Der Ent­wurf als of­fe­nes Sys­tem

Leben und Beruf als ein offener Raum mit fliessenden Umrissen – so könnte man das Motto von Eleonore Peduzzi Riva umschreiben. Zielgerichtete Kreativität ebnete den Weg der in Mailand tätigen Basler Innenarchitektin und Produkt­gestalterin. Im Juni wurde Eleonore Peduzzi Riva mit dem Schweizer Grand Prix Design 2023 geehrt.

Publikationsdatum
22-09-2023

Eine wie keine: Gleich einer Glaskugel mit Einbuchtung lässt sich die Tischlampe Vacuna mit beiden Händen umfassen und die Neigung des Lichtstrahls verstellen. 1966 gestaltete Eleonore Peduzzi Riva die Lampe aus Muranoglas für den Mailänder Leuchtenhersteller Artemide. Im Wohnhaus der Desi­­gne­rin in Riehen sticht die Vacuna sofort ins Auge. Selbst wenn die kugelförmige Tischlampe ausgeschaltet ist, schimmert das weiss getönte Glas und wirft sozusagen ein Licht zurück auf die 1960er-Jahre.

Peduzzi Riva schildert den Werdegang ihrer Entwurfsidee so anschaulich und lebendig, als wäre es gestern gewesen. Den Vacuna-Prototyp aus hitzebeständigem Glas kreierte sie als Beitrag für eine Ausstellung in der legendären Kunstgalerie Galleria Milano. Dort entdeckte Ernesto Gismondi, der Gründer des Leuchten­herstellers Artemide, das Pyrex-Unikat. Er sagte voraus, dass die Leuchte, wäre sie aus mund­geblasenem Mu­­rano­glas, viel Anklang finden würde. Tatsächlich ver­wandelten Glasbläser der traditions­reichen Vetreria Vistosi in Mogliano die Entwurfsidee in «Bel Design» aus Muranoglas. Die Leuchte gilt heute als Design­klassiker.

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Alle Schritte des Glasmachens seien hochspannend, sagt Eleonore Peduzzi Riva. Sowohl der künstlerische als auch der technische Aspekt des Glasmachens in der Manufaktur Vistosi hätten sie damals in ihren Bann geschlagen. Vor allem die Verwandlung des flüssigen Glastropfens über die Glasblase in die feste Form sei grosse Handwerkskunst. Die von Peduzzi Riva entworfene Glasschale «Bola» war für das italienische Design jener Zeit so charakteristisch, dass sie 1972 in der legendären Ausstellung italienischen Designs «Italy: The New Domestic Landscape» im Museum of Modern Art in New York gezeigt wurde. Weitere in den 1960er-Jahren kreierte Glasschalen in Peduzzi Rivas Haus in Riehen zeugen noch heute von der Faszination der Designerin für Muranoglas.

Bauhaus-Mentalität in Mailand

Eigenständigkeit, Experimente mit Materialien und Formgestalt charakterisieren ihre schöpferische Arbeit, ebenso eine autobiografische Komponente. Eleonore Peduzzi Riva spricht von ihrer bleibenden «Bauhaus-­Mentalität». Kurse, die sie als Gasthörerin am Mai­länder Polytechnikum belegte, aber vor allem ihre Ausbildung an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel, Fachklasse Innenausbau bei Paul Artaria (1892–1959), festigten diesen Gestaltungsansatz und schärften ihr Auge. Mutig war sie auch: Nach nur zwei Semestern an der Basler Gewerbeschule zog sie nach Mailand, damals ein an­gesagtes Zentrum für neue Architektur und Design. Sie wollte ihren Eltern beweisen, dass es ihr mit dem Berufsziel, kreativ-gestalterisch tätig zu werden, ernst war. Denn diese hatten sich für die Tochter eigentlich einen anderen Weg gewünscht: Wie schon der Vater sollte sie Jura studieren.

