Be­wohn­ter Dach­stuhl

Am Ende einer Serpentine, die sich vom Ufer des Genfersees hinaufschlängelt, befindet sich das protestantische Internat École Protestante d’Altitude (EPA) in Saint-Cergue (VD). Bunq architectes entwarfen für die neue Turnhalle eine bewohnbare Dachkonstruktion.

Publikationsdatum
09-10-2025

Im Internat auf 1050 m ü. M. werden seit 1960 Kinder aufgenommen, die die Schule abgebrochen haben. Im Winter wird Ski gefahren, im Sommer gespielt, was grosse Aussenflächen erfordert, auf denen sich die Jugendlichen austoben können.Bunq architectes wurde zunächst mit einer Machbarkeitsstudie für eine neue Turnhalle beauftragt. Auf dem bereits dicht bebauten, direkt an einem Felsen gelegenen Gelände war jedoch kaum Platz dafür. Die Architekten schlugen daher vor, das baufällige Gebäude, in dem eine der drei Altersgruppen des Internats untergebracht war, abzureissen und an seiner Stelle eine Sporthalle mit darüberliegenden Zimmern zu errichten.

Diese Entscheidung ermöglichte eine optimale Nutzung der bestehenden Topografie und vermied umfangreiche Aushubarbeiten. Die talseitige Aussenwand der Turnhalle dient ausserdem als Stützmauer. Die Entwurfsidee, die Turnhalle mit den darübergestapelten Zimmern zwischen der Felswand und der Stützmauer zu platzieren, entwickelten sie in enger Zusammenarbeit mit dem Bauingenieurbüro Ingphi.

Topografie und Typologie

Die Hanglage ermöglicht eine problemlose Gestaltung aller Zugänge: Die Turnhalle im Erdgeschoss kann auch für Veranstaltungen ausserhalb des Internats genutzt werden und verfügt über einen Notausgang direkt ins Freie. Der Halleneingang befindet sich im ersten Stock, im Zwischengeschoss bietet eine Galerie Einblick in die Turnhalle. Unter dem Dach befindet sich der Wohnbereich für die Internatsbewohner: Die Zimmer sind auf der Südseite, die Sanitäranlagen und die Gemeinschaftsräume auf der Nordseite angeordnet.

Verbunden sind die Bereiche durch einen Korridor, der das gesamte Gebäude durchquert. Die Strenge des Quaders wird durch optimale Anpassung jedes Geschosses ans Gelände aufgebrochen. Die Turnhalle schmiegt sich an den Kalksteinfels und die Lagerräume besetzen den Zwischenraum.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Stadt aus Holz – Gesundheitsbauten und Kreislaufwirtschaft». Weitere Artikel zum Thema Holzbau finden Sie in unserem digitalen Dossier.

Struktur

Prägend für das gesamte Gebäude ist die kühne asymmetrische Dachform. Seit der Teilnahme am Wettbewerb für das Kloster in Pully (in Zusammenarbeit mit Galletti Matter) 2017 fasziniert besonders ein Referenzprojekt die Architekten: das Zeughaus in Teufen (SG) vom Architekten Felix Wilhelm Kubly. In dem zum Museum umgenutzten Gebäude ist das Erdgeschoss komplett stützenfrei. Dies ist möglich dank des Hängetragwerks, das die Böden der oberen Stockwerke trägt.

In enger Zusammenarbeit mit dem Bauingenieurbüro Ingphi analysierten bunq architectes den Kräfteverlauf der Tragstruktur, um sie auch im Internat anzuwenden und so die Turnhalle freizuspielen. Aber ihre Überlegungen gehen noch weiter: Um Licht in die Tiefe des oberen Geschosses zu bringen, versetzen sie die Dachflächen im First, sodass ein horizontaler Fensterstreifen die Sonne im Süden einfängt. Die Stützen im oberen Geschoss hängen an den Dachbindern und tragen den Boden des Internats. Die horizontalen Zangen aus Eschenholz im Dach sind auf Zug beansprucht. Im Gegensatz zu Fichtenholz, aus dem der Rest des Hängewerks gefertig ist, ermöglicht die härtere Esche schlankere Dimensionen.

Die geneigten Zangen an der Südfassade entlasten die Stützen in der Aussenwand, fassen den Aussenbereich im oberen Geschoss und halten gleichzeitig den Sonnenschutz für die Sporthalle. Sie fussen in kleinen Betonsockeln, die auf der neuen Steinmauer liegen. «Holz mag keine nassen Füsse», erinnert Olalla Lopez von bunq, die die Baustelle leitete. Die Neigung des Portikus erinnert an die Bauweise ländlicher Gebäude im Kanton Freiburg und im Waadtland, die bunq bereits zehn Jahre zuvor in ihrem Wohnprojekt für die Institution Lavigny umgesetzt hatte. Hier ist die Geste jedoch nicht nur zweidimensional ausgestaltet, sondern gewinnt eine Reife und dreidimensionale Kraft, die der engen Zusammenarbeit zwischen Architektur und Statik zu verdanken ist.

In Saint-Cergue wiederholt sich dieser Portikus in der Tiefe des Gebäudes, rhythmisiert durch den Raster der Zimmer, der an der Fassade erkennbar ist. Die Strukturelemente wurden mit Öl behandelt, um sie von den Schreinerarbeiten abzuheben. Vorvergraute Holzlamellen schützen die grossflächige nach Süden ausgerichtete Glasfassade vor der Sonneneinstrahlung. Das Dach und die Giebelwände sind mit grossen Welleternitplatten verkleidet, die von zwei riesigen Rundfenstern durchbrochen sind und der Fassade einen verspielten Ausdruck verleihen. 

Die Schönheit dieses Projekts liegt somit in seiner strukturellen Klarheit, die sich bis in die Gliederung des Raums fortsetzt: Die Balken sind nicht nur statische Elemente, sondern tragen auch zur Einheit des Gebäudes bei. Einheit im Sinne von Harmonie, aber auch im Sinne eines Masssystems.

AM BAU BETEILIGTE

 

Bauherrschaft: EPA St-Cergue

Architektur: bunq architectes, Nyon

Statik: INGPHI, Lausanne

Holzbau: JPF-Ducret, Bulle

Fenster und Aussentüren aus Holz: Menuiserie Mayland, Sainte-Croix

 

GEBÄUDE

 

Geschossfläche: 1048 m2

Netto-Geschossfläche: 900 m2

Volumen: 5245 m3

Label: Schweizer Holz

Auszeichnung: Prix Lignum 2024

 

HOLZ UND KONSTRUKTION

 

Konstruktion: Hängewerk / Decken und Dach aus Brettschichtholz

Holz: Dachstuhl: Fichte / Tanne (Schweiz); Zangen auf Zug: Esche (Schweiz)

Fassadenfläche in Holz: 300 m2

Holzmenge: 75 m3 (Dach) 110 m3 (CLT); 1000 m2 (Kreuzlattung)

 

DATEN UND KOSTEN

 

Gesamte Bauzeit: 18 Monate

Aufrichte Konstruktion und Fassade: 5 Wochen

Produktion Konstruktion und Fassade: 8 Wochen

Kosten (BKP 1–9): 5.9 Mio CHF inkl. MwSt.

Kosten Tragstruktur: 525 000 CHF ohne MwSt.
 

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