Blick­fang in Sicht­back­stein

Das vielgestaltige Wohnhaus von JOM Architekten in hellem Sichtbackstein und mit strahlend weissen Balkonen und ­Fensterrahmen ist eine beeindruckende Erscheinung. Im Quartier Zürich-Witikon markiert das Bauwerk einen ganz besonderen Ort.

Publikationsdatum
01-09-2023

Der Neubau steht am höchsten Punkt der Ausfallstrasse, die auf der einen Seite in Richtung Zürichsee hinunterführt und auf der anderen stadtauswärts leicht abfällt. Ein Knick in der Mitte der symmetrischen Hauptfassade betont – mit einer Sonnenuhr als Blickfang – die topografische Lage des Gebäudes. Mit dieser subtilen Geste sowie dem Erdgeschoss, das für eine öffentliche Nutzung ausgelegt ist, stärkt der facettenreiche Ersatzneubau das Zentrum von Witikon.

Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Architektur ist eine möglichst lange Nutzungsdauer zentral. Doch die Realität sieht oft, wie auch im vorliegenden Fall, anders aus: Der schlechte Bauzustand der bestehenden Liegenschaft mit Konditorei und Tea-Room von 1946 und das Potenzial einer bedeutenden Verdichtung von zwei auf drei Geschosse plus Attika legten einen Ersatzneubau nahe.

Für das Architektenteam und den Bauherrn, der selbst in Witikon wohnt, war deshalb klar, dass das neue Gebäude robust und langlebig sein sollte. Neben einem Maximum an Wohnraum galt es wieder eine öffentliche Erdgeschossnutzung als Mehrwert für die Bevölkerung zu planen, liegt das Grundstück doch an der Hauptachse des Quartiers. Auch wenn baulich alles für einen Gastronomiebetrieb vorbereitet wurde, zieht fürs Erste Gewerbe ein.

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Hinsichtlich einer mehrere Generationen über­dauernden Konstruktion ist die Massivbauweise in Kom­bination mit einer hochwertigen Materialisierung und Ausführung attraktiv. Der Treppenhauskern und die Wohnungstrennwände sind betoniert, die r­estlichen Wän­de gemauert. Das Tragwerk wurde so ausgelegt, dass eine spätere Aufstockung um ein Geschoss technisch machbar ist. Dank der konsequenten Systemtrennung ist die Lüftung nicht eingelegt und kann zu einem späteren Zeitpunkt einfach ausgetauscht werden.

Kunstvolles Sichtmauerwerk

Im Ausdruck ist das Wohnhaus kein klassischer Massiv­bau mit Lochöffnungen. Vielmehr sind die Fassaden in vertikale Streifen aus Zweischalenmauerwerk gegliedert, dazwischen liegen horizontal ausgerichtete Partien mit Balkonen und raumhohen Fenstern. Erst im Attikageschoss werden die schmalen Mauerscheiben zu Winkeln und damit körperhaft, was der bewegten Volumetrie einen stimmigen Abschluss gibt. Schade nur, dass sich die Balkone im rückwärtigen Teil des Erdgeschosses nicht deutlich vom Boden absetzen. Denn so verliert das Spiel von Vertikalität und Horizontalität an Klarheit.

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Neben dem weiss leuchtenden Metall der Balkone und Fenster ist der beige Sichtbackstein der äus­seren Schale das visuell bestimmende Baumaterial, das sich bis in die Eingangshalle hineinzieht. Er ist eine Vorgabe des Bauherrn, der den exakt gleichen Backstein wünschte, wie derjenige, der etwas weiter unten in Witi­kon für ein Wohnhaus der 1980er-Jahre verwendet worden war. Obwohl er bei niedrigerer Temperatur gebrannt wurde als ein Klinker und eine geschälte Oberfläche aufweist, ist der Backstein, wie das Vorbild zeigt, frostsicher und beständig.

­Schweizer Sichtbackstein mit Tradition

 

Der verwendete Sichtbackstein stammt von der ­Ziegelei Schumacher in Körblingen, Gemeinde Gisikon LU. Der Familien­betrieb besteht seit 1860. Einzigartig in der Schweiz ist, dass das Rohmaterial bis heute mit der werkseigenen Feldbahn (Spurweite 60 cm) von der Lehmgrube Pfaffwil in die gut einen Kilometer entfernte Fabrik gefahren wird. Die Gesteinsmischung der Grube besteht aus 20 Mio. Jahre altem Sandstein und schiefrigem Mergel der oberen Süss­wasser­molasse. Je nachdem, wie hoch der Kalk- oder Eisenoxydanteil der Ausgangsstoffe ist, erhalten die Steine eine gelblich-beige oder rötliche Färbung. Ist der Kalkanteil noch höher, wird der Stein fast weiss; wird ihm in einem zweiten Durchgang bei 700 °C der Sauerstoff entzogen, wird er grau.

 

Sobald das in mehreren Schritten zerkleinerte und mit Porosierungsstoffen (z.B. Sägemehl und Tonabfällen) aufbereitete Material das Mundstück der Schneckenpresse verlässt, wird die Presshaut maschinell abgeschält und der Pressstrang mit Draht in einzelne Steine geschnitten. Dadurch erhält der Ziegel seine charakteristische Ober­fläche mit unterschiedlich feinen ver­tikalen Rillen. Nach dem Trocknen ­werden die Grünlinge im 100 m langen Tunnel­ofen 36 Stunden lang bei 1020 °C gebrannt. Diese Temperatur ist im ­Vergleich zum Brand von Klinker (1100 bis 1300 °C) merklich tiefer. Damit ist der Energieaufwand sowie der CO2-Ausstoss kleiner. Aufgrund seines Kalk­anteils nimmt der gelochte Sichtbackstein rund 15 % Wasser auf. Gleichwohl ist er frostsicher und dank der geringeren Brenntemperatur diffusionsoffen, was baubiologisch von Vorteil ist.

