Meis­ter­haf­tes Wei­ter­bau­en

Bälliz 53–59, Thun; Einstufiger Studienauftrag im selektiven Verfahren

Im Bälliz, auf der Insel zwischen Innerer und Äusserer Aare im Zentrum der Stadt Thun sollen vier baufällige Liegenschaften neu entwickelt werden. Das Team von Baumann Lukas Architektur gewinnt mit einem historisch fundierten Beitrag sowie differenzierten Neubauten und Freiräumen.

Publikationsdatum
21-09-2023

Im Zentrum der Stadt Thun besitzt die Frutiger Pensionskasse vier Liegenschaften, die sich im Stadtteil Bälliz-Freienhofgasse am südwestlichen Rand der Altstadt befinden. Aufgrund des schlechten Bauzustands können die Gebäude nur noch teilweise vermietet werden.

Sie sind im Bauinventar der Stadt Thun als erhaltenswerte Bauten erfasst und das Gebiet Bälliz ist gemäss dem Bundesinventar ISOS ein Ortsbild von nationaler Bedeutung. Seine Struktur muss also im Wesentlichen erhalten bleiben.

Die 2015 erstellte Machbarkeitsstudie wurde von der eid­ge­­nössischen Kommission für ­Na­­tur- und Heimatschutz sowie von der eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege abgelehnt. Zur Erarbeitung neuer Rahmenbedingungen für die Entwicklung des Bälliz und die Durchführung eines Projektwettbewerbs wurde ein Workshop veranstaltet, wozu sich die beiden Kommissionen ebenfalls kritisch äusserten. Insbesondere der fünfgeschossige Ersatzneubau Bälliz 59, der den Abschluss zum Waisenhausplatz bilden sollte, war ihnen ein Dorn im Auge.

Vor diesem Hintergrund schrieb die Ausloberin den Studienauftrag 2022 entsprechend den Grundsätzen der Ordnung für Studienaufträge SIA 143 aus. Hohe Er­wartungen hatten die eidge­­­nös­si­schen Kommissionen an die Respektierung der Riemenparzellierung sowie die Hierarchisierung der ­gassenseitigen Hauptgebäude und der zum Fluss orientierten Nebenbauten. Die Hauptbauten am Bälliz und am Waisenhausplatz mussten die teilnehmenden Büros erhalten, bei den Nebengebäuden in Richtung Aare hatten sie freie Hand. Im Erdgeschoss sind weiterhin publikums­orientierte Nutzungen vorgesehen, in den Obergeschossen vorwiegend Wohnungen. Mit dem Studienauftrag sollten die Teams die maximal mögliche Nutzung ermitteln.

Alle Beiträge der fünf selektionierten Teams wurden zur Be­urteilung zugelassen. Nach den beiden Zwischenevaluationen und der Schlussbesprechung empfahl das Beurteilungsgremium den Beitrag von Baumann Lukas Architektur «aus städtebaulicher und atmosphärischer Sicht und aufgrund der durchdachten Aussenraumgestaltung beziehungsweise Erschlies­sung» einstimmig zur Weiterbearbeitung.

Diversität gewinnt

Der Entwurf des Siegerteams basiert auf der charakteristischen Riemenparzellierung aus dem Mittelalter, bei der sich die Haupthäuser zur Bällizgasse und die Nebenbauten zur Aare ausrichten, und entwickelt sie weiter. Die Hauptgebäude am Bälliz und Waisenhausplatz erhalten einen neuen Brückenkopf zum «Mühlebrüggli». Der dreigeschos­sige Eckbau mit Satteldach ist firstständig zum Waisenhausplatz ausgerichtet. Er übernimmt die First- und Traufhöhen des breiteren Nachbargebäudes, sodass der First beim Neubau asymmetrisch zu ­liegen kommt. Vokabular und Ausrichtung beziehen sich auf die ­Typologie des Bälliz mit Lochfassaden und stehenden Fenstern sowie einer Gliederung in Sockel, Mittelbau und Schrägdach. Im Erdgeschoss ist ein Restaurant mit weiteren gastronomischen Angeboten vorgesehen, in den oberen Geschossen Wohnungen.

Der öffentliche «Gässlihof» ist über einen leichten Rücksprung des Brückenkopfs vom Ufer und über das «Bällizgässli» erreichbar. Er ­behält sein typisches Cachet durch den Erhalt des kleinen Riegbaus an der Aare, einer Malerwerkstatt von 1850. Zusammen mit dem drei-geschos­sigen Neubau im Osten, dem hölzernen Anbau im Süden und der bestehenden Brandmauer im Westen entsteht ein attraktiver, gut ­erschlossener Aussenraum. Ein zweigeschossiger, in der Höhe gestaffelter Pavillon erweitert die beiden Liegenschaften Bälliz 53 und 55 zur Aare hin. Er enthält drei Lofts und die Balkonschicht rückt vom Fluss­ufer ab. Zusammen mit den beiden zugehörigen Hauptgebäuden bildet der neue Pavillon einen ­privaten Wohnhof, in dem – wie auch im «Gässlihof» – ein Baum steht, der ihn zoniert.

