Mai­land: Stadt und Na­tur neu fü­gen

Eine Brache und ein seit einiger Zeit leer stehendes Hochhaus im Zentrum von Mailand, knapp einen Kilometer südwestlich vom Hauptbahnhof, sind der Angelpunkt eines ambitiösen Projekts, das der Gegend neues Leben einhauchen soll. Ende Januar wurde es in einer Online-Veranstaltung vorgestellt.

Publikationsdatum
09-02-2021

Im Quartier Porta Nuova-Garibaldi neben der Piazza Gae Aulenti, knapp 1 km von der Stazione Milano Centrale entfernt, liegt eine Grünfläche, die sich «Parco Biblioteca degli Alberi» nennt. Dort war ungefähr ab dem Jahr 2000 eine gegen 90'000 m² grosse Brache entstanden, jetzt wächst langsam, mit geometrisch streng geordneten Wegen, eine Art botanischer Garten für Bäume nach.

Bei der Einmündung der vom Hauptbahnhof her geführten Via Giovanni Battista Pirelli in die tangential zur Brache verlaufenden Via Melchiorre Gioia steht das Hochhaus Pirelli 39 aus den 1960er-Jahren, das «Pirellone» genannt wird. Bis 2015 diente es als Sitz der Technischen Dienste der Gemeinde Mailand.

Die Immobilienfirma Coima hat diesen Bau anlässlich einer von der Stadt Mailand ausgeschriebenen Versteigerung für 193 Millionen Euro erworben und Ende November 2019 einen internationalen Ideenwettbewerb für das Gebiet «Porta Nuovo Gioia» ausgeschrieben. 70 Teilnehmer aus 15 Ländern beteiligten sich daran. Das Rennen machten Stefano Boeri Architetti (Mailand) und das Studio Diller Scofidio + Renfro (DS + R, New York) mit einem Vorschlag, der nach eigenen Worten Stadt und Natur neu fügen will.

Sanierung des Bestands, ein Neubau und eine begrünte Brücke

Das bestehende Hochhaus soll nordseitig eine über die ganze Höhe reichende Erweiterung erfahren, statisch ertüchtigt werden und insgesamt eine neue Gestaltung erfahren. Dies ist möglich, weil die Immobilie von einer um 25% erhöhten Ausnutzungsziffer profitieren kann, sofern der Plan von der Gemeinde angenommen wird.

Im Park soll ein zweites Hochhaus entstehen, das vorwiegend Wohnungen enthalten wird. Verbunden werden die Gebäude mit einer über die Via Melchiore Gioia führenden gedeckten Brücke, die mit öffentlich nutzbaren Infrastrukturen versehen ist – von Bars, Cafeterias und Galerien über Geschäftsflächen bis hin zu einem wie eine Rampe in den Park gerichteten Theater. Die jetzt sechs Fahrspuren breite Strasse wird auf vier Spuren reduziert.

Der als Holz- und Massivbau geplante Neubau wird mit 25 Geschossen 110 m hoch und soll an seinen Fassaden stockwerksweise mit 13'000 Büschen und 420 Bäumen bepflanzt werden – ähnlich den beiden bestehenden, «Bosco Verticale» genannten Bauten von Boeri. Bei dieser neuen Version ist das Grünzeug allerdings nicht über die Fassade verteilt, sondern wirkt eher wie in einen Schubladenstock eingefügt. Auch die Brücke wartet mit Bepflanzungen auf, und die Umgebung soll auch neu gestaltet begrünt werden.

Boeri rechnete vor, dass derart 14 t CO2 absorbiert und 9 t Sauerstoff jährlich produziert werden. Mit Photovoltaikelementen bestückt, soll der Turm etwa Zweidrittel seines Energiebedarfs selber produzieren. Über den für diesen Gewinn notwendigen baulichen Aufwand, die Installationen für Bewässerung usw. und die später anfallenden Unterhaltskosten wurde nicht berichtet.

Unbestrittene Aufwertung des Gebiets

An der Porta Nuova-Garibaldi wurde in den letzten Jahren viel gebaut. Die beiden Wohntürme des «Bosco Verticale» stehen dort, der Torre Unicredit unmittelbar vor dem Ausgang des Bahnhofs Garibaldi ragt 230 m hoch, und insgesamt sind dort gegen ein Dutzend neue Hochhäuser entstanden.

Die zuvor weggezogene Industrie hinterliess ungenutzten Raum, der jetzt zu einem neuen urbanen Zentrum wird. Porta Nuova gilt als eines der grössten Sanierungsprojekte Europas. Statt wie bisher in die Fläche wächst Mailand dort dezidiert in die Höhe.

In das Gebiet «Porta Nuova Goia» investiert die Firma Coima insgesamt rund eine Milliarde Euro. Es sollen rund 270’000 m² bebaute oder sanierte Flächen entstehen, 20’000 m² öffentliche Bereiche und auf 3'600 m² Fahrrad und Fusswege gebaut werden. Der Masterplan entstand in Zusammenarbeit mit der Stadt Mailand. Im Planungsteam waren die Architekten und Planer Gregg Jones (USA), Patricia Viel vom Studio Antonio Citterio (Mailand) und Chris Choa von AECOM (London). Für die Animation im öffentlichen Raum zeichnete Ibrahim Ibrahim von Portland Design (London), und als Landschaftsarchitekten waren Jim Burnett (USA) und Andreas Kipar (Deutschland) tätig.

Elizabeth Diller, Partnerin von Diller Scofidio + Renfro, zeigte sich erfreut über diese Aufgabe und nannte sie «eine grossartige Gelegenheit, ein neues Modell der gemischten Bebauung und des nachhaltigen Stadtwachstums zu entwickeln und zu realisieren». Stefano Boeri gab sich euphorisch und sagte: «Dieses Projekt wird Pirelli 39 Gebäude wiederbeleben und einen neuen Turm schaffen, der Architektur und Natur miteinander verbindet. Es ist eine Vision für ein zukunftsorientiertes Mailand das sich mutig den Herausforderungen der Klimakrise stellt.»

Der Ausführungsplan ist mehr als ambitiös. Im Idealfall soll das Projekt bis in vier Jahren stehen und anlässlich der Olympischen Winterspiele in Mailand und Cortina d’Ampezzo in Betrieb sein. Das «Sì» vom Palazzo Marino, der Stadtverwaltung, steht noch aus, die Gemeinde hat bislang über den Gesamtplan noch nicht entschieden.

Wettbewerbsjury

 

Gregg Jones, Partner des Studios Pelli Clarke Pelli Architekten, New Haven USA

 

Alberto Artioli, vormals Soprintendente Archeologia, Belle Arti e Paesaggio, Mailand

 

Nicolo Di Blasi, vormals Universität Luigi Bocconi, Mailand

 

Manfredi Catella, Gebriele Bonfiglioli, Matte Ravà und Ettore Nobili – Coima SGR, Mailand

 

Leopoldeo Freyrie, Freyrie Flores Architettura, Mailand (Responsabile Unico del Concorso)

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