Neue Bau­ten oder neue We­ge?

Wohnsiedlung Salzweg: Projektwettbewerb im offenen Verfahren

Die Stadt Zürich will wachsen und ihren CO2-Ausstoss senken. Für die Politik heisst der Zirkelschluss daraus: mehr Ersatzneubau. Die Jury des Architekturwettbewerbs «Wohnsiedlung Salzweg» äusserte jedoch Zweifel, ob das Tabula-rasa-Prinzip wirklich nachhaltig ist.

Publikationsdatum
04-11-2021

Die Frage «Neu bauen oder ­sanieren?» ist demnächst 20 Jahre alt. 2002 haben drei Bundesämter – diejenigen für Energie, Wohnungswesen und Raumentwicklung – sie der Fachhochschule beider Basel gestellt. Fünf Fachpersonen machten sich auf die Suche nach einer Antwort und befragten zwei Dutzend Architekturbüros, Immobilieninvestoren, Behörden- und Interessenvertreter. Herausgekommen ist eine umfangreiche Analyse mit 200 Seiten. Bereits auf S. 15 fällt der Grundsatzentscheid im Wortlaut einer Empfehlung: Der Ersatzneubau ist einer Gesamtsanierung überlegen. Neue Bauten gehen sparsamer mit Energie um und stossen weniger CO2 aus als ältere Gebäude. Sie sind geräumiger und komfortabler nutzbar. Und besser ist auch der Verdichtungseffekt: Grosse Ersatzbauten erhöhen die Zahl der Wohnungen auf einen Schlag.

Die wissenschaftliche Expertise fand Anklang in der Praxis, auch weil die Finanzierungsfrage mitbeantwortet war: mehr Wohnraum gleich mehr Ertrag. Einige Kantone und Gemeinden begannen Abwrackprämien auszubezahlen. Steuerämter stufen die Rückbaukosten inzwischen als abzugsfähig ein. Summa summarum lernten einige gemeinnützige, institutionelle und öffentliche Bauherrschaften, wie wenig einer radikalen Erneuerung ihrer Standorte im Weg steht. Neu bauen oder sanieren? Der Neustart sei für die Siedlungsentwicklung ein grosses ökologisches und ökonomisches Versprechen, sagte bereits die Basler Studie. Muss die Grundsatzfrage heute überhaupt gestellt ­werden, wenn ein Ersatz so vielver­sprechend und einfach funktioniert?

Gegen das Wettbewerbsprogramm

Ein offener Projektwettbewerb in Zürich weckt Zweifel an der eben etablierten Gewissheit. Das Preisgericht, das einen Ersatz­neubau für die städtische Wohnsiedlung Salzweg auszuwählen hatte, zögerte bei seinem Entscheid. Dabei war die Aufgabe im Grunde eindeutig: Stadtrat und Parlament verlangten einen Total­ersatz der Überbauung, die 1969 zur Linderung der Wohnungsnot entstanden war. Als Teil einer öffentlichen Wohnbauaktion liess die Stadtbehörde vor gut 50 Jahren eine Plattenbausiedlung mit 130 Wohnungen am Westrand erstellen. Die 13 Jurorinnen und ­Juroren entschieden sich nun, den Standort gemäss dem Entwurf «Tartaruga» von Zimmermann Sutter Architekten zu verdichten. Dieses Siegerprojekt sieht lineare, in der Hälfte zueinander versetzte Hausreihen anstelle des diagonal ausgerichteten Bestands vor. Auch die nächst­rangierten Vorschläge sind mit der Aufgaben­stellung konform. Doch auf Rang 7 platzierte die Jury einen Entwurf, der eigentlich gegen das Wettbewerbsprogramm verstösst: «Bronko» (Leonie Wohl­ge­muth & Christoph Zille) lässt fast die Hälfte der gut 50-jährigen Über­bauung ­stehen. Das Auswahlgre­mium würdigte dies als «vorbildlich im Anspruch und Ansatz für das nach­haltige Bauen».

Die Nachwuchsarchitekten stufen vor allem die grossen Wohnblocks als erhaltenswürdig ein, weil sie mit sechs Geschossen das heutige zonenkonforme Mass um zwei Etagen übertreffen. Zudem verfügen sie schon jetzt über jenen Grund­risscharakter – «viele Zimmer und kleine Flächen» –, der dem im Wettbewerbsprogramm gewünschten Muster für äusserst günstigen Wohnraum entspricht. Nur der zweigeschossige Bestand hätte doppelt so hohen, hofartigen Baukomplexen weichen müssen. Die Wohnungszahl wäre beim Teilersatz auf 222 Einheiten angestiegen. Im Vergleich dazu verspricht der Vollersatz 240 neue Wohnungen mit unterschiedlichsten Grundrissen.

