Prêt-à-por­ter

Ingenieurwesen Tragkonstruktionen

Als eine der wenigen Schweizer Zeitschriften publiziert TEC21 Berichte zum Thema Bauingenieurwesen. Hinter die Fassade zu blicken ist so spannend und verlockend wie durch ein Guckloch zu spähen.

Publikationsdatum
17-09-2014
Revision
18-10-2015

Architektur ist en vogue. Ein aufsehenerregendes Bauwerk, ein eindrückliches Bild davon, und die Tages- und Fachpresse nimmt das Thema auf. Die Beteiligung berühmter Architekten unterstützt die Medienwirksamkeit noch zusätzlich. Der optische Eindruck überwiegt dabei. Doch wer oder was stabilisiert und trägt das Bauwerk? Wer musste was tun, damit das Bauwerk so steht, wie es jetzt erscheint? Das wird meist gar nicht erwähnt, und wenn, dann nur mit einer oft falschen oder zumindest verwirrenden Randbemerkung.

Das Kräuterzentrum von Ricola in Laufen ist ein solches Beispiel, das kürzlich wirkungsvoll über die Medien verbreitet wurde. Die Architekten: Herzog & de Meuron. Die Fassade des 11m hohen und 111x29m grossen Kubus ist aus Stampflehm, der aus dem Laufentaler Boden gewonnen wurde. Er dämmt und schafft im Innenraum der Betriebsstätte ganz ohne Technik ein passendes Raumklima. Er ermöglicht eine bemerkenswerte und zugleich imposante Fassadenästhetik. Zudem scheint er auch noch tragfähig zu sein. So die Mehrheit der Berichte in der Tagespresse. Man staunt  – dieser Lehm scheint ein Alleskönner zu sein. Punkt. Mehr erfährt man nicht.

Spätestens hier drängt sich für mich die Frage auf, wo denn das eigentliche Tragwerk geblieben ist. Das Tragwerk, das alles erst stabilisiert und trägt, das bereit ist, den Kräftefluss aufzunehmen und in den Baugrund zu leiten. Dazu schweigen die meisten Pressemitteilungen – immer wieder aufs Neue. Ist die Frage denn nicht spannend 

Die so oft und für so viele Bauwerke ausbleibende Antwort ist für das Kräuterzentrum von Ricola in Laufen in aller gebotenen Kürze die Folgende:

Die 47cm dicke Lehmschicht ist kein Alleskönner. Die fast einen halben Meter dicke Schicht trägt weder das Dach mit seinen 15 Tonnen schweren Oberlichtelementen noch sonstige anfallende Lasten. Sie trägt zwar sich selbst, das heisst ihr Eigengewicht – ist sie damit aber «selbsttragend», wie es, wenn überhaupt, in Pressemitteilungen steht? Bei horizontalen Einwirkungen wie Wind- oder Erdbebenkräften ist sie auf jeden Fall auf den Rohbau angewiesen. Denn schon ein wenig Wind brächte die Wand zum Einsturz, würde sie nicht durch eine entsprechend dimensionierte Tragkonstruktion gehalten. Die dicke und massive Fassade lehnt sich regelrecht an das Tragwerk an, um bei horizontalen Einwirkungen nicht umzufallen. Die horizontalen und vertikalen Lasten – mit Ausnahme des Fassadeneigengewichts – nimmt ein Betonskelett aus vorfabrizierten Elementen hinter der Fassade auf. Die Ingenieure von Schnetzer Puskas haben es geplant, und die Müller Steinag Elemente AG hat die vorfabrizierten Betonstützen und Betonträger gefertigt und geliefert. 

Keine leichte Aufgabe, auch wenn man das zunächst vermuten könnte: Lehm schwindet und schrumpft mit der Zeit – bis zu 5cm können das etwa am Dachrand sein; die Interaktion zwischen zwei Materialien ist nicht zu unterschätzen. Die Befestigung am steifen Betonskelett muss daher verschiebbar sein, sonst reisst die Fassade. Stahllaschen, befestigt an Halfenschienen, die in die Betonstützen eingelassen sind, schaffen diese notwendige Beweglichkeit. Das runde Fenster lässt sich nicht ohne Weiteres in die Fassade integrieren; auch hier verursachte das Schwinden rund um den Rahmen Risse in der Lehmschicht, hätten die Ingenieure nicht eine ausgeklügelte, aber für sich einfache Detailkonstruktion entwickelt, die genau dies verhindert. Nicht zuletzt galt es auch die Ästhetik zu berücksichtigen, denn wohlgestaltet musste die Tragkonstruktion sein: Die Bauherrschaft liess das Tragwerk aus Beton herstellen, weil es als Massivbau optisch zum massiven Lehmbau passte. Eine Stahlkonstruktion wäre zu filigran und zu duktil gewesen, und auf den Flanschen hätten Staub oder Kräuterreste aus der Produktion liegen bleiben können. Ein Stahlskelett hätte also aus ästhetischen, hygienischen – Ricola-Bonbons gelten schliesslich als Medizin – und tragwerkspezifischen Gründen nicht mit dem Lehmbau harmoniert.

Nach solchen tragwerkspezifischen Antworten suche ich – und gehe selbstredend davon aus, dass die Antwort noch mehr Menschen interessiert als nur mich. Muss es doch. Denn Bauingenieurwesen ist so en vogue wie die Architektur – schliesslich ist es im wahrsten Sinne des Wortes «prêt-à-porter».

Deshalb demnächst in TEC21: eine ausführliche Beschreibung der Tragkonstruktion des Kräuterzentrums von Ricola in Laufen. 

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