Raum­struk­tur le­sen – Brü­cke ent­wi­ckeln

Passerelle Steigerhubel, Bern; Studienauftrag im selektiven Verfahren

Die Berner Stadtquartiere Weyermannshaus Ost und Steigerhubel erhalten eine neue Wegverbindung als Übergang über das Gleisfeld. Für die Passerelle führten die SBB einen Studienauftrag im selektiven Verfahren durch.

Publikationsdatum
22-04-2021

Wenn die Bahn baut, muss auch die Umgebung nachziehen. 2014 nahm das Schweizer Stimmvolk die Vorlage für die Finanzierung und den Ausbau der Bahninfrastruktur (FABI) an. Damit soll der öffentliche Verkehr durch längere Züge, mehr Doppelstock­wagen und häufigere Verbindungen gestärkt werden. Kurz danach verabschiedete das Parlament den Ausbauschritt 2025 des Strategischen Entwicklungsprogramms Bahnin­frastruktur (STEP). Er umfasst Ausbauten für 6.4 Mrd. Franken und wird parallel zum Programm ZEB (Zukünftige Entwicklung Bahnin­frastruktur) realisiert. Damit sollen Engpässe im Eisenbahnverkehr von SBB und Privatbahnen behoben, Kapazitäten erweitert und der steigenden Verkehrsnachfrage begegnet werden. Es folgen längere Perron- und Gleisanlagen für Fernverkehrs- und S-Bahn-Züge. Exemplarisch für viele Bahnhöfe müssen deswegen auch rund um den Bahnhof Bern bauliche Anpassungen vorgenommen werden.

Das Projekt Leistungssteigerung Bern West sieht für das Gebiet Weyermannshaus Ost / Steigerhubel eine Verbreiterung der Gleis­anlagen in Richtung Norden und eine Entflechtung durch ein neues Unterwerfungsbauwerk (Holligentunnel) vor. Das Unterwerfungsbauwerk verunmöglicht künftig die historisch gewachsene Unterquerung des Gleisfelds; die aktuelle Strassen­verbindung unter den Bahngleisen muss deshalb aufgehoben werden. Als Ersatz soll eine neue Passerelle für den Fuss- und Veloverkehr oberirdisch das gesamte Gleisfeld queren und somit das südlich ge­legene Wohnquartier mit dem ­künftigen Campus der Berner Fachhochschule und der bestehenden Gewerbe­zone verbinden. Die SBB, vertreten durch die Division SBB Infrastruktur in Olten, führten für deren ­Entwicklung einen Studienauftrag im selektiven Verfahren durch. Im Rahmen einer öffentlich ausgeschrie­benen Prä­qualifikation selektionierte das Beurteilungsgremium fünf Planungsteams – zusammengesetzt aus den Disziplinen Bauingenieurwesen (Federführung), Architektur, Landschaftsarchitektur und Lichtplanung – für die Teilnahme am Studienauftrag.

Zwischen Bahnstrasse und Weyermannshaus Ost

Der Planungsperimeter zwischen der Bahnstrasse und den Quartierteilen Weyermannshaus Ost mit dem Areal für den Neubau Campus BFH und dem Anschluss Murten­strasse liegt in einem Gebiet mit sich dynamisch verändernden, voneinander abhängigen stadträum­lichen und verkehrstechnischen Rahmenbedingungen. Als Ausgangs­punkt für die Aussenraumgestaltung Nord dienten zwei unterschiedliche, sich in Entwicklung befindende Aussenraumkonzepte des Neubaus Campus BFH.

Ziel des Verfahrens war es, alle Bereiche im Dialog zwischen dem Beurteilungsgremium und den Teilnehmenden zu prüfen und zu schärfen. Es galt, die Interessen der SBB, der Stadt Bern, des Quartiers sowie der unmittelbaren Nachbarn umfassend wahrzunehmen und zugleich die Möglichkeiten stadträumlicher und freiraumplanerischer Qualitäten auszuschöpfen. Im Vordergrund der Diskussionen standen die Anschlusslösungen und die damit verbundene ideale Linienführung der neuen Gleisquerung unter Berücksichtigung der Abstützpunk­te des Brückentragwerks im Gleisfeld.

