Re­ser­ven für ein kon­trol­lier­tes Flu­ten

Schadensbegrenzung

Freihaltezonen, Abfluss- und Hochwasserkorridore mindern oder verhindern die Zunahme des Schadenpotenzials bei Naturgefahren. Wie ist am besten bei der Sicherung solcher Räume vorzugehen?

Publikationsdatum
30-06-2016
Revision
30-06-2016

Gefahrenkarten sind die wichtigste Vorsorge in der Nutzungsplanung, um die bestehende Naturgefahrensituation bei der Entwicklung von Siedlungsgebieten zu entschärfen. Demgegenüber helfen Hochwasserkorridore bei der Schadensbegrenzung von nicht vermeidbaren Hochwasserereignissen. Diese Gebiete liegen jeweils ausserhalb des Gewässerraums und werden so ausgeschieden, dass die Spitzenabflüsse möglichst schadlos durch Kulturland und Siedlungsflächen abgeleitet werden können. Die Wassermassen fliessen durch die Korridore ­kontrolliert in einen See, Fluss oder Rückhalteraum.

Solche Korridore eignen sich daher zum Schutz vor ­häufigen Ereignissen mit geringem Ausmass oder vor seltenen, grös­seren Ereignissen. Besonders zweck­mässig sind sie im Überlastfall (vgl. «Entschärftes ­Risiko auf Nord-­Süd-Achse»). 

Zusätzlicher Vorteil ist, dass die ­Korridore im Gegensatz zu anderen Hoch­wasser­schutzmassnahmen auf kein spezifisches Bemessungsereignis ausgelegt sind, den Ereignisablauf wenig beeinflussen und einem sprunghaften Anstieg der Risiken entgegenwirken. Werden extreme Ereignisse infolge des Klimawandels häufiger, steigt der Nutzen der ­Hochwasserkorridore.

Das Bundesamt für Umwelt hat ein Programm zur Anpassung an den Klimawandel lanciert (vgl. TEC21 11/2014) und dafür das extern bearbeitete Pilotprojekt «Lösungsansätze zur Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore»gefördert. Fünf Praxisbeispiele, vornehmlich in den Kantonen Nidwalden und Thurgau, wurden vertieft untersucht und zusätzliche Workshops mit Fachleuten durchgeführt.

In Zusammenarbeit mit den beteiligten Kantonen und in Begleitung durch die Bundesämter für Raumentwicklung respektive Landwirtschaft ist ein Leitfaden entstanden mit Empfehlungen, wie Hochwasserkorridore zu sichern sind.1

Die wesentlichen Anfangsfragen sind: «Wo sind Hochwasserkorridore auszuscheiden? Wer scheidet die Korridore aus?» Grundsätzlich braucht es Korridore, wo immer grosse Schäden drohen und das Schadenspotenzial zu begrenzen ist. Der Leitfaden empfiehlt den Kantonen und Gemeinden, sich aber zuerst eine übergeordnete Übersicht über die Gefahrenkarten respektive die Intensitäts- und Wassertiefenkarten zu verschaffen.

Eintrag in Richtplan ist anzustreben

Die Auswertung der Praxisbeispiele zeigt, dass Hochwasserkorridore mehrheitlich in raumplanerischen Verfahren gesichert werden sollten. Ebenfalls ein passendes Instrument ist der Wasserbauplan, der in einzelnen Kantonen «Wasserbauprogramm» oder «Ein­zugsgebietsmanagement Fliessgewässer» heisst.

Bei grossen Gewässern kann ein Hochwasserkorridor kantons- oder gemeindeübergreifende Flächen betreffen. Die Ausscheidung ist daher auf Richtplanstufe anzustreben, entweder kantonal oder regional respektive in einem spezifischen Gewässerrichtplan. Dieses Instrument eignet sich etwa, wenn eine gemeinsame Lösung unter mehreren Gemeinden mit jeweils unterschiedlichen Interessen herbeizuführen ist.