Monotonie verliert

Das Team von Salewski Nater Kretz schlägt ebenfalls einen neuen, dreigeschossigen Brückenkopf vor. Im Unterschied zum Siegerprojekt verfügt dieser über ein begrüntes, für die Bewohnerinnen und Bewohner teilweise zugängliches Flachdach. Die Dachform überzeugt das Be­ur­teilungs­gremium nicht, die Meinung ist unisono: «An diesem Standort ist ein Schrägdach die richtige Antwort.» Zur Aare hin sind drei längliche Neubauten vorgesehen, die in der Höhe gestaffelt sind und die Riemenparzellen lesbar machen. Bestand und Neubauten belegen die maximal erlaubte Grund­fläche. Das Architektenteam verlängert die ­Gasse vom Bälliz zur Aare hin, um zusammen mit dem kleinen, seitlich angelagerten Patio einen Aufenthaltsbereich für die Bewohnenden der 28 Wohnungen zu schaffen.

Nicht überzeugen kann das Projekt mit der einseitigen Ausrichtung der Neubauten mit Loggien Richtung Aare, der Dachform des Brückenkopfs und der uniformen Materialisierung, da die gewach­sene Hierarchisierung und Diffe­renzierung von Haupt- und Nebengebäuden verloren gehen. Die Hofbebauung ist zudem überdimensioniert, was zulasten der Aussenräume geht. Zu klein geraten, thematisch überladen und wenig einladend.

In der Geschichte liegt die Kraft

Im Gegensatz dazu entwickelte das Siegerbüro sein Projekt aus einer präzisen Analyse der baulichen Geschichte heraus. Zu den repräsentativen Haupthäusern an der Gasse gesellen sie den markanten Brücken­kopf als Anbau an den Simmenthalerhof und zum historischen Riegbau den fragilen Holzpavillon am Fluss. Der frei zugängliche «Gässlihof» kontrastiert mit dem vom Haupthaus abgeschirmten Wohnhof. Der erfolgreiche Beitrag zelebriert die beliebten Gegensätze von Haupt- und Nebengebäuden sowie privat und öffentlich geradezu exemplarisch und überzeugt mit seiner ­analytischen Klarheit und der stringenten Umsetzung.

Das Verfahren war mit der Machbarkeitsstudie und dem nachfolgenden Workshop vorbildlich vorbereitet. Die zuständigen eidgenössischen Kommissionen haben die Schutzziele für den Wettbewerbs­perimeter klar definiert. Vor diesem Hintergrund ist es fraglich, ob eine zusätzliche Klärung und Schärfung der Rahmenbedingungen im Dialog mit den Teilnehmenden überhaupt nötig waren. Mit nur fünf Beiträgen war die Bandbreite von verschiedenen Ansätzen sehr eingeschränkt. Ein Projektwettbewerb im offenen Verfahren hätte mehr Lösungsvielfalt gebracht und der Jury die Entscheidungsfindung nicht so leicht gemacht.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 30/2023 «Die Sehnsucht nach dem Objekt».

-> Jurybericht auf competitions.espazium.ch.

Teilnehmende

Siegerteam: Baumann Lukas Archi­tektur, Basel; Kuster + Partner, ­Münchenstein; Christoph Etter Fassadenplanungen, Basel
Team 2: Salewski Nater Kretz, Zürich; Melchior Fischli, Zürich; Zeugin Gölker Immobilienstrate­gien, Zürich; Gartenmann Engineering, Luzern; rotzler.land, Gockhausen
Team 3: Neon Deiss Architektinnen, Zürich; Fischer, Zürich; Büro Thomas Boyle, Zürich; raderschallpartner, Zürich
Team 4: Bakker & Blanc Architectes Associés, Lausanne; Matthieu Jaccard, Lausanne
Team 5: Campanile Michetti Archi­tekten, Bern; Jürg Schweizer, Bern; Thomas Graf, Bern; WAM Planer und Ingenieure, Bern

Fachjury

Katrin Jaggi, Architektin (Vorsitz); Heinz Brügger, Architekt; Remo Halter, Architekt; Katrin Schubiger, Architektin; Mateja Vehovar, Architektin (Ersatz)

Sachjury

Andrea Kamer, Frutiger Immobilienentwicklung; Luca Degiorgi, Frutiger Immobilienentwicklung; Florian Kühne, Stadt­architekt, Co-Leiter Planungsamt Stadt Thun; Thomas Judt, Projektleiter Planungsamt Stadt Thun (Ersatz); Pirmin Hüsler, Frutiger Immobilien­entwicklung (Ersatz)

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