Der planerische Gestaltungsspielraum war durchaus breit. Allein der gegebene Freiheitsgrad in der Linienführung der neuen Gleisquerung ermöglichte eine grosse Bandbreite an Projekten. Es gab aber auch verschiedene Wege, mit der neuen Infrastruktur an das Bestehende anzuknüpfen, und die Pla­nenden konnten die vorhandene Raumstruktur unterschiedlich interpretieren und spezifisch darauf reagieren.

Schliesslich lagen vonseiten der fünf Projektteams fünf Linienführungen, fünf Tragsysteme für die Passerelle und fünf Parkgestaltungen vor. Ausserdem diskutierte das Beurteilungsgremium eingehend die verschiedenen Konzept­ansätze im Spannungsfeld «grosse Geste» innerhalb eines übergeordneten Verkehrsnetzes versus «lokale Quar­tierverbindung». Nach intensiver Auseinandersetzung entschied sich die Jury für die schlichte und direkte Quartiersverbindung, die – so der Schlussbericht des Studienauftrags – «mit den beiden Anschlussbauwerken gezielt auf die Umgebung zu reagieren vermag».

Historisch Bewährtes aufgreifen

Das Siegerprojekt «Scursun» überzeugte die Jury mit der gewählten Wegführung und den beiden Anschlussbauwerken. Bei Überführungen wie dieser liegt der planerische Knackpunkt gerade darin, die langen Rampen zur Überwindung des grossen Höhenunterschieds zwischen Strassenniveau und Brücke in den bestehenden und dichten städtischen Kontext einzubetten.

Das Projektteam griff die bestehende städtebauliche Ordnung auf und liess sich auf die historisch gewachsene und vom Gleisfeld geprägte Verkehrsführung ein – ja bestärkte sie sogar, indem es den Ort des Übergangs im Wesentlichen beliess. Der Standort des Bauwerks liegt nach wie vor an der geschichtlich bedingten schmalsten Stelle des Gleisfelds, und die Zugänge sind an den topografisch höchsten Punkten platziert. Somit sind die Passerelle und die Rampen kurz, und die gesamte Verbindung ist verkehrstechnisch effizient.

Aus dem kontextuellen Entwurf ergibt sich auch die asymmetrische Ausgestaltung des Bauwerks. Während die beiden Lift- und Treppenanlagen an beiden Brückenenden gleich gestaltet sind, nehmen die Rampen Bezug auf den unterschiedlichen Kontext beider Quartieranschlüsse. Die Rampenanlage im Norden tangiert das Campusareal nur am Rand. Die Grünflächen bleiben nahezu unverschnitten, die Linienführung erlaubt eine unabhängige, grosszügige Parkgestaltung, und die künftige Stadtbachlandschaft bleibt unangetastet. Im Süden ist die Rampe hingegen den Platzverhältnissen und dem ur­banen Charakter entsprechend eng geschwungen.

Dank diesen unterschiedlich ausgebildeten Rampenbauwerken gelingt es dem Sieger­team, auf beiden Seiten präzise auf den Kontext zu reagieren und trotzdem eine grosse Flexibilität zu bewahren. Das gegenüber der ­bestehenden Unterführung leicht stadtwärts verschobene Ersatzbauwerk ist insgesamt so positioniert, dass bestehende oder künftige Bauten und vor allem Freiräume möglichst uneingeschränkt erhalten bleiben. Das Beurteilungsgremium begrüsst, dass auf diese Weise im Süden ein städtebaulich wichtiger Platz an der Kreuzung entsteht und im Norden ein Infrastrukturbauwerk, das sich harmonisch dem Campuspark unterordnet und die verschiedenen Bewegungsströme ganz selbstverständlich an den richtigen Ort leitet.

