«Ich ha­be ver­sucht, die un­er­bitt­li­che ­Ho­no­rar­kon­kur­renz et­was ab­zu­mil­dern»

Jahrzehntelang leitete der Bauingenieur Heinrich Figi die Abteilung ­Kunstbauten und Geotechnik am Tiefbauamt Graubünden und setzte sich ­unermüdlich für faire Vergabeverfahren und hohe Qualität ein. Heute engagiert er sich als Jurymitglied in Ingenieurwettbewerben.

Publikationsdatum
23-04-2021


TEC21: Herr Figi, zwischen 1985 und 2015 waren Sie Chef der Abteilung Kunstbauten und Geo­-
technik am Tiefbauamt Grau­bünden. Sie waren verantwortlich für den Bau, die Instandsetzung und den Unterhalt unzähliger Brücken, Tunnels, Stützmauern oder Unterführungen. Inwiefern hat sich die Rolle des öffentlichen Bauherrn in dieser Zeit verändert?


Heinrich Figi: Neben der Leitung der Abteilung Kunstbauten mit rund 25 Mitarbeitenden war meine Aufgabe auch die ad­mi­nistrative und technische Projektleitung bei anspruchsvolleren Kunstbauten. Das heisst, ich war Projektleiter Bauherr gemäss SIA 101 «Ordnung für Leistungen der Bauherren», wobei es diese Ordnung damals noch nicht gab. Meine Mitarbeitenden arbeiteten als Projektleiter, projektierende Ingenieure, Zeichnerinnen, Zeichner und Laboranten – wir hatten eine interne Kompetenz, die für die Lösung unserer Aufgaben sehr nützlich war. Natürlich hat sich in 30 Jahren vieles gewandelt. Eine wichtige Änderung ist die erhöhte Aufmerksamkeit für das, was schon da ist. Damit meine ich die natürliche Umgebung, zum Beispiel den Baugrund: Als ich die Leitung der Abteilung übernahm, gab es noch keinen Projektleiter Geotechnik. Oder die bestehende Bausub­stanz: Viele Infrastrukturwerke in Graubünden wurden vor 1970 gebaut – mit diesem Erbe muss man sich auseinandersetzen.


TEC21:  Warum ist das eine besondere Herausforderung?

Heinrich Figi: Unter anderem, weil sich die Nutzung ändert. Das kantonale Strassennetz zum Beispiel ist rund 1450 km lang, mit rund 1500 Brü­cken, 45 Tunnels, 80 Galerien und mehr als 5000 Stützmauern. Bis 2008 gehörten auch die 163 km Nationalstrassen samt entsprechenden Bauten in die Zuständigkeit der Kantone. In den 1960er- und 1970er-Jahren begann man mit der Schwarzräumung der Strassen. Die Folgen waren kata­strophal: Die Brücken waren nicht abgedichtet, Salz drang in den Beton ein, die Armierungen und Spannkabel begannen zu rosten. Wir mussten lernen, den Zustand unzähliger Bauwerke zu unter­suchen und zu beurteilen, um Instandsetzung oder Ersatz abzuwägen. Letzterer war mit einem Verkehrsunterbruch und einer Umfahrung verbunden, die im Gebirge aufgrund der Topo­grafie oft unmöglich war. Darum musste vor allem bei Brücken die Instandsetzung unter Verkehr stattfinden. Dieser Zwang, den Verkehr aufrechtzuerhalten, hat sich letztlich als Glück erwiesen, weil er unseren Blick auf den Erhalt der Bauwerke gelenkt hat. So haben wir wichtige Zeugen der Ingenieurbaukunst gerettet, die man sonst vielleicht abgebrochen hätte.


TEC21: Dabei haben Sie auch dazu bei­getragen, neue Techniken und Methoden zu entwickeln.

