La­wi­nen­schutz: «An­pas­sungs­stra­te­gien wach­sen über Jahr­hun­der­te»

Der Umgang mit aussergewöhnlichen Schneemassen hat in der Schweiz eine lange Tradition. Vor allem die Walser mussten sich mit der existenziellen Bedrohung auseinandersetzen. Der Umwelthistoriker Christian Rohr betrachtet diese Naturgefahr in einem historischen Kontext.

Publikationsdatum
06-02-2020

TEC21: Herr Rohr, Sie beschäftigen sich als Historiker mit Lawinen und der Frage, wie Gesellschaften mit dieser Naturgefahr umgegangen sind. Woher kommt Ihr Interesse?

Christian Rohr: Als ich begann, mich damit zu beschäftigen, gab es bereits viele Forschungsarbeiten zu anderen Naturgefahren, zu Überschwemmungen oder Bergstürzen. Aber relativ wenig über Lawinen, obwohl diese im Alpenraum allgegenwärtig waren. Das weckte mein Interesse.

TEC21: Warum waren Lawinen nur wenig im Fokus?

Christian Rohr: Der überwiegende Teil der Lawinen wird nicht zur Katastrophe. Die Vulnerabilität ist vergleichsweise gering. Es waren meist nur wenige Menschen in einer Talschaft betroffen. Daher erhielten Lawinenereignisse weniger Aufmerksamkeit als Überschwemmungen in städtischen Gebieten.

TEC21: Als die Menschen die Alpen besiedelten oder wie die Walser neue Gebiete in höheren Lagen rodeten und urbar machten, nahmen diese Gesellschaften die Lawinengefahr einfach in Kauf?

Christian Rohr: Siedeln in extrem hohem Gelände war ein ständiges Lernen. Die Ausdehnung der Walser im 14. und 15. Jahrhundert, ausgehend vom Oberwallis bis in den östlichen Alpenraum, scheint auf einem Trial-and-Error-System beruht zu haben. Man ging höher hinauf, um neue Weideflächen zu gewinnen. Es ging darum, sich Schritt für Schritt mit der Landschaft vertraut zu machen und zu lernen, die Lawinengefahr einzuschätzen.
Man darf aber nicht vergessen, dass die Walser durch die Obrigkeiten einen besonderen Rechtsstatus, sogenannte Walserrechte, erhielten. In der Erbweitergabe hatten sie eine bessere Stellung als die sonstige bäuerliche Bevölkerung. Auch eine niedrige Gerichtsbarkeit und steuerliche Begünstigungen gehörten dazu. Man war sich wahrscheinlich der Gefahren bewusst und hat diese in Kauf genommen.

TEC21: Es fand ein Anpassungsprozess statt. Wie kann man sich diesen vorstellen?

Christian Rohr: Aus den Freiburger und Waadtländer Alpen sind einige Beispiele bekannt, wo Siedlungsplätze von Bauernhöfen bezüglich der Lawinengefährdung optimiert wurden. Die kleinräumige Anpassung an das Gelände – es geht um 50 bis 100 m – erfolgte vermutlich aus der Erfahrung. Die Walser bauten ihre Häuser teilweise auch in Reihen vertikal zur Hangneigung. Und sie verstärkten die Keller, um so Lawinenniedergänge überleben zu können. Dazu zählt auch die Anordnung der Gebäude in den Hang hinein, sodass Lawinen darüber gleiten können.
Eine angepasste Bauweise konnte die Gefahr verringern, auf dem Weg zu sein ist aber nach wie vor ein Problem. Früher haben die Kinder gelernt, auf dem Weg zur Schule immer den Hang hinauf­zuschauen und genau hinzuhören. Nicht nur die grossen Schutzverbauungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts, sondern auch diese kleinen Details im Verhalten – später auch technische, wie Stromleitungen unterirdisch zu legen – sind die eigentlichen Anpassungsstrategien, die über Jahrhunderte gewachsen sind.

TEC21: Sind die bei den Walsern verbreiteten dezentralen Siedlungsstrukturen mit Einzelhöfen, wie in St. Antönien, eine Art Risikoverteilung?

Christian Rohr: Ich denke eher nicht, denn viele Streusiedlungen erweisen sich im Katastrophenfall nämlich eher als Nachteil, weil Hilfe schwer eintreffen kann und Evakuierungen schwierig sind. Der Grund für die dezentrale Wohnweise der Walser lag wohl eher in den landwirtschaftlichen Strukturen.

Eine ausführlichere Version dieses Interviews ist erschienen in TEC21  4/2020 «Leben mit Lawinen».

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