Diesbezüglich bemerkenswert ist auch das Projekt «Blossfeldt», das die Rampensituation ebenfalls gekonnt löst. Die gewählte Typologie der Passerellenabgänge als grosse Rampen- und kleine Treppenspiralen macht es gar möglich, auf Lifte zu verzichten. Im Projekt «Zina» wiederum erkennt man deutlich, wie sich die Verfassenden jeweils vertieft mit dem Kontext auseinandersetzten. Auch hier werden die beiden Anknüpfungspunkte des Bauwerks an die verschiedenen Stadtteile unterschiedlich ausgestaltet. Im Süden integriert sich das Passerellenbauwerk stimmig in die begrünte Böschung und generiert einen spannenden Quartiersplatz.

Die Passerelle im Siegerprojekt «Scursun» wird neben ihrer eigentlichen Funktion als Verkehrs­verbindung auch als Bindeglied zwischen den stadträumlich unterschiedlichen Gebieten beidseits des Gleisfelds verstanden und nimmt das Grün der Parkanlage auf die Südseite mit. Bauminseln aus Pappeln sollen entlang der Bahnstrasse für eine Verkehrsberuhigung sorgen. Das transparente Geländer unterstreicht den filigranen Gesamteindruck des Bauwerks mit einer Gesamtlänge von lediglich 330 m – das längste Projekt ist «Shortcut» mit 462 m, kürzer ist nur «Hereinspaziert» mit 300 m.

Schlankes Band

Auch das Tragwerk des Siegerprojekts beeindruckt durch seine Schlankheit (l/h = 45.9), denn die Hauptspannweite von rund 92 m ohne Zwischenabstützungen (das einzige Projekt, das ohne sie auskommt) stellt durchaus eine ausführungstechnische und statische Herausforderung dar (Spannweiten 24.9 m – 91.9 m – 22.1 m). Die Gefahr des Bahnanpralls ist damit gebannt, und der Freiraum im Gleisbereich bleibt für künftige Anpassungen der Gleisanlage begrüssenswert gross. Gleichzeitig wird die Schwingungsanfälligkeit des Brückenüberbaus erhöht, wie das Siegerteam anhand einer detaillierten Schwingungsanalyse aufzeigt. Es können Schwingungsdämpfer im Stahlkasten des Brückenüberbaus angeordnet werden, um durch Menschen und Wind erzeugte Schwingungen zu absorbieren.

Das Bauwerk überspannt das Gleisfeld als unauffälliger und durchlaufender Träger, der durchgehend in Stahl mit einem verschweissten Kastenquerschnitt ­materialisiert und monolithisch konstruiert ist. Die Rampen und die Brückenquerung bilden ein kontinuierliches Band. Die Verfassernden von «Scursun» erläutern: «In dieser statisch schlanken Konstruktion widerspiegelt sich die Kontinuität der Verbindung nicht nur in der Fahrbahn, sondern auch im Tragwerk.»

In den Rampenbereichen, die 8 % im Gefälle liegen, sind die Spannweiten mit bis zu 25 m relativ kurz, so kann der Querschnitt auf eine geringe Stärke von nur 0.6 m reduziert werden. Bei den Rampenfeldern unmittelbar vor den Lift­kernen nimmt die Querschnitts­höhe auf 1 m zu, um in der Folge bis zur Feldmitte der Hauptspannweite auf 2 m anzuwachsen. Die Verfas­senden haben für diesen Zuwachs der Querschnittshöhe eine elegante geometri­sche Lösung genutzt: Die Zunahme ergibt sich aus der unterschiedlichen Krümmung der Unter- und der Oberseite des Trägers; die Unterseite beschreibt einen Kreis, die Oberseite eine Parabel 3. Ordnung mit Scheitelpunkt in Feldmitte.

