Ab­riss aus al­ler Welt

Die MAS-Studierenden am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich setzen sich dieses Frühjahrssemester mit dem Ersatzneubau auseinander – für einmal nicht im schweizerischen, sondern im globalen Kontext. Dabei wird klar: Das Argument der Nachhaltigkeit spielt dort kaum eine Rolle.

Publikationsdatum
07-06-2022

Die Beispiele kommen aus Beijing, Glasgow, Vancouver, Porto, Minneapolis, Hamburg, Turin, Île-de-France und Zürich. Anhand dieser breiten Palette wird untersucht, mit welchen Argumenten die Strategien von Abbruch und Neubau hergeleitet werden. Die Projekte unterscheiden sich stark, bei mehreren Beispielen wird sogar ent-dichtet, auf Hochhäuser folgen Einfamilienzeilen und kleine Blockrandbebauungen, auf moderne Architekturen folgt Historismus mit Jahrhundertwende-Chic.

So vielfältig die jeweiligen Gegebenheiten sind, die zum Abriss und Neubau führen, gemeinsam ist allen Begründungen: Argumentiert wird stets dem Wohl der Bevölkerung – mal mit der Baufälligkeit der Gebäude, mal mit der prekären sozialen Situation der Bewohnerinnen und Bewohner, dem Mangel an Wohnraum, der fehlenden Sicherheit im Bestand oder auch schlicht mit der Hässlichkeit der bestehenden Siedlungen.

Ökonomische und politische Fragen prägen die Diskussionen: Wem gehört der Boden, wer investiert, wer kontrolliert, was wird privatisiert, wie verhält sich die Politik? Diese oft schwer greifbaren Zusammenhänge im Hintergrund der Argumentationen scheinen die eigentlichen Treiber der Entwicklung zu sein.

Denn was niemand zugeben will: Die bautechnischen, sozialen und ökonomischen Faktoren, die jeweils zur Begründung herangezogen werden, hängen zusammen. Wenn lange genug nicht investiert wird, wird das Gebäude baufällig, wer es sich leisten kann, zieht woanders hin, woraufhin noch weniger investiert wird. Bis irgendwann der Druck gross genug ist, dass der Abriss als einziger Ausweg übrigbleibt. Und damit Platz schafft, um neu zu bauen. Denn – so ein mögliches Fazit aus der Rundschau – Geld für einen Neubau findet sich leichter als Geld für den Unterhalt, egal ob es sich um staatliches oder privates Kapital handelt. Unterhalt wird über die Excel-Spalte Kosten gerechnet, das andere in der Spalte Investition. Und so werden denn wahrscheinlich auch die neu gebauten Liegenschaften wieder über die Jahre runtergewirtschaftet, bis sie dann ersetzt werden können.

Ein Thema steht interessanterweise nicht im Fokus: Die Nachhaltigkeit, die die Ersatzneubau-Debatte hierzulande dominiert und auf mehreren Ebenen prägt. Auf raumplanerischer Ebene geht es darum, durch Innenverdichtung die Zersiedelung zu stoppen sowie Frei- und Grünräume zu schützen. Und auf der Ebene einzelner Gebäude wird gerne mit der energetischen Nachhaltigkeit argumentiert: Ein Neubau verbraucht im Vergleich zum Bestand oft nur einen Bruchteil der Betriebsenergie, eine Sanierung sei gegenüber einem Neubau teurer und weniger effektiv. Dass ein Neubau in der Erstellung in etwa so viel emittiert wie in 60 Jahren Betrieb wird dabei gerne ausgeklammert. In der Gegenüberstellung mit den anderen Begründungen wirkt es umso offensichtlicher, dass auch die Nachhaltigkeit bisweilen nichts weiter als eine argumentative Strategie ist, um den Abbruch und Neubau zu legitimieren.

Zwei Studentinnen sprachen von der «Halbwertszeit» der Gebäude und städtebaulichen Konzepte. Die Metapher lässt sich mit Blick auf das Semesterthema ausweiten: Die Strategie Ersatzneubau als pauschale Antwort auf alle Probleme gerät von mehreren Seiten unter Druck. Man kann nur hoffen, dass sie bald in sich zerfällt.

Die Erkenntnisse und Beispiele der Studierenden werden im Frühling 2023 in einer Ausstellung über den Ersatzneubau in Zürich im ZAZ Bellerive zu sehen seinkuratiert von der MAS-Programmleitung André Bideau und Susanne Schindler. 

 

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