und dort machten Sie dann Ihr Hobby zum Beruf, während das Bauen umgekehrt eher zum Hobby wurde. Warum?
R. S.:
 Ich habe bei meiner Rückkehr nach Zürich 1973 zunächst eine Stelle als Architekt angenommen. Als im gleichen Jahr aber der Nahostkrieg ausbrach, war innerhalb kürzester Zeit der Baumarkt im Keller. Da ich damals noch einen deutschen Pass hatte, war klar, dass ich auf dem Baumarkt keine Chance mehr haben würde, wenn meine Stelle nach Projektende ausläuft. Eine Option war, zurück nach Südafrika oder nach Deutschland zu gehen. Ich wollte mit meiner Familie aber dann doch lieber in Zürich bleiben und habe dafür den Beruf gewechselt und begonnen, als Tanzlehrer zu arbeiten. Der Übergang war fliessend. Schon während der zwei Jahre, in denen ich noch meine Anstellung als Architekt hatte, habe ich angefangen, einige Tanzclubs zu trainieren, und auch verschiedene Tanzclubs neu gegründet.  

Wann begann Ihre Passion für den Tango?
R. S.:
 Das war in den 1960er-, 1970er-Jahren, als bei den Orchestern die Synthesizer aufkamen. Diese Musik fand ich so trostlos, dass ich angefangen habe, nach alter Musik zu suchen. Dabei bin ich unter anderem auf die südamerikanische Musik gestossen. Total fasziniert hat mich vor allem eine Platte mit dem Titel «Tango project». Aber diese Musik war für mich am Anfang nicht tanzbar. Denn von den europäischen Tänzen her war ich an einen strikten Rhythmus gewöhnt. Die typische Tangomusik hat jedoch Temposchwankungen und wechselt zwischen Passagen, in denen die Melodie dominiert, und Passagen mit starkem Rhythmus. Als Tanzpaar wechselt man entsprechend zwischen lyrischem und rhythmischem Tanzen. 

Wo haben Sie das dann gelernt?
R. S.:
 Ich bin den argentinischen Schautänzern in Europa nachgereist und habe in Berlin bei zwei von ihnen das Tangotanzen gelernt. Später war ich zweimal in Buenos Aires und habe bei den einheimischen Lehrern intensiv Unterricht genommen. 

Ihre beiden Berufe – Architekt und Tanzlehrer – scheinen zwei völlig verschiedene Tätigkeiten zu sein. Ist das so, oder gibt es Berührungspunkte?
R. S.:
 Ich habe beim Tanzen ganz klar von meiner Ausbildung als Architekt profitiert. Schautanz ist, wie Architektur auch, ein Gestaltungsprozess. Und als Führender im Paartanz muss man auch sehr analytisch denken, wenn man etwas Neues lernt, das man noch nicht automatisiert hat.  

Können Sie das erläutern?
R. S.:
 Paartanz ist nichts anderes als ein biomechanischer Prozess – man muss Geschwindigkeiten und Drehungen erzeugen und arbeitet mit der eigenen Schwerkraft, indem man den Körper zum Beispiel beim Langsamen Walzer hebt und senkt. Auf diese Weise kann man Beschleunigungen und Verlangsamungen erzeugen. Das ist wie bei einem Ball: Wenn er nach oben fliegt, wird er langsamer, wenn wieder nach unten fällt, beschleunigt er. Da sind mir die Kenntnisse von der Statik und von der Mechanik natürlich von Nutzen gewesen.

Das heisst, der erste Prozess beim Einstudieren eines Tanzes ist, dass man sich diese Abläufe bewusst macht.
R. S.:
 Ja, man kann den Lernprozess beim Tanzen durch analytisches Denken enorm beschleunigen.  

Sie unterrichten bis heute als Tanzlehrer, sowohl Tango als auch Standardtanz. Ist das eine Passion und das andere Brotberuf?
R. S.:
 Das kann man so sagen, wobei ich die europäischen Tänze auch gern mag. Sie werden nur meiner Ansicht nach falsch gepflegt. Sie sind zum reinen Wettkampfsport geworden und für den Normalbürger gar nicht mehr interessant. Man müsste das wieder mehr zum persönlichen Genuss pflegen. Ich kenne das von London her, wo jeden Sonntagnachmittag in schönen grossen Tanzhallen ein Orchester spielte. Man ist alleine hingegangen und hat dann mit verschiedenen Partnern getanzt. Das war schön, aber das gibt es heute leider nur noch im Tango und im Salsa. 

Anmerkung

  1. www.rolf-schneider.ch
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