Auffällig unauffällig

Die an der Hauptspannweite angrenzenden Scheibenstützen übernehmen die Vertikallasten, dienen aber auch der Abtragung von Horizontalkräften und damit auch der Stabilisierung des Brückentragwerks in Längs- und in Querrichtung. Dank dem grossen Vertikalanteil ist die Neigung der Kraftresultierenden am Stützenfuss gering, was die Krafteinleitung in den Baugrund vereinfacht. Die beiden Liftkerne mit den Treppenanlagen sind durch horizontale Bewegungsfugen vom Brückenträger entkoppelt.

Der Brückenoberbau soll auf der Nordseite der Bahngleise segmentweise vormontiert und über das Gleisfeld nach Süden eingeschoben werden; dafür ist eine provisorische Abstützung im Gleisfeld erforderlich. Vorgesehen sind drei Verschubetappen mit Einschublängen von beinahe 70 m. Die Beeinträchtigungen des Bahnbetriebs können durch die gewählte Bauweise minimal gehalten werden, denn die provisorische Abstützung ist lediglich für ein paar Wochen erforderlich, und im Endzustand des Bauwerks können alle Gleise weiter genutzt werden. Der im Gleisfächer stützenfreie Brückenschlag schafft es daher nicht nur, den Baugrund unter dem Gleisfeld freizuspielen, sondern auch den Raum darüber möglichst uneingeschränkt weiter nutzbar zu halten. Das erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit allen projektspezifischen Rahmenbedingungen. Bringt man alle überzeugend zusammen, schafft man den siegreichen Wurf. Und das Siegerprojekt «Scursun» ist wahrlich ein interdiszi­plinär entstandenes Projekt. Hier verflechten sich städtebauliche, architektonische, räumliche und technische, landschaftsarchitektonische sowie verkehrs- und tragwerkspezifische Aspekte zu einem gekonnten und selbstverständlichen Ganzen. Selbstverständlich wohl gerade deshalb, weil das Siegerteam hier die gewachsene Raumstruktur ­überlegt und sensibilisiert aufgegriffen und weitergedacht hat. So entstand ein für die Situation an­gemessenes, aber vor allem auch passendes Infrastrukturbauwerk.

Pläne und Jurybericht zum Wettbewerb finden Sie auf competitions.espazium.ch

Empfehlung zur Weiterbearbeitung

«Scursun»: Fürst Laffranchi ­Bauingenieure, Aarwangen; ­Giuliani Hönger Architekten, Zürich; Antón Landschaft, Zürich; Königslicht, Zürich

Weitere Teilnehmende

«Blossfeldt»: Ingeni, Lausanne; 2b architectes, Lausanne; Forster-Paysage, Prilly VD; Reflexion, Lausanne; ­Transitec, Bern; GADZ, Genf
«Zina»: WaltGalmarini, Zürich; COWI UK Ltd, London (GB); Dissing + Weitling, Kopenhagen (DK); smarch – Mathys & Stücheli Architekten, Bern; Hager Partner, Zürich; vogtpartner, Winterthur
«Shortcut»: Conzett Bronzini Partner, Chur; Diggelmann + Partner, Bern; Holzhausen Zweifel Architekten, Zürich; Klötzli Friedli Landschafts­architekten, Bern; Nachtaktiv, Zürich
«Hereinspaziert»: DIC ingénieurs, Aigle VD; Brauen Wälchli Architectes, Lausanne; atelier grept, Saint-Gingolph VS; Aebischer & Bovigny, Lausanne

FachJury

Peter Berger, Architekt (Vorsitz); Aurelio Muttoni, Bauingenieur; Simon Schöni, Landschaftsarchitekt; Maria Zurbuchen-Henz, Architektin; Martin Gsteiger, Architekt (Ersatz); Regula Trachsel, Bauingenieurin (Ersatz)

SachJury

Roland Meier, SBB Infrastruktur, Projektleiter; Stephanie Stotz, Stadt Bern, Fachstelle für Fuss- und Veloverkehr; Andrea Vaterlaus, Marty SBB Infrastruktur, Gesamt­projektleiterin; Jeanette Beck, Stadt Bern, Stadtplanungsamt (Ersatz); Andreas Inkermann, SBB Infrastruktur, Besteller (Ersatz)

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