St. Gal­len holt die Na­tur in die Stadt zu­rück

Die Köpfe hinter der Studie «Grünes Gallustal» haben eine Vision: St. Gallen als durchgrünte, kühle und biodiverse Stadt. Zusammen mit der Zivilgesellschaft wollen sie die Ökoflächen der Stadt verdreifachen und sehen Potenzial für 58'000 neue Bäume. Damit mischen sie sich in die Politik ein, denn in der Gallusstadt wird derzeit die Bau- und Zonenordnung revidiert.

Publikationsdatum
09-08-2023

Grüne Freiflächen, bepflanzte Fassaden und Dächer sowie begrünte Strassenräume mit klimaresistenten Bäumen und Sträuchern, die die Folgen der Klimaerwärmung mildern. Diese Vision gärte schon lange in den Köpfen von GSI Architekten aus St. Gallen, besonders bei Regula Geisser, der treibenden Kraft hinter der Vision «Grünes Gallustal». Während der Pandemie nahm ihre Idee Gestalt an: Die Vision «Grünes Gallustal» dient heute als Grundlage, um strategische Akzente mit möglichst umweltrelevanter und stadträumlicher Wirkung zu setzen. Potenziale und Massnahmen werden ermittelt, um mit einem Konzept Grünräume in der Stadt flächendeckend auszubauen und untereinander zu vernetzen. Nach dem Motto «Bestehendes nutzen und aktivieren» wurden die zahlreichen bereits existierenden Grundlagen zusammengeführt und so miteinander verknüpft, dass der Vollzug im Planungs- und Bauprozess sowie im Unterhalt beschleunigt und optimiert wird.

Unter dem Titel «Grünes Gallustal» entwickelten GSI Architekten auf Grundlage des städtischen Richtplans den Grünplan 2030, der einen möglichen Zielzustand bei Ausschöpfung aller Potenziale und Umsetzung aller Massnahmen darstellt. Unter der Trägerschaft des WWF, der Naturschutzverbände der Stadt St. Gallen und dem Heimatschutz erarbeitete ein Expertenteam 14 übergeordnete Massnahmen für eine grüne und lebenswerte Stadt St. Gallen. Sie sind aufgeteilt in Themenbereiche wie Wasser, Landschaft, Kühlung sowie Lebensqualität, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Massnahmen sind rechtlich umsetzbar, bedingen aber punktuell Anpassungen bei der Revision der Bau- und Zonenordnung, die bereits in Vorbereitung ist und bis 2027 umgesetzt sein muss.

Über 60 Möglichkeiten visualisiert

St. Gallen hat in den letzten Jahren mehr als die Hälfte der Ökoflächen eingebüsst. Die Stadt verfügt heute lediglich noch über elf Prozent wertvolle Naturflächen. Diese könnten auf 36 Prozent wachsen, wie vom Bearbeitungsteam ermittelt wurde. «Damit unsere Stadt in einigen Jahrzehnten klimatauglich sein kann, müssen die gesetzlichen Grundlagen aber jetzt geschaffen werden», sagt Mathias Inhelder, Mitinhaber von GSI Architekten und Mitverfasser der Vision «Grünes Gallustal».

Um die Zivilgesellschaft sowie Politiker bildhaft zum Umgestalten ihrer Stadt zu bewegen, haben die Verfasser der Vision einen Grossteil ihrer Konzepte visuell in Bild und Film umgesetzt, sodass die gesamte Bevölkerung mitdiskutieren kann. Die Visualisierungen zeigen potenzielle Flächen im jetzigen Zustand – die oft von Beton und grauen Asphaltwüsten geprägt sind – und wie sie als wertvolle, kühlende Grünräume aussehen könnten. Weil der Verdichtungsdruck nicht allzu hoch ist, verfügt St. Gallen über viele unternutzte Potenzialstandorte. Dies können Abschnitte entlang von Strassen, asphaltierte Plätze oder Flachdächer sein. Diese Standorte gilt es frühzeitig zu erkennen, zu schützen und die richtigen Weichen zu stellen.