Heinrich Figi:  Das Eindringen von Tausalz in die Tragkonstruktion galt es unbedingt zu verhindern. Brückenoberflächen mussten abgedichtet werden. Wir mussten die Abdichtung vollflächig aufkleben und die Verklebung sorgfältig prüfen. Weil es dafür noch keine Prüfverfahren gab, nahmen wir das Heft selbst in die Hand und entwickelten mit unserem Stras­senbaulabor erste Prüfungen. Später konnten wir im Rahmen von Ringversuchen externe Labors mit einbeziehen und so unsere Erfahrungen in die Praxis weitergeben. Dann kam die Öffnung für die 40-Tonner, und die Ertüchtigung wurde wieder zum Thema. Es gab immer wieder Strömungen, die sagten, das Amt solle das Projektieren auslagern, freie Ingenieurbüros könnten das besser. Aber wenn wir nicht auch selbst projektiert hätten, wäre uns wertvolles Wissen entgangen. Ich bin überzeugt, dass man selbst die Kompetenz zu projektieren haben muss, um Projektierende richtig leiten zu können.


TEC21: Was hat Ihnen an der Arbeit am meisten Freude bereitet?

Heinrich Figi:  Am schönsten war es immer, wenn sich Leute für «meine» Brücken oder Belange interessierten. Bei grösseren Brücken war das immer der Fall, etwa bei der Hinterrheinbrücke in Thusis (1992), der Landquartbrücke Au (1994), der Sunnibergbrücke (1996), der Castielertobelbrücke (2003) oder der Versamertobelbrücke (2011). Wichtig waren mir aber auch die weniger spektakulären Bauwerke, die ja die Mehrzahl ausmachen. Zum Thema Stützmauern beispielsweise hielt ich interne Vorträge im Amt, an der damaligen HTW Chur und an der ETH; wir haben mit Jürg Conzett eine Wegleitung für die Gestaltung von Stützmauern entwickelt. Sie war umstritten, denn ganz sparsame Bürger fanden, sorgfältig ausgeführte Stützmauern seien ein Luxus. Ich musste mich schon sehr dafür einsetzen.

Auch das Vergabewesen hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. 1995 trat das Bundesgesetz über den Binnenmarkt in Kraft. 1995 folgte das GATT / WTO-­Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen, mit dem sich die Schweiz verpflichtete, öffent­liche Aufträge oberhalb eines Schwellenwerts international auszuschreiben. 1999 trat das Bilaterale Abkommen mit der Europäischen Gemeinschaft über bestimmte Aspekte des öffent­lichen Beschaffungswesens in Kraft. Alle diese Regelungen zielen auf mehr Transparenz bei öffent­lichen Ausschreibungen und auf einen gleichberechtigten Markt­zugang für ausserkantonale bzw. internationale Anbieter.

Vor diesen Regelungen sah die Beschaffung für unsere Projekte etwa so aus: Im Herbst erstellten wir eine Liste mit bevorste­henden Projekten und fügten die Namen der Ingenieurbüros ein, die wir mit der Bearbeitung beauf­tragen wollten. Grundlage dafür waren unsere guten Erfahrungen mit diesen Büros in Bezug auf Kompetenz und Leistungsfähigkeit. Wir achteten darauf, dass möglichst alle guten Büros vertreten waren. Der Oberingenieur genehmigte die Liste. Der Regierungsrat prüfte sie ebenfalls; gelegentlich strich er einen Namen, meist von einem ausserkantonalen Büro, und setzte einen anderen ein. Ausserkantonale hatten es etwas schwerer, aber normalerweise hat sich der Regierungsrat auf unsere Kompetenz verlassen und wenig interveniert. Nach 1999 mussten wir die Projekte gemäss Gesetz ausschreiben.


TEC21: Hat sich die Qualität der eingereichten Projekte dadurch erhöht?

Heinrich Figi:  Überhaupt nicht! Am Anfang waren alle überfordert. Bauvorhaben lassen sich relativ einfach quantifizieren: Man hat Pläne und einen Massenauszug und kann berechnen, was die Unter­nehmen liefern müssen. Das Projektieren dagegen ist ein Prozess: Am Anfang weiss man nicht immer genau, wie sich das Projekt ent­wickeln wird. Das haben viele Vergabe- und Rekursstellen nicht begriffen. Intellektuelle Dienstleistungen wie die Projektierung dem «gleichberechtigten Marktzugang» auszusetzen ist grundsätzlich falsch. Das Ergebnis ist ein un­erbittlicher Honorarkampf. Doch das ist Sparen am falschen Ort: Ein gutes Projekt ist die wichtigste Voraussetzung für ein qualitativ gutes Bauwerk und sollte seinen Preis haben dürfen.