Im Grundsatz gilt: Korridore sind entweder als Teil eines Wasserbauprojekts oder in einem ordentlichen Raumplanungsverfahren auszuscheiden. Dabei kann eine sich ergänzende Vorgehensweise in Betracht ge­zogen werden. Sollen die Flächen im Nutzungsplan ­gesichert werden, ist auf einen möglichst frühzeitigen Eintrag zu achten. Anzustreben ist zudem, dass diese raumplanerische Massnahme für Eigentümer verbindlich ist.

Diese Variante hat in den untersuchten Praxisbeispielen an der Engelberger Aa NW und an der Lütschine BE zum Erfolg geführt. Typischerweise im Rahmen von Wasserbauprojekten wird die Funktionstauglichkeit der Korridore abgesichert, namentlich für dazugehörige Auslaufbauwerke und Geländeanpassungen. Unter anderem sind der Unterhalt zu vereinbaren, eine Rodungsbewilligung einzuholen und die Zugänglichkeit abzusichern. 

Grenzen für Nutzung und Bewirtschaftung

Unabhängig vom Verfahren können Korridorflächen durch Landerwerb und -abtausch der öffentlichen Hand, Vereinbarungen oder Dienstbarkeitsverträge gesichert werden. Die Flächensicherung geht oft einher mit Einschränkungen der räumlichen Nutzung (z. B. Freihalten) respektive der Bewirtschaftung von Kulturland (z. B. Geländeanpassungen). Solche Einschränkungen sind allenfalls im Grundbuch festzulegen. Diese Lösungsvarianten bewähren sich auch bei kleinflächigen Hochwasserkorridoren und Rückhalteräumen, wie die Praxis­beispiele aus dem Kanton Thurgau «Romanshorn» und «Bodenfeld Giessen» zeigen.

Zur Flächensicherung genügt es allerdings nicht, nur eine einzige der oben genannten Varianten zu realisieren; vielmehr sind Kombinationen zu prüfen, selbst wenn die Umsetzung mit unterschiedlichen Verfahren herausfordernd wird. Nur wenn die eingeschränkte Korridornutzung rechtlich einer «materiellen Enteignung» entspricht, besteht Anspruch auf Entschädigung. Obwohl die Rechtsgrundlagen relativ eindeutig sind, kann der ­praktische Umgang erschwert sein.

Unter welchen Bedingungen eine materielle Enteignung vorliegt, ist im Leitfaden beschrieben. Bei der Umsetzung drängt sich jedoch eine weitere Frage auf: Wie lassen sich Eigentums­einschränkungen verbindlich regeln?

Allgemeine Standards gesucht

Ein Richtplaneintrag lanciert häufig den Prozess, um geeignete Gebiete raumplanerisch als Hochwasserkorridor zu sichern. Formal sind solche Flächen in einer Karte auszuweisen, zu beschreiben und die Nutzungsgrundsätze zu bestimmen. Letztere formulieren beispielsweise, ob die Bewirtschaftung auf den benötigten Flächen einzuschränken ist oder wie der Umgang mit den Korridoren sonst, in der kommunalen Nutzungsplanung respektive in einem Bau- und Zonenreglement, zu regeln ist.

Gleichzeitig ist zu klären, wie betroffene Eigentümer und Bewirtschafter einbezogen werden. Eine aus den Praxisbeispielen abgeleitete Vermutung ist zudem: Allgemeine Standards und Kriterien könnten die Umsetzung in der Nutzungsplanung vereinfachen. Ist es beispielsweise möglich, einzelne Nutzungs- und Bewirtschaftungseinschränkungen jeweils für bestimmte Hochwasserkorridortypen auszuwählen? Antworten darauf sind zusätzlich zu untersuchen.

Einschränkungen, die in der Nutzungsplanung festgelegt werden, haben jedoch pauschalen Charakter und betreffen alle ausgeschiedenen Flächen gleich. Auf spezifische Gegebenheiten oder die Bedürfnisse einzelner Grundeigentümer kann somit nicht eingegangen werden. Vor allem bei massiver Einschränkung sind Widerstände gegen eine Pauschallösung nicht auszuschliessen. Erhebliche Verzögerungen, erhöhter Aufwand und allenfalls sogar ein Projektstopp sind die möglichen Folgen. Daher kann alternativ auch der privatrechtliche Weg beschritten werden, wenn sich Behörde und Grundeigentümer etwa auf eine Dienstbarkeit oder einen Grundbucheintrag einigen.

