Ma­ni­fest in Far­be

Tirana

Die Inititative des Bürgermeisters der albanischen Hauptstadt, Strassenzüge farbig zu streichen, löste vor zehn Jahren eine Bewegung aus – damals unter den anarchischen Umständen einer noch ungefestigten Demokratie. Eine Gestaltergruppe vom Haus der Farbe in Zürich denkt anlässlich einer Reise über das Ergebnis im Stadtbild nach.

Publikationsdatum
25-01-2018
Revision
28-01-2018

Als 2003 die Publikation «Tirana in Farbe»1 erschien, prägten sich nie dagewesene Eindrücke von bunten Häusern in chaotischer Umgebung unwiderruflich in unseren Köpfen ein. Orange, gelb, rot gestreifte Häuser, Fassaden mit Karos und Farbfeldern in allen Nuancen des Farbkreises, ein grünes Haus mit gelben Pfeilen und eines mit einem grossen Schriftzug «these are the things we are fighting for». Wir entdecken Buntheit in einer Stärke, wie sie bei uns undenkbar wäre.

Das Buch war unser erster Kontakt mit Tirana und seiner Farbbewegung; es blieb bei einzelnen plakativen Bildern und unzusammenhängenden Fakten. Im Nebenher des Alltags reduzierten sie sich auf einige starke Einzelobjekte, deren Farben mit der Zeit in der Erinnerung eher kräftiger wurden, sicher nicht verblassten, wie es in Wirklichkeit geschah. Die Zeit blieb für uns quasi stehen. An Tirana dachten wir immer dann, wenn von politisch motivierter Stadtgestaltung mit Farbe die Rede war, von der Kraft von Farbe im Stadtraum und im Besonderen als Mittel der Sozialpolitik. Es war wie ein Reflex.

Farbe als politisches Signal

Die Geschichte des farbigen Tirana beginnt im Jahr 2000 mit der Wahl von Edi Rama zum Bürgermeister. In seiner elfjährigen Amtszeit hat er die Stadt von kommunistischer Abgeschlossenheit in einen pulsierenden urbanen und weltoffenen Ort überführt. Dies geschah mithilfe der Bevölkerung und mit Farbe. Hauptmoti­vation von Edi Rama war, den öffentlichen Raum zurückzuerobern, nachdem er jahrzehntelang ein «streng organisiertes Gefängnis»1 war und nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems ein Chaos «ohne Recht und Ordnung». Farbe war das Signal für eine kollektive Aneignung des Raums, «ein Katalysator des Wechsels», Kommunikation zwischen den Individuen und ihrer Umgebung. «Mit Farbe wollten wir zeigen, dass etwas geschah inmitten dieser grauen Welt. Es sollte so etwas wie ein Schock für die Augen geschaffen werden. Mehr als um eine ästhetische Angelegenheit ging es uns um eine politische.»

Der Bürgermeister war überzeugt, dass farbige Häuser ohne weiteres Dazutun mehr als nur Kosmetik seien; Farbe sei immer auch Inhalt und habe einen Einfluss auf Kommunikation und Beziehungen; sie sei eine Sache des Stolzes und der
Würde. Er stiftete zu einer Farbbewegung an, in der Farbe zu einem Alltagsthema wurde, das weder Mehrheit noch Applaus sucht. Denn der Kompromiss ist grau, sagt er. So wurden zu Beginn Häuser bemalt, ohne die Bewohner zu fragen. Farbe war das Instrument, um ein neues Stadtbild zu formen, ein primitiver Dekonstruktivismus. «Inzwischen gibt es so etwas wie eine Kettenreaktion. Leute beginnen aus eigenem Antrieb ihre Häuser zu bemalen. Starke Farben sind Teil des Lebens, bemalte Häuser eine Mehrheitshaltung.»1 Viele Entwürfe machte Edi Rama, Künstler und ehemals Basketballspieler, selbst; die Ausführung wurde damals einer staatlichen Malerfirma übertragen. Zudem lud er Künstler ein, Entwürfe zu machen.