Bei der Sunnibergbrücke zum Beispiel, die noch nicht dem neuen Gesetz unterstellt war, haben gute Ingenieurbüros im Rahmen von Studien Lösungen vorgeschlagen, dann konnten wir vergleichen und auf dieser Grundlage entscheiden, wie es weitergeht (vgl. «Wege zu einem guten Projekt für ein anspruchsvolles Bauwerk» in: Themenheft SI+A «Sunnibergbrücke» vom 29. 10. 1998).

Später war ein solches Verfahren nicht mehr möglich. Nun bekam fast immer das billigste Angebot den Zuschlag; die Vergabestellen wagten es nicht, anders zu entscheiden, aus Angst vor Rekursen und Terminverzögerungen. Der Preis erklärt sich selbst, bei der Qualität ist die Argumentation viel schwieriger. Selbst bei Projek­tierungsaufträgen für einfache Bauwerke wie zum Beispiel Lehnenbrücken waren keine Direkt­aufträge mehr möglich, auch sie «mussten» zum tiefsten Angebotspreis vergeben werden. Das löste eine Abwärtsspirale bei den Honoraren aus. Dass die Büros daraufhin versuchten, ihren Projektierungsaufwand dem Honorar anzupassen und sich mit der erstbesten Lösung begnügten, ist nachvollziehbar.


TEC21: Was haben Sie in Ihrer Funktion unternommen, um dennoch eine hohe Qualität zu bekommen?

Heinrich Figi:  Ich habe versucht, die unerbittliche Honorarkonkurrenz etwas abzumindern. Ich wollte Richtwerte vorgeben oder das tief­s­te Angebot ausschliessen, damit das zweittiefste den Zuschlag bekommen hätte, aber damit bin ich gescheitert. Auch meinen Vorgesetzten waren die Hände gebunden. Also galt es, die Projektanforderungen konsequent durchzusetzen. Das geht nur, wenn man selbst über Fachkompetenz verfügt, und so war es auch hier entscheidend, dass wir als Amt intern Projektierungserfahrung hatten und externen Firmen fachlich auf Augenhöhe begegnen konnten. Gleichzeitig übte ich TBA-interne und öffentliche Kritik am sele­k­tiven bzw. Einladungsverfahren (vgl. TEC21 5–6/2004 und TEC21 44/2005). Irgendwann hiess es allerdings von oben: «Jetzt musst du aufhören mit deinen Artikeln.»


TEC21: In TEC21 44/2005 haben Sie sich gegen Vergaben im selektiven bzw. im Einladungsverfahren ausgesprochen und festgestellt: «Wettbewerbsähnliche Verfahren sind im heutigen Umfeld neben dem Direktauftrag die einzige Möglichkeit, Projektierungsaufträge sinnvoll zu vergeben.» Hat sich dies in Ihrer Praxis bestätigt?

Heinrich Figi:  Leider ja. Aber wettbewerbsähnliche Verfahren machen nur bei anspruchsvolleren Pro­jektierungsaufträgen Sinn; bei kleinen, einfachen Bauwerken sind sie zu aufwendig. Bei solchen Aufträgen blieb nur die Resigna­tion. Der Inhaber eines Bündner Ingenieurbüros schrieb mir damals: «Die Entwicklung unserer Branche ist wirklich ein Desaster, und ich teile deine Ansicht, dass die weitere Entwicklung nichts Gutes erahnen lässt. Dass du dich seit Langem dafür eingesetzt hast, den reinen Honorarkampf möglichst zu vermeiden, rechne ich dir hoch an, dass du dabei aber mit wenig Unterstützung durch eure Rennleitung rechnen kannst, muss ich ebenfalls feststellen.»

Bei komplexeren Aufgaben, wo dies sinnvoll und vom Aufwand her auch berechtigt war, haben wir wett­bewerbsähnliche Verfahren angewendet: einstufige anonyme öffentliche Projektwettbewerbe, zum Beispiel bei der Tardisbrücke (2000/2001) und dem Punt d’En Vulpera (2005/2006), zweistufige öffentliche Projektwettbewerbe mit Präqualifikation wie bei der Rheinbrücke Ilanz West (2012/2013) und zweistufige öffentliche Gesamtleistungswettbewerbe wie bei der Hexentobelbrücke (2003/2004) und beim Strassen­abschnitt Garmischeras-Tscheppa (2008/2009). Die Ergebnisse können sich sehen lassen.


