Ne­ben­wir­kun­gen der Stadt­er­neue­rung sind erst teil­wei­se er­forscht

Mit der Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung?» vermittelt das Zentrum Architektur Zürich ZAZ Bellerive die Ergebnisse von Recherchen zweier Studiengänge am Architekturdepartement der ETH Zürich.

Publikationsdatum
04-02-2023

Gebrauchte Fenster rahmen die Studien zu Verdichtungsprojekten aus aller Welt. Sie nehmen die Haltung der Ausstellungsmacher vorweg: Der Bestand soll wertgeschätzt werden. Im Ausstellungs- und Vermittlungsprojekt «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen» kümmert man sich dabei nicht nur um gerettete Bausubstanz wie eben diese Fenster, die dank dem Planungsbüro Zirkular den Weg von einem Abbruch in den Ausstellungsraum gefunden haben. Vor allem geht es hier um viel Grösseres, nämlich die wachsende Nachfrage nach Wohnraum, die nicht nur Neubauten, sondern räumliche und soziale Veränderungen in den Städten zur Folge haben.

Verdichtung oder Entdichtung?

Fallstudien untersuchen Häuser, Häusergruppen und ganze Siedlungen in Zürich und in Grossstädten verschiedener Kontinente, die etwas gemeinsam haben: Sie werden abgerissen und schaffen Platz für sogenannten Verdichtungsprojekte. Ob in den neuen, grösseren, teilweise hoch in den Himmel ragenden Bauvolumen auch wirklich mehr Menschen wohnen werden? Oder stehen die neuen Wohnungen dann vielleicht leer, weil ihre Eigentümer sie allein zu Investitionszwecken gekauft haben? Wo sollen die früheren Bewohner:innen hin? Diese und weitere Fragen lassen sich selten auf den ersten Blick beantworten, vielmehr waren hier Archiv- und Feldforschung nötig.

Geleistet haben diese in zwei Semestern die Studierenden der Weiterbildungslehrgänge MAS in Geschichte und Theorie der Architektur unter der Leitung von Susanne Schindler und MAS in Housing unter der Leitung von Jennifer Duyne Barenstein am Architekturdepartement der ETH Zürich. (Zur Studiengangleitung MAS GTA gehört auch André Bideau, dessen gemeinsam mit Sonja Hildebrand kuratierte Ausstellung «Das Territorium als Palimpsest. Das Vermächtnis von André Corboz» nach der Station in Mendrisio im Herbst 2023 an der EPFL in Lausanne gezeigt wird).

Beispiele aus Zürich

Die Fallstudie zur von Gustav Ammann gestalteten Grünanlage der Mattenhofsiedlung in Zürich-Schamendingen zeigt, dass hier der Wunsch nach Verdichtung höher gewertet wurde als das Schutzinteresse – wie bei zahlreichen Siedlungen in Schwamendingen. Der Stadtteil ist zum Spitzenreiter in Sachen Erneuerungsbauten und damit auch zur Spitze der Kritik in Sachen Abriss in Zürich avanciert.

In keiner anderen Stadt der Schweiz wurde in den letzten Jahren so viel Bausubstanz abgebrochen (oder eben: rückgebaut, wie es im Fachjargon heisst. Hier fehlen noch sprachliche Nuancen, die aufzeigen würden, ob ein Gebäude seine Lebensdauer wirklich erreicht hat oder ob dieser Zyklus aufgrund anderweitiger Interessen vorzeitig unterbrochen wurde.)

An den Beispielen der vier Zürcher geplanten Ersatzneubauten Lerchenhalde, Neumünsterpark, Murwiesen-Frohburgstrasse und Küngenmatt Heuried werden bestehende und künftige Siedlungen analysiert. Dabei richtet sich das Augenmerk der Forschergruppe des MAS in Housing auch auf Möglichkeiten der Partizipation, in den Siedlungen genauso wie in ihrer medialen Aufbereitung in der Ausstellung.

… und aus aller Welt

Weite und weit gefächerte Themen tauchen in den weiteren Städte-Fallstudien der Studierenden des MAS in Geschichte und Theorie der Architektur auf. In Vancouver beispielsweise wurde das höchste und teuerste Passivhaus der Welt bewilligt, obwohl das 60-geschossige Gebäude «The Curv» die zulässige Trauflinie überschreitet. Die Begründung für diese Ausnahme liefern die Sozialwohnungen, die einen Viertel der Gebäudewohnfläche einnehmen sollen – wenn das teilweise hinsichtlich sozialer Kriterien geplante Hochhaus dann je einmal gebaut würde.

Auch für die Stadt Zürich, deren Revision der Hochhausrichtlinien derzeit öffentlich aufliegen, könnte Vancouver Vorbildcharakter haben – zumindest bietet sie eine Alternative zur Mehrwertabgabe. So zeigt die kanadische Stadt auf, wie es möglich wäre, ohne öffentliche Gelder auch kostengünstigen Wohnraum in der Innenstadt zu sichern.

Die spektakuläre Sprengung eines Hochhauses an der Via Artom in Turin, die von privatem Kapital getriebenen Ersatzbauten der Danwei-Textilfabrikarbeitersiedlung in Beijing oder die flächendeckende Umzonung von Einfamilien- in Mehrfamilienhausquartiere in Minneapolis zeigen, dass es vielerlei Strategien gibt, Städte sozialverträglich, oder zumindest mit dem Ziel einer sozialen Integration, zu verdichten. Das derzeit in Zürich installierte Ausstellungs- und Vermittlungsprojekt beschreibt viele gute Absichten und genauso die dem jeweilen Vorgehen eingeschriebenen Schwierigkeiten. «Learning from…» heisst nicht nur, Ideen zu finden, sondern auch, aus den Fehlern der anderen zu lernen.

Die Bandbreite der von den ETH-Studierenden untersuchten und vom Zentrum Architektur Zürich ZAZ nun einer breiten Öffentlichkeit präsentierten Ersatzneubauten ist enorm, die Stossrichtung der Massnahmen ebenfalls. Die wohl in allen Fällen gut gemeinten Planungen zeigen in einer vorbildlich präsentierten Aufarbeitung, dass Stadterneuerung nicht ohne Nebenwirkungen möglich ist. Und diese zu untersuchen, lohnt es sich allemal.

Die Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen» wurde mit Studierenden zweier Studiengänge des Departements Architektur der ETH Zürich erarbeitet: dem MAS GTA des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur GTA sowie dem MAS in Housing des ETH Wohnforums – ETH CASE.

 

Zu sehen sind zwei Hauptbeiträge und drei Gastbeiträge: «Ersatzneubau: Eine globale Geschichte» situiert den Fall Zürich historisch innerhalb von acht globalen Fallstudien, darunter Beijing und Glasgow, Minneapolis und Turin. «Ersatzneubau in Zürich» analysiert die Perspektive verschiedener Akteur:innen von vier geplanten Abrissprojekten in der Stadt Zürich. Zu Gast in der Ausstellung sind vier weitere, stärker auf Austausch mit Besucher:innen angelegte Projekte von Countdown 2030, IG Nicht im Heuried, Mieten-Marta und Newrope – ETH Professur für Architektur und Urbane Transformation.

 

Die Ausstellung «Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen» ist noch bis zum 26. März 2023 im ZAZ Bellerive an der Höschgasse 3 in Zürich zu sehen.

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