 

Derzeit ist die CO2-neutrale Herstellung über den gesamten Prozess gesehen von der Rohstoffgewinnung bis zum Brennen der Backsteine noch nicht möglich. Zur Verbesserung der Bilanz wurden die Steine für das Mehrfami­lienhaus in Zürich-Witikon jedoch ausschliesslich mit CO2-neutralem Biogas von Energie Wasser Luzern (EWL) gebrannt. Die Masse der verwendeten Ziegel betragen (L × B × H) 25 × 12 × 14 cm und 25 × 12 × 9 cm.

Für die Anmutung ist neben der Farbe und der rauen Haptik der eigens entwickelte Mauerverband ausschlaggebend: Die Backsteinscheiben und die Längswand in der Eingangshalle mit vorspringender Sitzbank wurden als doppelter, halbversetzter Läuferverband in zwei unterschiedlich hohen Steinformaten ausgeführt. Im Eingang wurden rund um die Leuchten aufgeschnittene, leicht vorstehende Ziegel eingesetzt, deren Rillenstruktur die Plastizität verstärkt und ein Licht- und Schattenspiel erzeugt.

Die Wandscheiben wirken dagegen flächig, weil die beiden unterschiedlich hohen Steine jeweils in zwei Reihen ohne Fugenversatz vermauert sind. Damit wird bis zu einem gewissen Grad der materialtypische Aufbau versetzt angeordneter Lagen überspielt und das Muster tritt in den Vordergrund. Zudem verschleiern die Führungsschienen des Sonnenschutzes an vielen Stellen die wahre Tiefe der Leibung, was wiederum die Flächigkeit betont.

Mehr Wohnraum durch optische Weite

Horizontale Metallbänder zeichnen im Bereich der Fenster die Deckenstirnen nach und wurden bei den Balkonen partiell zu Pflanztrögen hochgezogen. Die spitzwinklig vorspringenden Balkone spielen auch im Grundriss eine wichtige Rolle. Zunächst erstaunt, dass alle Wohnungen des vierspännigen Gebäudes über je zwei Balkone verfügen.

Der räumliche Gewinn dieser Verdoppelung zeigt sich vor allem bei den gartenseitigen Wohnungen: Wie eine Klammer fassen die beiden Zimmer den vom Eingangsbereich diagonal erschlossenen Wohn-Essraum mit Küche ein und gehen in die Balkone über, die sich von zwei Seiten an den Hauptraum legen. Dadurch entsteht ein Rundlauf und der visuelle Rückbezug auf die eigene Wohnung lässt den korridorlosen Grundriss grosszügig erscheinen. Bei den Wohnungen entlang der Stras­­sen­fassade ist das Prinzip wegen der Anforderungen an den Schallschutz leicht abgewandelt: Wo die Öffnungen beim hinteren Balkon das lärmabgewandte Lüften des Wohn-Essraums gewährleisten, dient der vordere Balkon dank der verschliessbaren Verglasung als Jahreszeitenzimmer. Die Einteilung der Grundrisse verleiht den Wohnungen, ausgehend vom Küchenmöbel beim Eingang, einen zentrifugalen Drall Richtung rückwärtigem Grünraum.

Aufgrund des geschichteten und gestaffelten Aufbaus verwenden die Planenden für den Grundriss des Hauses das Bild eines Tannenzapfens und erwähnen im Gespräch den Architekten Hugo Häring, ein Begründer des Neuen Bauens, der in den 1920er-­Jahren mit seinen Bauten und Texten den Grundstein für die Organische Architektur legte. Das passt, denn dieser schrieb 1925: «Wir suchen unsere Ansprüche an Ausdruck in Richtung des Lebendigen, in Richtung des Werdens, in Richtung des Bewegten, in Richtung einer naturhaften Gestaltung geltend zu machen, denn der Gestaltungsweg zur Form der Zweckerfüllung ist auch der Gestaltungsweg der Natur.»

Janusköpfiger Ort

JOM Architekten sind keine «organischen Funktionalisten» wie Häring es war, aber sie nutzen die Gegebenheiten des Orts gezielt für eine dynamische Figur. So ist die Disposition von Grundriss und Volumen konsequent aus der städtebaulichen Lage abgeleitet, die von zwei völlig unterschiedlichen Seiten charakterisiert wird: hier die Frontseite zur vielbefahrenen Einfalls­achse in die Stadt, da der Bezug zum Grünraum auf der Rückseite, von dem dank Staffelung des Gebäudekörpers jede Wohnung etwas hat.

Insgesamt entstehen so auf kompakter Fläche Wohnungen mit vielfältigen, überraschenden Qualitäten, die auch von der ansprechenden Materialisierung profitieren.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 27/2023 «Roh und unverputzt».

Neubau Mehrfamilienhaus «Tannzapfen», Zürich-Witikon

 

Architektur
JOM Architekten, Zürich

 

Baumanagement
Meili Partner, Zürich

 

Tragwerksplanung
Henauer Gugler, Zürich

 

HLKS-Planung
Fritz Gloor, Wetzikon

 

Elektroplanung
Gutknecht Elektroplanung, Au ZH

 

Bauphysik
Michael Wichser + Partner, Dübendorf

 

Landschaftsarchitektur
Widmer Gartenbau, Zollikon

 

Baukosten (BKP 2)
6.38 Mio. Fr.

 

Grundfläche (SIA 416)
366 m2

 

Volumen (SIA 416)
6027 m3

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