TEC21: Sie sind weiterhin als Jurymitglied bei Ingenieurwettbewerben aktiv. Führen solche Verfahren wirklich zu besseren Ergebnissen?

Heinrich Figi:  Ja. 15 Jahre wertvolle Erfahrung zeigen, dass sich In­genieur-­Projektwettbewerbe für unterschiedlichste Problem­stellungen eignen. Sie sind auch berufspolitisch wichtig: Einerseits können sie eine breitere Öffentlichkeit für den Wert der Inge­nieurbaukunst sensibilisieren, andererseits fördern sie das Niveau in Ausbildung und Praxis. Aber ich vermisste oft die nötige Wahrnehmung und Unterstützung seitens Politik und Gesellschaft: Ingenieurbauwerke werden nur funktional betrachtet und nicht als Beiträge zur zeitgenössischen Baukultur. Gute Ingenieurbaukunst braucht gute Bauherrschaften, denen sie auch etwas wert ist.


TEC21: Seit 1. Januar 2021 sind das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen BöB und die dazugehörende Verordnung in Kraft. Unter den Zuschlagskriterien im revidierten BöB finden sich auch Ästhetik, Nachhaltigkeit, Kreativität und Innovationsgehalt. Viele erhoffen sich nun einen Paradigmen­wechsel hin zu mehr Nachhaltigkeit und Qualitätswettbewerb. Was halten Sie davon?

Heinrich Figi:  Ich bin gespannt, wie sich Zuschlagskriterien wie Ästhetik, Nachhaltigkeit etc. bei kleinen und einfachen Bauwerken bewähren und wie die Gerichte damit um­gehen. Damit der Qualitätswett­bewerb tatsächlich an Bedeutung gewinnt, braucht es hohe Fachkompetenz und kostendeckende Preise – Unterangebote sollte man ausschliessen.


TEC21: Der Kanton Graubünden zählt viele historische, baukulturell wertvolle Kunstbauten, die teilweise unter Denkmalschutz stehen. Einige – wie der Landwasserviadukt auf der Albulalinie – sind spektakulär und berühmt. Tragen solche Werke dazu bei, das Bewusstsein für den baukulturellen Beitrag der Ingenieurinnen und Ingenieure zu wecken?

Heinrich Figi:  Das mit dem baukulturellen Wert hat es leider in sich. Die gegenseitige Wahrnehmung zwischen Kulturkommission, Denkmalpflege, Heimatschutz etc. einerseits und den Ingenieuren, die für Bau und Unterhalt von Infrastrukturbauten zuständig sind, andererseits ist wenig ausgeprägt. Das stelle ich beim Publikum bei Vorträgen und bei Auszeichnungen «Guter Bauten» immer wieder fest. Der Bündner Kulturpreis, der seit mehr als 50 Jahren jährlich vergeben wird, wurde in all den Jahren einmal einem Bauingenieur, Prof. Chris­tian Menn, vergeben; er musste ihn mit Prof. Alexi Decurtins teilen, der ihn in Anerkennung seiner grossen Verdienste zur Förderung der bündnerischen und insbesondere der rätoromanischen Kultur erhielt.

In der Ingenieurbaukunst geht es eben oft um innere Werte, die man nicht auf den ersten Blick sieht. Wenn bei einer alten Brücke die heutigen Anforderungen nicht mehr erfüllt werden, wenn die Last beschränkt und eine Instandsetzung teurer ist als ein Neubau, heisst es leider allzu oft: Abbrechen! Wenn die inneren Werte nicht erkannt werden, können so wertvolle Zeugen der Baukultur verloren gehen. Wenn die vielen Infrastrukturbauwerke, die wir bauen und erhalten durften, auch als Baukultur wahrgenommen werden, besteht Hoffnung, dass sie nicht voreilig abgebrochen werden; eine Instandsetzung ist zudem sehr oft auch nachhaltiger als ein Ersatz.

An der Delegiertenversammlung vom 23. April 2021 verlieh der SIA Heinrich Figi die Ehrenmitgliedschaft für seine ausserordentlichen Verdienste.

 

Die Würdigung lesen Sie hier.
 

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