Alles scheint möglich

Das Echo der Farben von Tirana hat 2017 endlich die Idee gezündet, mit eigenen Augen zu schauen. Wir planten eine Studienreise mit angehenden Farbgestalterinnen und -gestaltern nach Tirana. Den Anspruch an uns selbst formulierten wir wie folgt: Wir wollten uns ein persönliches und differenziertes Bild machen von der Kultur und Kulturgeschichte von Tirana, vom städtischen Raum und seinen Farben. So haben wir uns in die Literatur Albaniens vertieft. Romane von Ismail Kadare und seiner Frau Helena haben uns eine Welt eröffnet, die faszinierend, sympathisch und zuweilen auch beunruhigend ist – immer aber zutiefst menschlich.

Im Vorfeld der Reise beschäftigte uns die Frage: Wie werde ich mit meinen persönlichen ästhetischen Massstäben umgehen, mit meinen Wertvorstellungen in Bezug auf Angemessenheit in der Farbgestaltung? Uns trieb die Ambivalenz an, etwas zu betrachten, das wir zu tun uns niemals erlauben würden. Inwiefern würde unser gestalterisches Credo erschüttert – unser didaktisches Konzipieren infrage gestellt?

In Tirana angekommen, stellten wir zuerst fest: Die Vegetation ist dichter geworden, als sie auf den Bildern von 2003 war, die Fassaden stehen nicht mehr so frei im Licht. Die Patina und die teilweise verblichenen Farben schmeicheln unseren Augen. Und es sind viel mehr Häuser bunt, als wir dachten. Neben den eingängigen Vorzeigeobjekten, deren Abbildungen weltweit kursieren, gibt es tatsächlich unzählige weitere Ob­jekte, vorwiegend Plattenbauten – mit unscheinbaren, raffinierten, plakativen und spektakulären Farbgestaltungen. Die Grenze zwischen Ornament und bauteilbezogener Farbgestaltung ist fliessend – es scheint alles möglich. Die farbigen Gestaltungen lösen sich da und dort komplett von der Architektur, sprengen den Rahmen. Die Fassaden werden so Teil des öffentlichen Raums, mehr als dass sie zum Gebäude gehören. Dies fasziniert und irritiert zugleich. Wurde nicht im Barock Ähnliches gedacht und gebaut – Schaufassaden und falsche Kuppeln, die den öffentlichen Raum definieren?

Als Anstrich musste und muss billiges Material verwendet werden, offensichtlich wird auch dieses manchmal knapp, was sich dann zeigt, wenn Farbe im Prozess ausgegangen ist oder verdünnt werden muss. Wir empfinden den Makel als charmant, weil er eine Geschichte erzählt und Hintergründe illustriert. Das Flüchtige, das nicht zuletzt darin besteht, dass die Farben über teils erodierte Oberflächen von Plattenbauten gestrichen wurden, verstärkt den Wert.

Kitsch oder Geschäftsmodell

Die Stadtverwaltung investiert angesichts der beschränkten Mittel bis heute bewundernswert viel in die Aufwertung des öffentlichen Raums und die Pflege des Grünraums. Trotz der allgegenwärtigen Buntheit ist Grün die wichtigste Farbe in Tirana – das ist überraschend. Die Lana – der Fluss – ist ein Orientierungspunkt, ebenso der künstliche See und der grosse Boulevard. Sie ermöglichen eine Fokussierung, bilden Schneisen, ähnlich Ventilen für Luft und Freiraum. Die Stadt atmet sichtbar ihre Freiheit.

Tirana befindet sich in einem gewaltigen Umbruch, viele Häuser aus der Nachkriegszeit sind baufällig – die Stadt wird sich in den nächsten Jahren verändern. Momentan ist sie gewissermassen in der Entwurfsphase. Es wird experimentiert und gespielt. Die Stadt braucht einen sorgfältigen Masterplan, der in seinen Entscheiden diese Phase berücksichtigt. Sollte man die Farben von Tirana unter Denkmalschutz stellen? Man sollte sie dokumentieren, über sie sprechen und von Tirana lernen, im Sinn von «denk mal» statt «Denkmal».

Es wäre ein Eingeständnis an das Vergessen, wenn die Spuren von der Emanzipation der Stadt mit den individuellen Bürgerinnen und Bürger konserviert würden. Aus der Anschauung allein wird kaum je klar, wessen gestalterische Hand hinter einem Farbkonzept steht. Entlang der Lana sind viele farbige Fassaden, ja ganze Häuserzeilen der ersten Stunde zu sehen – der Freiraum entlang des Flusses wurde damit zu einem Gegenstück zum faschistischen Boulevard erhoben.

