«Be­we­gung ist für die Er­fah­rung von Ar­chi­tek­tur zen­tral»

Interview mit Karin Gimmi, Kuratorin

Aktuell zeigt das Museum für Gestaltung Zürich die Ausstellung «Tatiana Bilbao Estudio – Architektur für die Gemeinschaft». Kuratorin Karin Gimmi spricht im Interview über die Parallelen von Theaterbühne und Städtebau sowie die soziale Komponente im Werk von Tatiana Bilbao.  

Publikationsdatum
12-03-2024


Karin Gimmi, dies ist Ihr letztes Projekt im Museum für Gestaltung. War diese Ausstellung über das Büro der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao ein Traumprojekt?

Das war es sicher insofern, als ich seit längerer Zeit eine Ausstellung über Architektur machen wollte. Dieses Gebiet wird von unserem Museum seit jeher abgedeckt, aber es stellt auch einen Spezialfall dar, weil wir anders als im Design nicht mit den Originalobjekten arbeiten können. Diese Herausforderung wollte ich sehr gerne annehmen.


Sie haben sie so angenommen, dass Sie sich den Konventionen von Architekturausstellungen entzogen haben und kaum Pläne, keine Fotogalerie im herkömmlichen Sinn und keine Filme der Bauten zeigen.

Ja? So habe ich mir das noch nicht überlegt. Gemeinsam mit dem Tatiana Bilbao Estudio haben wir daran gearbeitet, eine Form zu finden, um uns den Themen dieser Architektur anzunähern. Dabei sind wir zum Schluss gekommen, dass es in erster Linie eine analoge Ausstellung sein solle: Das Zeichnen von Hand ist ein zentrales Mittel dieses Büros, um ganzheitliche Antworten auf die Fragen an die Architektur zu finden.

→ Lesen Sie auch «Wie das Kol­lek­tiv zur Col­la­ge kommt: Ta­tia­na Bil­bao Estu­dio», die Rezension zur Ausstellung


Neben diesen Zeichnungen und Collagen gibt es bühnenbildartige Elemente, die von der Decke hängen. Woher diese Erfindung?

Sie kennen bestimmt das Teatro Olimpico in Vicenza von Andrea Palladio: Hier sind die Theorien von Sebastiano Serlio in eine Bühnenszenografie umgesetzt, die wie eine gebaute Stadt aussieht. Das hat mich daran erinnert, wie Architektur und Städtebau mit theatralen Mitteln und aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden können. Im Prinzip haben diese hängenden Elemente – es sind zu jedem der sieben ausführlich gezeigten Projekte drei oder vier – die Aufgabe, die Besuchenden in Bewegung zu bringen. Man mäandriert durch die Ausstellung und sieht auf der einen Seite die Fotografien, auf der anderen Seite Pläne und Erläuterungen zu den Projekten. Man dreht sich selbst um diese hängenden Elemente. Dies war ein Trick, wie wir das Publikum dazu bringen, sich im Raum zu bewegen, denn diese Bewegung ist sowohl für die Erfahrung von Architektur als auch für diese Ausstellung zentral.


Und nun von Zürich nach Mexiko: Sie sind nach Mexiko zu Tatiana Bilbaos Architekturbüro und ihren Projekten gereist. Ist diese Recherche nach Plan verlaufen oder gab es Überraschungen?

Ich hätte gerne alle der gebauten Projekte in Mexiko besucht, doch dies war nicht möglich, weil die Distanzen gross sind. Vor Ort gab es vielerlei positive Überraschungen: Die zwei Projekte, die ich gesehen habe, haben mir geholfen, ihre Architektur besser zu verstehen und sie nun entsprechend zu vermitteln. Dies waren der Jardín Botánico in Culiacán, an dem seit 20 Jahren ständig weitergebaut wird, und das neue, eindrückliche Aquarium und Meeresforschungszentrum in Mazatlán. Beides sind grosse Bauwerke mit einer enormen Sorgfalt bis ins Kleinste.


Die Ausstellung legt das Gewicht auf Bauten für die Gemeinschaft. Tatiana Bilbao hat auch viele private Räume entworfen, für die Reichsten genauso wie für die Ärmsten. Wie haben Sie diese Extreme erlebt?

Mexiko ist ein Vielvölkerstaat und unglaublich vielschichtig. Der Botanische Garten zum Beispiel liegt in einem Staat, über den vor allem im Zusammenhang mit dem Terror der Drogenmafia berichtet wird. Vor Ort aber präsentierte sich mir ein ganz anderes Bild: Der Jardín Botánico in Culiacán ist eine Oase mitten in der Stadt. Ich habe gelernt, was Architektur in sozialer Hinsicht bewirken kann. Dieser Garten ist mit Kunstwerken bestückt und bildet einen geschützten Raum. Morgens um fünf haben wir zusammen mit Leuten aus der Nachbarschaft die Lichterscheinungen in James Turrells Pavillon und den Morgengesang der Vögel erlebt. Auf dem Rückweg sind wir an einer Gruppe Frauen bei Yogaübungen vorbeigekommen. Es war eine magische Erfahrung in einer Stadt, die in anderer Hinsicht auch Angst einflössen könnte. 


Wann also spielt die Architektur beim Bilden von Gemeinschaft eine Rolle?

Wir sagen oft, dass jede Architektur in der einen oder anderen Weise für die Gemeinschaft da sein will. Ich habe gemerkt, dass die Architektur in Mexiko in dieser Hinsicht eine tiefergehende Bedeutung und auch eine grössere Verantwortung hat. Aus einer europäischen Sicht könnten wir denken, dass die sozialen Aspekte der Architektur nicht vordringliche Themen sind. In Mexiko erfahren wir, dass Umwelt und Gemeinschaft zentrale Werte sind. Und sie sind es auch bei uns.


Was gibt es bei Tatiana Bilbao zu lernen?

Was ich bei Tatiana Bilbao erleben konnte, war die Rolle der Gestaltung. Die Bauten mögen gross und roh sein, aber sie sind immer bis ins letzte Detail durchdacht. Bilbao hat am Anfang ihrer Berufstätigkeit lange bei der Stadtplanung gearbeitet und kennt die Probleme eines Landes sehr gut, in dem rund die Hälfte der Menschen in grosser Armut lebt. Und sie kennt auch alle Gesetze und Bedürfnisse, die es im sozialen Wohnungsbau zu berücksichtigen gilt. Es beeindruckt mich enorm, wie eine Frau über zwei Jahrzehnte ein derart erfolgreiches Büro und ein so eindrückliches Œuvre mit einer solchen gesellschaftlichen Relevanz entwickelt hat.

Die Ausstellung «Tatiana Bilbao Estudio – Architektur für die Gemeinschaft» ist noch bis zum 2. Juni 2024 im Museum für Gestaltung Zürich auf dem Toni-Areal zu sehen.

 

Veranstaltungshinweis

21. März 2024: Together, Karin Gimmi, Kuratorin der Ausstellung, im Gespräch mit Tatiana Bilbao, Gründerin von Tatiana Bilbao Estudio, und Anna Puigjaner, Professorin für Architektur und Care, ETH Zürich, (mit Anmeldung)

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