Einvernehmliche Lösungen

Besonders relevant für die Akzeptanz ist der Umgang mit steigenden Risiken für Gebäude, deren Umgebung bislang nicht oder unbedeutend gefährdet war und nun einem Hochwasserkorridor zugeordnet wird. Ein solcher Aspekt ist ebenso grundsätzlich zu klären wie ­die Entschädigungsfrage für Schäden und den Auf­wand für die Wiederherstellung nach einem Ereignis.

Alle fünf untersuchten Praxisbeispiele mit Hochwasserkorridoren haben gezeigt: Die Akzeptanz unter Grundeigen­tümern und in der Bevölkerung beeinflusst die Umsetzbarkeit und die langfristige Flächensicherung. Die Akzeptanz hängt deshalb wesentlich davon ab, ­ob eine einvernehmliche Lösung mit den Betroffenen gefunden werden kann. Das gilt auch, wenn Korridorflächen in einer öffentlich-rechtlichen Ver­fügung gesichert werden, etwa über die Nutzungs­planung.

Um die betroffenen Grundeigentümer stärker einzubeziehen und die Akzeptanz zu erhöhen, sind diese daher frühzeitig über die Projektziele und die Planungsschritte zu informieren – an Ver­an­staltungen, mit Visualisierungen, Ortsbegehungen ­oder über die Medien. Auch diese Erkenntnis aus dem Studium der Praxisbeispiele ist wichtig: Die Sicherung der Hochwasserkorridore muss in eine übergeordnete Hochwasserschutzstrategie eingebettet sein und im Planungs- und Umsetzungsprozess kommuniziert werden.

Weiterer Klärungsbedarf 

Wie Flächen für Hochwasserkorridore am einfachsten gesichert werden, versucht der Leitfaden anhand der wichtigsten Praxisschritte zu erklären. Bei der Auswertung der Beispiele sind jedoch weitergehende Fragen aufgetaucht, die in möglichen Folgeabklärungen zu vertiefen sind: Wie ist etwa mit Entschädigungsforderungen von Privateigentümern umzugehen, denen eine wirtschaftlich sinnvolle und hochwertige Nutzung der Flächen verunmöglicht wird? Oder sind Nutzungseinschränkungen in einem Hochwasserkorridor zu erwarten, bei denen Bauland zur Rückzonung empfohlen wird?

Ebenfalls zu konkretisieren wäre, wie das Fluten eines Hochwasserkorridors organisiert wird, weil damit Haftungs- und Entschädigungsfolgen verbunden sind. Denn zum einen kann das Fluten automatisch erfolgen, in dem das Hochwasser abhängig vom Pegel eine Streichwehrkante überströmt; zum anderen kann ein Hochwasserkorridor durch einen manuellen Auslöser geflutet werden.

Bei alldem aber gilt: Hochwasserkorridore sind räumlich so auszuwählen, dass möglichst geringe Schäden entstehen. Sie dienen also jeweils dazu, einen Ausweichpfad für übermässig abfliessendes ­Wasser offenzuhalten und das Ausmass der Unwetterschäden zu mindern.


Anmerkung

1 Lösungsansätze zur Sicherung von Flächen für Hochwasserkorridore, Leitfaden; Bundesamt für Umwelt, Kanton Nidwalden, Kanton Thurgau 2015


Welche Entschädigung?

Das Ausscheiden von Hochwasserkorridoren zieht oft eine Nichteinzonung von Grundstücken nach sich. Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist ein solcher Fall grundsätzlich nicht entschädigungspflichtig. Ob Rückzonungen zu entschädigen sind, hängt unter anderem davon ab, wie wahrscheinlich eine Überbauung realisierbar ist, und soll situativ beurteilt werden.

Werden Nutzungs- oder Bewirtschaftungseinschränkungen als «materielle Enteignung» anerkannt, erhält der Grundeigentümer eine volle Entschädigung. Teilweise sehen kantonale Wasserbauverordnungen vor, auch darüber hinaus eine angemessene Entschädigung für nachweisliche Vermögenseinbussen oder Minderwerte auszurichten.

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