«Nicht für die Kri­se pla­nen, son­dern für ei­ne Zu­kunft da­nach»

Als Architekturprofessor Muck Petzet für das Diplom 2020 an der Accademia di architettura von Mendrisio das Thema des Raums zwischen Como und Chiasso gewählt hatte, konnte er nicht ahnen, dass die Covid-19-Krise die Merkmale dieser Grenze noch verschärfen würde. Ein Gespräch über Landes- und Hausgrenzen, digitales Lehren und Zoom-Partys.

Publikationsdatum
30-04-2020

Espazium: Das Thema der Diplomarbeit 2020 an der Accademia von Mendrisio ist die Grenze zwischen Chiasso und Como – eine Grenze, die infolge der Covid-19-Krise ihren Charakter völlig verändert hat. Wie haben Sie Ihren Studierenden zu Beginn des Semesters das Konzept «Grenze» vorgestellt? Hat sich Ihre Vorstellung von der Grenze angesichts der Ausbreitung des Virus verändert?

Muck Petzet: Für mich war diese Grenze schon immer ein krasser Atavismus – sie ist eine der letzten «harten» Grenzen in Europa – mit Kontrollen, Toren, Mauern und Zäunen und ständiger Luftüberwachung durch Drohnen. Eine Grenze, wie wir sie bisher sonst in Europa nicht mehr hatten … Mir sind eher die Grenzen zwischen den europäischen Nachbarn auf neue Art bewusst geworden: Dass eine Grenze wie zu Deutschland oder Frankreich, die kaum mehr spürbar war, nun plötzlich geschlossen werden kann, ist ein beängstigendes Gefühl.


Wie werden Sie die aktuelle Situation in Ihren Unterricht integrieren? Werden Sie die Studierenden dazu auffordern, im Rahmen ihrer Diplomprojekte darüber nachzudenken?

Ich denke, die Studentinnen und Studenten haben mit der spürbaren Grenze zwischen zwei Stadtteilen, mit den grossen urbanen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Zusammenhängen und Brüchen, die sich in Chiasso und Ponte Chiasso manifestieren, schon einiges zu verarbeiten. Bei der Zwischenkritik hatte ich das Gefühl, dass sich jetzt auch einige überlegen, wie sich unsere Arbeits- und Lebensbedingungen nach Covid-19 ändern könnten. Dennoch wird nicht für die Krise geplant, sondern für eine mögliche Zukunft nach der Krise. Bisher bin ich positiv überrascht von der Tiefe und Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung. Ich freue mich auf das Ergebnis des Diploms 2020.


Die aktuelle Situation wegen des Covid-19 schränkt die Mobilität der Studierenden ein, sodass sie den Projektstandort nicht besuchen und die Infrastruktur der Accademia nicht nutzen können. Wie wird die Diplomarbeit 2020 unter diesen Umständen durchgeführt?

Die Änderungen sind schrittweise erfolgt – Anfang des Semesters war ja die Welt bei uns noch scheinbar in Ordnung. Das heisst, die Studenten konnten hier noch ganz intensiv vor Ort sein, Interviews führen, sich in die Situationen versetzen, Fotos machen. Jetzt ist die Situation plötzlich ganz anders, etwa vergleichbar mit sonstigen Diplomjahren, wo etwa am Anfang eine Studienreise stattfand und man dann von diesen «Live»-Erlebnissen und Bildern zehren musste. Ich denke, dass in unserem Diplom «Chiasso Ponte Chiasso» aufgrund der Anfangswochen und der sowieso vorhandenen Ortskenntnisse dennoch eine relativ intensive Auseinandersetzung mit den Realitäten des Orts erfolgt.


Was bedeutet es für ein Atelier, für das das Entwerfen von Projekten eine derart grosse Bedeutung hat, dass der direkte Kontakt mit den Studierenden nicht möglich ist?

Für die Ateliers ist das eine grosse Umstellung. Die Arbeit in Mendrisio war immer gekennzeichnet von intensiven persönlichen Gesprächen, Auseinandersetzungen und Begegnungen. Vor allem auch von jener mit Modellen und Materialien. Das können wir mit elektronischen Medien nur sehr begrenzt ersetzen. Die Gespräche können natürlich auch hier intensiv geführt werden. Der Austausch ist teilweise sehr direkt und partnerschaftlich, man teilt ja sprichwörtlich seinen Bildschirm, also eine relativ intime Ebene.


Wie hat sich die Arbeitsweise der Studierende verändert?

Die Arbeit ist natürlich anders – insbesondere das Resultat, das letztlich erzeugt wird, ist ein anderes. Die Abgabe ist kein mit klassischen architektonischen Mitteln, Zeichnung und Modell repräsentiertes Projekt, sondern eine digitale Präsentation, in der inhaltliche Fragen, Analysen und Research eine gleichberechtigtere Rolle spielen können als bisher in vielen Diplomprojekten. Das mag ein Pluspunkt sein – bei vielen Minuspunkten, wie etwa dem sonst möglichen intensiven Austausch innerhalb der Ateliers zwischen den Studierenden und dann beim grossen Finale im grandiosen grossen Modellbauworkshop in unserem Foyer. All das fehlt. Wir versuchen natürlich, die Studenten untereinander zu verlinken, aber eine Zoom-Party ist eben auch keine wirkliche Party.


Das Virus zwingt uns alle, zu Hause zu bleiben, und stellt uns so vor eine neue Art von Grenze: Die neuen Grenzen sind nun unsere Hausmauern. Wie verändert das die Wahrnehmung des Wohnraums?

In den virtuellen Meetings sieht man jetzt nicht nur Bücherwände und virtuelle Palmenstrände, sondern auch Küchenfliesen, Dachluken oder Kleiderhäufen im Hintergrund. Es ist interessant zu sehen, wie alle leben und jetzt auch arbeiten müssen. Die zentrale Bedeutung der Wohnung als Lebensraum wird uns durch den erzwungene Langzeitaufenthalt teilweise schmerzlich bewusst. Generell werden wir uns in Zukunft noch intensiver mit dem Thema Wohnen und Arbeiten auseinandersetzen.

Zur Person

Muck Petzet ist Architekt, Kurator und seit 2014 Professor für nachhaltiges Design an der Accademia die architettura von Mendrisio. Er hatte Lehraufträge an der Hochschule Vaduz als Gastkritiker und Dozent im Ausland und als Gastprofessor an der TU München für «Architektur als Ressource». Nach dem Studium der Philosophie an der LMU München und der Architektur an der HdK Berlin und der TU München schloss er sein Studium an der TU München ab. Nach anfänglicher Tätigkeit bei Herzog & de Meuron in Basel gründete er 1993 in verschiedenen Partnerschaften sein eigenes Büro in München. Seit 2013 ist er auch in Berlin tätig. Muck Petzet war Generalkommissar des deutschen Pavillons «Reduce/Reuse/Recycle» auf der 13. Internationalen Architekturausstellung La Biennale di Venezia 2012.

Baukultur in Zeiten von Covid-19

Die Krise, die wir derzeit erleben, trifft auch unseren Berufsstand - von der Ausbildung bis in den Berufsalltag. Interviews mit Branchenvertretern, Links und Informationen zum Thema versammeln wir im E-Dossier «Covid-19» – als Austauschplattform und als Hilfe in unsicheren Zeiten.

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