Eine weitere Frage hat uns umgetrieben: «Warum sind die Farben von Tirana kein Kitsch, und unter welchen Bedingungen würden sie es?» Einerseits ist es die Notwendigkeit, die ihrem Entstehen zugrunde liegt, andererseits ist es das urbane Chaos, das die Individualität und das Experiment scheinbar mühelos erträgt. Vielfalt, Spiel und Humor finden ihren Weg durch die unterschiedlichen Quartiere und bereichern und beleben sie. Störungen entstehen dann, wenn ein historisch gewachsenes Bild kopiert und an Neubauten appliziert wird. Dann wird sichtbar, was passiert, wenn Rezepte zur Anwendung kommen – nämlich das Kippen ins Kitschige. Dies ist um den Markt «Pazar i Ri» geschehen. Auf den Fassaden von Neubauten wurde eine Dekora­tion im Stil eines albanischen Teppichs in makelloser Manier appliziert. Hier wird deutlich, dass sich die Ästhetik einer gesellschaftlichen Bewegung nicht für Kommerz und Marketingzwecke kopieren lässt, ohne dass das Original verraten wird. Ein Rezept ist kein Konzept.

Notwendig und funktional

Wie reagieren zeitgenössische Architekten auf Tirana? Daniel Libeskind hat 2014 eine gigantische Wohnüberbauung mitten in der Stadt errichtet – eine befremdliche, weisse, dekonstruierte Wohnburg. Die Bewohnerinnen und Bewohner erschaffen sich heute Individualität auf den Balkonen, mit Storen und Pergolas. Als wir das Haus betrachten, haben wir keine Zweifel: Weiss ist definitiv keine Alternative für Tirana – Tirana braucht auch gar keine Alternative, sondern ein beherztes Erfassen und Weiterbauen im Sinn des Bestands. Die Antwort von Libeskind ist jedoch «Tabula rasa» und blendet die letzten 20 Jahre Stadtentwicklung aus.

Der TID Tower von 51N4E Architekten aus Brüssel aus dem Jahr 2016 hingegen, ebenfalls ein neues Gebäude, setzt sich mit dem aktuellen Tirana ausein­ander, er flimmert, ist malerisch, hat eine offene Form. Das Hochhaus nimmt Bezug zur Stadt und antwortet ihr mit Standfestigkeit. Überblick und Orientierung. Das Team gab der Stadt ein Wahrzeichen, das als Vorbild für weitere Neubauten dienen sollte.

Zuletzt kann man sich fragen, ob Farbe in Tirana zur Kultur geworden ist und unterdessen untrennbar mit der Stadt verbunden ist. Die Antwort ist eher nein, denn es ging eigentlich nie um Farbe und auch nicht um Architektur – es ging um die Menschen und den öffentlichen Raum. Die Fassaden sind wie Litfasssäulen für Botschaften benutzt worden. Da die Farb­bewegung aus wirklicher Notwendigkeit entstanden ist, war sie von Anfang an vor allem funktional. Diese neuen Werte sind unterdessen Kultur geworden, die von den Einwohnerinnen und Einwohnern Tiranas geschätzt und gelebt wird. Die Frage, ob er subjektiven, ästhetischen Idealen gerecht werde, hat Edi Rama vielleicht für sich gestellt, die Antworten aber wurden in mannigfaltiger Weise erweitert und appliziert.

Was in Tirana entstanden ist, musste nicht in erster Linie schön sein, sondern unmittelbar wirken. Dass es dies so nachhaltig tut und uns heute noch betört, ist ein Merkmal dafür, dass es auch unsere ästhetischen Sinne über die politischen Umstände hinaus berührt und erfolgreich ist.

Anmerkung

  1. Alle Zitate stammen aus «Tirana in Farbe», Luzern: Velvet Edition 2003.

Literatur
S AM-Ausstellung «Balkanology», Neue Architektur und urbane Phänomene in Südosteuropa.
Katalog: Christoph Merian Verlag, Basel 2008, 92 S., ISBN 978-3-85616-377-8, Fr. 19.–

 

 

 

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