Haus­wän­de oder Alp­wei­den?

Die Energie der Zukunft sei klimaneutral, bezahlbar und jederzeit verfügbar, sagt die Politik. Wie die Solarstromproduktion solchen Ansprüchen gerecht werden kann, ist Thema der aktuellen Debatte. Für den Gebäude­sektor zeichnet sich bereits ab: Das solare Bauen benötigt dafür vor allem lokales Speichervolumen.

Publikationsdatum
10-03-2023

Schweizer Idylle im Jahr 2050: Auf Gebirgswanderungen fallen schimmernde Bänder auf, die nicht mit Lawinenverbauungen zu verwechseln sind. Etwa über dem Sa­flisch­tal: Den Bergrücken zwischen Binn und Sim­plonpass überzieht ein mehrere Quadratkilometer grosses Photovoltaikfeld. Die Anlage liefert eine Terrawattstunde Strom pro Jahr, ein Zehntel des vor wenigen Jahren stillgelegten AKW Leibstadt. Der zweitgrösste hochalpine Solarpark der Schweiz liegt ebenfalls im Oberwallis: 30000 PV-Module auf Alpweiden oberhalb von Gondo verteilt, erzeugen ganzjährig Strom für rund 5000 Haushalte.

Kurze Rückblende: Anfang der 2020er-Jahre, also in der Generation zuvor, ergriff eine «Goldgräberstimmung» die Solarbranche. Zwei Dutzend Standorte im Alpenbogen waren im Gespräch, um möglichst ­dauerhaft und oberhalb der Nebelgrenze Strom zu generieren. Effektiv bewilligt und realisiert wurden nicht alle Pläne; den Vorzug erhielten Vorhaben mit guter Anbindung an das inländische Stromnetz. So sind inzwischen fast alle Dämme der Berner, Glarner und Bündner Stauseen mit Solarpanels bestückt. Das ursprünglich abgeschätzte Ertragspotenzial von 5 TWh wird nicht ganz erreicht. Die Wahl der Ausbaustand­orte aber hilft: Hochgelegene Solaranlagen versorgen die Schweiz nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter fast konstant und kontinuierlich mit Strom. Wie von ETH-Experten prognostiziert ist die Versorgungs­sicherheit besser geworden: Der Importbedarf halbierte sich im Winterhalbjahr 2049/50 verglichen mit früheren Jahrzehnten.

In die Siedlung eingebettete Photovoltaik

Wir bleiben in der Zukunft, aber spazieren nun durch längst überbaute Täler: Auch hier nahm die PV-Fläche beträchtlich zu, obwohl sie als solche kaum erkennbar ist. Drei von vier Häusern mit gestalterisch und konstruktiv gut eingebetteten Solardächern und -fassaden versorgen jede Siedlung, vom kleinen Dorf bis zum Ballungsraum, mit sehr viel eigenem Strom. Der Gesamt­ertrag aller Solarsiedlungen zusammen ist sogar zehnmal grösser als derjenige alpiner Anlagen. Die frühere Schätzung des Bundesamts für Energie, etwa die Hälfte des Inlandbedarfs mit Solarenergie zu decken, wird knapp verfehlt. Allerdings stieg der Winteranteil beträchtlich: Solarfassaden mit Südausrichtung erzeugen Strom fast unabhängig von Jahres- und Tageszeiten.

Lesen Sie auch: «Haus mit Winterfassaden» – Kraft der Sonne reicht für Strom- und Wärmeversorgung eines Wohnhauses

Unüberbrückbar ist jedoch der Tag-Nacht-Rhyth­mus für die dezentrale Solarstromproduktion. Kleine oder grosse Batterien müssen das Minus nach Sonnenuntergang ausgleichen; nur ihnen ist zu verdanken, dass die Belastung der lokalen Verteilnetze nicht zu stark steigt. Fast jedes Wohnhaus, das selbst Solarstrom erzeugt, ist inzwischen mit Speichern bestückt. So steigt der Eigenversorgungsgrad: Kann in einem Wohnhaus in der Regel nur ein Drittel des Eigenertrags zeitgleich selbst konsumiert werden, erhöhen Batterien und Wärmetanks den Konsum auf über 60% des Strom­ertrags – zeitgleich oder Stunden bis Tage später. Die Mitnahmeeffekte sind beträchtlich: Die individuelle Emissionsbilanz verbessert sich und die allgemeine Versorgungssicherheit steigt.

Wir lassen in unserer Zeitreise ins Jahr 2050 offen, ob die Ziele der nationalen Energiestrategie voll­umfänglich erfüllt sind. Viel wichtiger ist, dass die Weichen dafür 30 Jahre zuvor richtig gestellt werden. Wir sind zurück in der Gegenwart: der Schweiz von heute.

Wer liefert Strom im Winter?

Was Sie hier lesen, ist weder ein Aufruf zur Verschandelung von empfindlichen Landschaften noch zur Bevorzugung von Solarparks vor Windturbinen. Vielmehr handelt es sich bei den Beschreibungen um eine Synthese der neuesten Befunde. Um die Winterlücke zu schliessen, «benötigen wir PV in den Alpen und an Fassaden», rät Marius Schwarz vom Energy Science Center der ETH Zürich. Und Solarfachplaner Christian Renken empfiehlt, eine PV-Integration in die Gebäudearchitektur. «Die Erträge von Dach und Fassaden ergänzen sich im Tages- und Jahresverlauf ideal.»

Eine kleine Sammlung von aktualisierten Energie­prognosen finden Sie hier.

In den letzten Monaten haben Behörden, Vertreterinnen der Energiebranche und Wissenschafter einige Prognosen für das Energiesystem der Zukunft aktualisiert. Für alle, die sich an der Diskussion beteiligen, darunter das Bundesamt für Energie, der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) oder Expertinnen und Experten der ETH Zürich, EPF Lau­sanne, Universität Luzern oder Empa Dübendorf, exi­stiert diese grosse Sorge: Wie lässt sich die inländische Energieversorgung klimaneutral, sicher und möglichst ohne Winterimporte organisieren? Auf lange Sicht gibt es sogar eine konsensfähige Antwort: Die Schweiz muss ein Strom- und Sonnenland werden, um fossile Brenn- und Treibstoffe zu ersetzen. Auf der Strasse löst das Elektroauto den «Benziner» ab. Und im Gebäudebereich ist die Wärmepumpe jetzt schon die erste Ersatzvariante für alte Öl- und Gasheizungen. Der Durchbruch des elektrischen Antriebs benötigt jedoch weitere Energiequellen: «Zur Bereitstellung von Raumwärme steigt der inländische Strombedarf im Vergleich zu heute um 12%», rechnen ETH-Forschende im Auftrag des Bundes vor. Die doppel­te Zunahme provoziere den Elektro­mobilitätsausbau.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 7/2023 «Energiewende am Kipppunkt».

Am 21. April 2023 findet ein Webinar zum Merkblatt SIA 2061 Batteriespeichersysteme in Gebäuden statt; Informationen auf www.sia.ch > inForm

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