Mehr Raum für Theo­rie

Editorial TRACÉS 15-16/2015

Publikationsdatum
28-09-2015
Revision
08-10-2015

Der Trend, dass in Architekturzeitschriften kein Platz mehr für lange oder stark theorielastige Texte ist, ist einem Meinungsdiktat geschuldet: Demnach ist der Leser angeblich nicht in der Lage, sich auf anspruchsvolle Texte zu konzentrieren, und zieht stattdessen tägliche Kurznachrichten und stimulierende Bilder vor. Kritische theoretische Abhandlungen werden nach und nach durch eine neue Art der Pseudo-Information ersetzt, die zu Unrecht davon ausgeht, es gebe jederzeit etwas zu berichten, und die schliesslich mangels brandheisser News nichts weiter als Glossen über hektische Akteure produziert.

Diesem immer stärker werdenden Trend in der Medienlandschaft kann sich auch TRACÉS nicht entziehen, aber wir entschieden uns dafür, ihm mit zwei äusserst fundierten theoretischen Texten zu begegnen: einem Brief, den Yona Friedman seinem Biografen Manuel Orazi anlässlich der Veröffentlichung des Katalogs von Park Books und Archizoom über ihn schrieb, und einem Artikel über Cedric Price von Pier Vittorio Aureli, der an der London School of Architecture lehrt.

Der Text von Friedman erläutert auf sehr ungewöhnliche Weise den Sinn architektonischer Radikalität. Diesbezüglich knüpft er an den Text von Pier Vittorio Aureli an, den wir mit freundlicher Genehmigung des Autors, des Verlegers der englischsprachigen Zeitschrift «Log» und insbesondere von Olivier Peyricot abdrucken, der für die erste Herausgabe in französischer Sprache im Auftrag der Cité du Design in Saint Etienne verantwortlich zeichnet.

Worum handelt es sich? Um nicht mehr und nicht weniger als um eine Rückschau auf einen der Meilensteine schlechthin der radikalen Architektur der 1960er-Jahre: den unübertrefflichen Potteries Thinkbelt von Cedric Price. Der Text von Aureli beschäftigt sich ausgiebig und in aller Ruhe mit einem Thema, das wir bisher zu einseitig als einen der grossen Momente der Öffnung und Liberalisierung der architektonischen Reflexion betrachtet haben. Aureli wagt es, diese von wohlmeinenden Intentionen geprägte Wahrnehmung mit dem aktuellen Stand der universitären Lehre und deren Bezug zum neoliberalen Dogma der letzten 20 Jahre zu konfrontieren.

Durch welch paradoxe Wendung kam es dazu, dass der inspirierende Ansatz von Price rückblickend als Verkörperung der Bekehrung der Universität zur Marktwirtschaft betrachtet wird? Dies ist in etwa der rote Faden dieses Textes, den wir in TRACÉS 15-16/2015 veröffentlichen. Wir tun dies nicht aus einem Geist des Widerspruchs heraus, sondern einfach deswegen, weil wir einen Blick über den Tellerrand der kanonischen und hemmenden Beweihräucherung der Avantgarde der 1960er-Jahre versuchen wollen.

TRACÉS wird auch weiterhin dem Prinzip langer theoretischer Texte treu bleiben. Zwei oder drei Mal pro Jahr nehmen wir uns die Zeit und den Platz, um anspruchsvolle und kritische Gedanken auführlich darzulegen.

Zum Schluss möchten wir auch noch dem CCA Montreal für die kostenlose Überlassung der Illustrationen zum Text über Cedric Price zu danken.

Wir wünschen Ihnen gute Lektüre!

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