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Der Zugang zum regulären Architekturstudium am Mailänder Polytechnikum blieb Peduzzi Riva jedoch verwehrt. Sie kehrte nach Basel zurück, um dort ihre Ausbildung abzuschliessen. Anschliessend zog sie wieder nach Mailand – diesmal, um zu bleiben. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Bauingenieur Sandro Riva, eröffnete sie dort Anfang der 1960er-Jahre das «Studio Riva», ein Architekturbüro. Die Arbeitsteilung war klassisch: Er entwarf Industriebauten, sie Wohnungsumbauten und Privathäuser.

Sehr gerne hätte sie bereits zuvor – während ihrer ersten Zeit in Mailand – berufliche Erfahrung gesammelt, so im Studio des Architekten, Designers und Herausgebers der Zeitschrift Domus, Gio Ponti (1891–1979). Doch der Plan scheiterte, da Ponti von Praktikantinnen und Praktikanten ein monatliches Lehrgeld verlangte. Doch als Gasthörerin seiner Vorlesungen am Polytechnikum erhielt sie Einblicke in den nach Leichtigkeit und bellezza strebenden Entwurfsansatz der Leitfigur der Nachkriegsmoderne.

Autobiografisches Design

Ein Beispiel für den spielerischen Ansatz und die Offenheit der Designerin gegenüber Materialien ist der Aschenbecher Spiros (1967). Augenfällig ist seine spiralförmige Vertiefung. Die künstlerisch anmutende Spiros-Grundform mit schwarzer Kugel entstand per Zufall in Carrara, erzählt die Designerin. Dorthin hatte sie ihren damaligen Ehemann und Büropartner begleitet. In Carrara entstand nach dessen Plänen ein neues Gebäude der lokalen Marmorindustrie. Der Eigentümer der Firma hatte ein Problem mit einem Konzept für eine anstehende Ausstellung, bei dem ihm Peduzzi Riva weiterhelfen konnte. Als Honorar bot er ihr einen Geldbetrag, was sie ablehnte. Ersatzweise schlug er vor, einen ihrer Designentwürfe in Marmor zu fertigen – Spiros war geboren. Da Marmor jedoch Nikotin absorbiert, ging der Aschenbecher schliesslich in mehreren Farben aus Melamin für Artemide in Serie.

Aus Holz und Leichtmetall-Profilen hingegen war Peduzzi Rivas erstes Industriedesignprojekt. 1959 entwarf sie das modulare Büromöbel-System LL-­Mobili in Lega Leggera für die Mailänder Büroräume des Schweizer Musikproduzenten Walter Guertler, der unter anderem mit Adriano Celentano zusammen­arbeitete. Das Konstruktionssystem basiert auf einem einzigen Aluminiumprofil, dank dem die wesentlichen Möbeltypen zusammengestellt und einfach montiert und demontiert werden können. Gio Ponti lobte das System für seine klare Konstruktion, Reduziertheit und Flexibilität und veröffentlichte es in seiner Zeitschrift Domus. Die Möbelfirma Cassina, die zusammen mit Bernini das System in der Produktion entwickelte, nahm es in ihren Katalog auf.

Auch Laminate und Textiles wie verschiedene Teppichentwürfe zählten zu Peduzzi Rivas Entwurfsprogramm. Sie dachte intuitiv vom Kind aus, als sie 1960 für ihren Sohn ein Babybett entwarf und die harten hölzernen Gitterstäbe durch Stoff ersetzte. «Wenn ich etwas brauchte, habe ich dafür ein Objekt gestaltet», sagt sie. Das eigene Verlangen nach einer neuen Ästhetik, die Problemlösungen für viele Menschen bot, gab den Anstoss, eine originelle, moderne Formensprache zu entwickeln.