Am meisten Potenzial sieht Mathias Inhelder im Konzept der «Gartenstadt», das auch die öffentlichen Stadträume sowie die umliegenden Flächen der Stadt umfasst: «Rund ein Drittel des Ökopotenzials liegt aber in den Privatgärten. Auch Strassen bergen enormes Aufwertungspotenzial, beispielsweise mit grünen Multifunktionsstreifen», erläutert er. Die Vision Grünes Gallustal strebt an, die Zahl der Bäume von den aktuellen 27’000 auf 85’000 zu erhöhen. Damit würde der Baumdeckungsgrad von 11 % auf 25 % steigen und ganz nebenbei die CO₂-Bindung um den Faktor 2.1 von 2'837 Tonnen CO2/a auf 5'973 Tonnen CO2/a anheben. Würden alle Massnahmen umgesetzt, könnten die heutigen 500 Freiräume auf 1300 anwachsen und die Versiegelung von aktuell 53 % auf 33 % minimiert werden.

Neues Standbein für Architekturbüro

Mathias Inhelder bedauert, dass seit Vorstellung der Studie «Grünes Gallustal» im Frühjahr 2022 in der Innenstadt noch wenig passiert sei, während in den Privatgärten schon viele Flächen biodivers umgestaltet wurden: «Ein grüner Ring um die Altstadt hätte grosses Potenzial. Er würde die Aufenthaltsqualität fördern und die Stadt touristisch weiterbringen.» Zahlreiche Projekte, die das Team für die Vision erarbeitete, werden heute weitergeplant oder sind bereits umgesetzt.

«Die Lawine rollte an, aber wir stecken noch in den Kinderschuhen. Neben Leidenschaft stecken wir viel ehrenamtliches Engagement in diese Arbeit», sagt Inhelder. Die Spezialisierung des Architekturbüros auf eine klimafreundliche und biodiverse Stadt der Zukunft dient aber auch als neues Standbein und bringt regelmässige Anfragen und Aufträge von Behörden, Investoren, Institutionen und Privatpersonen.

Anerkennungspreis der Binding-Stiftung für Biodiversität

Auch die Stadt St. Gallen hat erste Schritte getätigt: Als Leuchtturmprojekt gilt das Burgweiher-Areal, das die Stadt 2019 erworben hat und zu einem naturnahen Erholungsraum für die Natur und Bevölkerung aufwertete. Viel Freude bereitet Mathias Inhelder das Pilotprojekt Areal Bach. Dort wurde eine unbenutzte Kies- und Asphaltfläche beim Bahnhof St. Fiden zu einem lebenswerten Areal voller einheimischen Pflanzen und einem Quartiertreffpunkt mit einem gastronomischen Angebot sowie diversen Veranstaltungen. «Für diese Aufwertung erhalten wir den diesjährigen Binding Anerkennungspreis für Biodiversität», freut sich Inhelder.

Das Areal zeigt einen Weg auf, wie die Vision «Grünes Gallustal» Realität werden kann. Lanciert wurde das Projekt 2019 vom Quartierverein Nordost-Heiligkreuz in enger Zusammenarbeit mit der Stadt St. Gallen und GSI Architekten. Sponsoren, Stiftungen, Firmen und Privatpersonen steuerten Beiträge bei, um die Zwischennutzung zu ermöglichen. Die Stadt St. Gallen als Grundstückbesitzerin zeigte sich offen für die Visionen und unterstützte das Projekt. So konnte im Herbst 2020 mit der ersten Pflanzung von 150 Bäumen und Sträuchern begonnen werden. Jetzt, drei Jahre später präsentiert sich eine üppige Vielfalt, die zum Entdecken einlädt.

Vision soll von unten nach oben wirken

Die Umsetzung sämtlicher Massnahmen der Vision «Grünes Gallustal» würde schätzungsweise um die zwei Milliarden Franken kosten. Die Realisierung der Vision ist aber als Generationenaufgabe zu verstehen, deren Finanzierung zwar anspruchsvoll, aber lösbar sei: mit Bundes- und Kantonsbeiträgen, Mehrwertabgaben auf Ein-, Um- und Aufzonungen sowie Beiträgen von Bauherrschaften, die die Natur beeinträchtigen.

«Nicht zu vergessen ist, dass ein Grossteil der Arbeit ehrenamtlich geleistet wird. Viele Privatpersonen versehen ihre Gärten neu mit Wildblumenwiesen, Vereine helfen beim Pflanzen. Auch unser Team ist schon mehrmals am Wochenende ausgerückt, etwa um Hopfen zu pflanzen oder Ruderalflächen und Wildblumeninseln anzulegen», sagt der Architekt. Und so soll die Vision «Grünes Gallustal» auch langfristig funktionieren: als Bottom-Up-Projekt, lanciert von der Zivilgesellschaft in Zusammenarbeit mit Politik und Ämtern.

Weitere Informationen:
gruenesgallustal.ch

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