Widersprüchliche Beurteilung der Kosten

Der Abschlussbericht erläutert auch die «produktive Verunsicherung» der Preisrichterinnen und -richter. Die dynamische Stadtentwicklung erzeuge ein Dilemma im Umgang mit dem baulichen Erbe. Ob ein Ersatz kompatibel mit dem Netto-Null-Ziel sei oder den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft gerecht werde, sei ebenfalls unklar. Umso genauer wollte das Wettbewerbsgremium wissen, wie viel graue Energie ein Teilerhalt der Bauzeilen spart. Die ökologische Vor­prüfung aller Entwürfe, die gemäss der etablierten 2000-Watt-Methode durchgeführt wurde, ergab ein nicht erwartetes Resultat. Die CO2-Bilanz der punktuellen Nachverdichtung sei nicht besser als beim Ersatzneubau. Weil die Jury zudem die architektonische Qualität der Ergänzungsbauten bemängelte, war der Vorschlag zur weitgehenden Erhaltung der Wohnsiedlung – trotz konzeptioneller Stärken – am Ende chancenlos.

Bessere Chancen für ein Erhaltungsprojekt?

Die Verunsicherung der Salzweg-Jury wirkt allerdings nach. Die Stadt Zürich hat sich für den bereits gestarteten Architekturwettbewerb «Schulanlage Höckler» im Stadtteil Manegg für eine Anpassung des Programms entschieden. Obwohl auch hier ausdrücklich ein Ersatzprojekt bestellt wird und der Neubau zwei Gewerbehallen verdrängen soll, sind Ideen für andere Ansätze nun hochwillkommen. «Besonders gute Lösungen zum Erhalt des Bestands können zur Weiterbearbeitung empfohlen werden», erklärt die Wettbewerbsausschreibung. Die Frage «Neu bauen oder sanieren?» scheint wieder offen.

Jurybericht und Pläne auf competitions.espazium.ch

Auszeichnungen

1. Rang / 1. Preis: «Tartaruga»
Zimmermann Sutter Architekten, Zürich; Freiraumarchitektur, Luzern
2. Rang / 2. Preis: «Iris»
Chao Wu, Zürich/München, mit
Yunhan Lin, Zürich; Ge Gao Landschaftsarchitektin, Bern
3. Rang / 3. Preis: «Appia»
Meili, Peter & Partner Architekten, Zürich; Müller Illien Landschaftsarchitekten, Zürich
4. Rang / 4. Preis: «Lama»
Bruno Fioretti Marquez, Berlin; Studio Sörensen Landschaftsarchitektur, Hamburg
5. Rang / 5. Preis: «Loewenzahn»
atelier 4036, Zürich
6. Rang / 6. Preis: «Cirro»
BoA atlaa, Zürich; atelier tp – Tijssen Preller Landschaftsarchitekten, Rapperswil
7. Rang / 7. Preis: «Bronko»
Leonie Wolgemuth und Christoph Zille, Zürich
8. Rang / 8. Preis: «Süss & Salzig»
B2G Architekten, Sempach; Raumfacher Architekten, Schwyz; Simi´c Schaudt Architekten, Schattdorf; Barmettler Architekten, Cham; Atelier Oriri Landschaftsarchitekten, Kehrsiten

FachJury

Benjamin Theiler (Vorsitz), Amt für Hochbauten, Zürich; Anita Emele, Amt für Städtebau, Zürich; Philipp Esch, Architekt, Zürich; Raphael Frei, Architekt, Zürich; Elli Mosayebi, Architektin, Zürich; Tanja Reimer, Architektin, Zürich; Robin Winogrond, Landschaftsarchitektin, Zürich

SachJury

Urs Frei, Baugenossenschaft Zurlinden, Zürich; Astrid Heymann, Liegenschaften Stadt Zürich; Annick Lalive d’Epinay, Liegenschaften Stadt Zürich; Roman Völkle, Liegenschaften Stadt Zürich; Yvonne Züger, Liegenschaften Stadt Zürich; Thomas Sacchi, Liegenschaften Stadt Zürich (Ersatz)

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