Über die Disziplinen hinweg

Diese Innovationsfreude sprang über auf die Werkstätten der Hersteller, die zügig Prototypen fertigten. Zeit kostete nichts, nur Material war teuer, erzählt Peduzzi Riva. Heute sei dies umgekehrt. In jener Zeit bestimmten informelle Strukturen und eine interdisziplinäre Praxis die Mailänder Kreativszene. Offizielle Studiengänge einer Designausbildung gab es dort in den 1960er-Jahren noch nicht. Triebkraft war die Sehnsucht nach Schönheit, Leichtigkeit und einem modernen ­Lebensstil, der die urbane und häusliche Welt der ­ grauen Industriestadt Mailand zum Besseren ver­änderte. Junge Designfirmen wie Artemide, Cassina, de Padova, Kartell oder Zanotta entwickelten sich zu Schaltstellen des Wandels.

Den Takt gaben visionäre Mailänder Architek­tinnen und Architekten vor, die bahnbrechendes Pro­dukt­design entwarfen, so etwa Gae Aulenti (1927–2012), die Architektin und Designerin Cini Boeri (1924–2020) oder Anna Castelli Ferrieri (1918–2006), Architektin und Chefdesignerin der Firma Kartell. Sie schoben den ­Höhenflug von ästhetischem Stil made in Milano an und lockten auch Kreative aus der nahen Schweiz in die lombardische Hauptstadt, etwa die Grafikerin Lora Lamm (*1928), die für Pirelli und das Mailänder Kaufhaus Rinascente arbeitete, oder Max Huber (1919–1992), der sich schon in den 1940er-Jahren für Mailand als Tätigkeitsfeld entschieden hatte.

Die konstruktive, pragmatische Praxis von Architektinnen und Architekten schlug sich in deren Gestaltungsansatz für Gebrauchsobjekte nieder. Der Architekt und Industriedesigner Achille Castiglioni formulierte treffend: «La forma, che bella funzione!»

Gewohnheiten auf den Kopf stellen

Auch Eleonore Peduzzi Riva beliess nichts beim Alten, wobei es ihr immer, wie sie betont, um den Grundriss ging und geht, denn dieser bestimme das Wohngefühl nachhaltig. Schon als Kind habe sie in den Urlaubs­wochen in den Bündner Bergen mit Wurzelwerk gespielt und Umrisse von Raum gelegt, erzählt sie. Als junge Innenarchitektin hingegen entwarf sie in den 1960er-­Jahren eine Feriensiedlung auf der sardischen Insel Sant’Antioco und Häuser an der ligurischen Küste, darunter ein Haus in Arenzano. Nahe dem Ort entstand damals nach dem Masterplan von Ignazio Gardella und Marco Zanuso ein Experimentierfeld für die Verbindung von Architektur und Küstenlandschaft.

In Mailand erhielt Eleonore Peduzzi Riva Anfang der 1960er-Jahre den Auftrag, in der noblen Via della Spiga eine Wohnung neu einzurichten. Traditionell liegen hier Wohnraum und Esszimmer längs zur Strasse, Küche und Sanitärräume dagegen im rückwärtigen Teil der Wohnung. Peduzzi Riva wollte das Raumgefühl von Grund auf verändern, was bedeutete, die bestehende Raumaufteilung radikal infrage zu stellen. Also kehrte sie die übliche Lage der Zimmer um und verlegte den Wohnbereich zur Hof- und Gartenseite hin. Der Mieter war glücklich, erinnert sich Eleonore Peduzzi Riva, und die Wohnungseigentümerin überaus dankbar. Etliche Mailänder Wohnungen gestaltete Eleonore Peduzzi Riva auf diese Weise neu. Probleme, gar Nachteile, als Frau auf der Drehscheibe der Kreativszene tätig zu sein, habe sie keine gehabt. Im Gegenteil: Vor allem die Nachfrage nach Möbeldesign zog an. Denn die 1961 gegründete Messe Salone del Mobile lebte, und lebt nach wie vor, vom Nachschub an novità.

Von Senzafine zum Tatzelwurm

Das von Peduzzi Riva 1968 für Zanotta entworfene Sitzmöbel Senzafine aus Fiberglaselementen zählte seinerzeit zu diesen Neuheiten. Der Name kommuniziert ­Anspruch und Programm, Möbeldesign als Element und Baustein eines Systems mit zahlreichen Varia­tions­möglichkeiten zu projektieren. Senzafine entpuppt sich als Vorwegnahme des variablen Polstermodulsystems DS-600, das Eleonore Peduzzi Riva 1972 mit Ueli Berger, Heinz Ulrich und Klaus Vogt für de Sede entwarf.

Der damalige Designberater für de Sede, Alfred Hablützel, wollte das konventionelle Möbelprogramm des Herstellers neu aufstellen, mit Objekten, die die funktionalen und ästhetischen Normen des bürger­lichen Wohnens infrage stellten. Er fragte die vier Designerinnen und Designer jeweils separat an, ob sie Vorschläge für eine neue Kollektion entwickeln könnten. Als die vier ihre Entwürfe präsentierten, stellte sich heraus, dass sie Ähnliches im Sinn hatten. So schlossen sie sich für dieses Projekt zu einem Kollektiv zusammen und bauten und experimentierten ein Jahr lang. 1972 brachte de Sede das modulare Sitzmöbel DS-600 auf den Markt. Es besteht aus einzelnen abgerundeten, mit Daunen gefütterten und mit Leder überzogenen Sessel­elementen, die durch Steckscharniere und eine schwimm­hautartige Konstruktion aus Leder und Reiss­verschlüssen miteinander verbunden werden. So kann das Möbel nicht nur übereck führen und sich an unterschiedliche Raumbedingungen anpassen, sondern auch bis ins Unendliche verlängert werden. Der «Tatzelwurm» wurde zum Kultobjekt und ist wohl Peduzzi Rivas bekanntester Möbelentwurf – auch wenn ihr Name im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen oft vergessen ging.

Das liegt – gemäss eigener Aussage – auch an ihrer Art zu entwerfen: «Ein Produkt kann nur aus der Zusammenarbeit vieler verschiedener Know-hows entstehen», hält sie fest und stellt damit die Beziehungen über den Ausdruck des Einzelnen oder die wieder­erkennbare Geste eines Autors oder einer Autorin. So ist Peduzzi Riva zu einem Ansatz gelangt, der den ­Entwurf als ein offenes System versteht. Sie will koordinieren, herausfordern, neue Dynamiken auslösen, Teamarbeit fördern: Im Allgemeinen interessiert sie sich mehr für das gemeinsame Erarbeiten als für die Gestaltung einer endgültigen Form.

Späte Ehrung und Zukunftspläne

Die Verleihung des Schweizer Grand Prix Design 2023 stellte Peduzzi Riva und ihre jahrzehntelange Tätigkeit für die Gestaltung nun wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit und würdigt damit auch ihre Rolle als Beraterin namhafter Möbelhersteller, auf die sie sich in den 1980er- und 1990er-Jahren konzentrierte. Bis heute hat Eleonore Peduzzi Riva ihr Studio in Mailand behalten, ebenso ihr dortiges Archiv, dessen Zukunft jedoch ungewiss ist. Bei weitem nicht nur diese offene Frage führt sie regelmässig nach Mailand. In ihrem Haus in Riehen fühle sie sich wie in den Ferien, sagt sie. Doch sichtbar wird, dass die vielseitige Gestalterin auch hier in ihrem Metier ist: Auf ihrem Schreibtisch liegt aktuell eine Anfrage für den Umbau eines Hotels. Solche Aufträge könne sie natürlich nicht mehr durchführen, meint Eleonore Peduzzi Riva. Aber consulenze, fachkundigen Rat, könne sie durchaus noch vermitteln.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 30/2023 «Die Sehnsucht nach dem Objekt».

Ein filmisches Porträt der Designerin ­anlässlich des Grand Prix Design finden Sie hier.

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