Fri­scher Blick auf stren­ge Bau­ten

Mit einer reichhaltigen Neuerscheinung zur Solothurner Schule arbeitet Jürg Graser einen wichtigen Beitrag zur Schweizer Nachkriegs­architektur auf und ruft die Qualität dieser ­Bauten ins Bewusstsein.

Publikationsdatum
07-08-2014
Revision
18-10-2015
Lucia Gratz
Dipl. Architektin TU/ MAS ETH SIA, Journalistin MAZ

Schon 1981 wies Luigi Snozzi in seinem Essay «Betrachtungen über die Solothurner Gruppe» auf die dringende Notwendigkeit hin, jene Bewegung wissenschaftlich aufzuarbeiten. Doch erst zwei Jahrzehnte später begann man, einzelne Themen, Bauten und Biografien zu erforschen und sie zu publizieren. Die Bedeutung der Solothurner Schule für die jüngere Schweizer Architekturgeschichte wurde wiedererkannt. Unscharf blieb aber weiterhin, wie der Einfluss der Gruppe auf das individuelle Schaffen der fünf Architekten zu bewerten sei.

Jürg Graser hat nun im gta Verlag den sorgfältig verfassten Band «Gefüllte Leere» vorgelegt, der auf seiner 2008 verfassten Dissertation basiert. Facettenreich fasst er darin auf kompakten 372 Seiten zusammen, was in den Architektenleben von Alfons Barth, Hans Zaugg, Max Schlup, Franz Füeg und Fritz Haller aus einem über Jahre hinweg  gepflegten Dialog entstehen konnte. Das Verbindende war kein Manifest, es waren gemeinsame Themen, Vorbilder und Denkweisen, über die man sich freundschaftlich austauschte. 

Kompromissloser Aufbruch in eine neue Zeit

Der inhaltliche Aufbau des Buchs ist mit der Struktur einer wissenschaftlichen Arbeit hinterlegt. So beginnt Graser mit einer zentralen These, die nach den Gemeinsamkeiten der fünf Exponenten der Gruppe fragt, und führt diese in den weiteren Kapiteln anhand ihrer jeweiligen Werdegänge aus. 

Am Anfang stand das grosse Unbehagen der jungen Architekten mit der moderaten Moderne der Landi-Architektur, in deren Sprache sie ihre ersten Projekte umsetzten. Überzeugt von den ursprünglichen Ideen der Moderne fanden Füeg und  Haller in der Aufbruchszeit der Nachkriegsjahre ihre Vorbilder in den Niederlanden - und alle fünf schliesslich in den USA. Als Beleg dafür werden im Buch drei der für die Solothurner Schule wichtigen internationalen Einflussgrössen herausgearbeitet: Ludwig Mies van der Rohe und dessen Ordnungsbegriff, Konrad Wachsmann als Theoretiker des industriellen Bauens sowie das von Ray und Charles Eames transportierte neue Lebensgefühl der West-Coast-Architektur. Die architektonische Position, die daraus entstand, definierte Jürgen Joedicke 1969 so: «Sie versuchen, kompromisslos nur jene Mittel zu verwenden, die sie als unserem Zeitalter, als einer Epoche der Technik, für angemessen halten. Daraus erklärt sich ihre Vorliebe für Stahl und ihr Streben nach Vorfabrikation und Montagebau.»

Wer nach den einleitenden Kapiteln ein trockenes Konstruktionsbuch erwartet, wird auf angenehme Weise enttäuscht sein. Der anschliessende Werkteil mit seinem Schwerpunkt auf den konstruktiven Konzepten von neun ausgewählten Objekten ist vielfältig beschrieben, illustriert und bebildert. Zeitgenössische Pläne, eigens angefertigte Axonometrien sowie Detailzeichnungen, Modelle und Bilder aus der Bauzeit geben Aufschluss  über die architektonischen Überlegungen und deren Umsetzung im fertigen Bauwerk. Die Bandbreite der Bauten ist erstaunlich. Sie reicht vom ersten Stahlhaus Hans Zauggs von 1950, bei dem er das Konstruktionsmaterial Stahl noch etwas holprig, obschon in seiner formalen Elementarität und strukturellen Strenge verwendet, bis zum zu Ende gedachten Baukastensystem Fritz Hallers. Souverän setzt dieser sein Stahlbausystem Midi-Armilla beim Naturwissenschaftstrakt der Kantonsschule Solothurn von 1984 ein. 

Aus heutiger Sicht

Jeder neue Abschnitt, der einem der Bauwerke gewidmet ist, wird mit aktuellen, grossformatigen Farbfotografien eingeleitet. Diesen Part übernimmt die Architekturfotografin Andrea Helbling. Mit einer Annäherung über das Atmosphärische erzählt sie von lebendigen Orten – lebendig durch verschiedene Licht- und Schattenstimmungen, durch das, was sich in den grossen Glasscheiben spiegelt, durch den Menschen in seiner manchmal chaotischen Dingwelt. Trotz den verspielten Elementen, die die Aufmerksamkeit des Betrachters manchmal stark auf sich ziehen, ist das Bauwerk mit seiner nüchternen Erhabenheit stets als Rahmen des Geschehens präsent.

In den Fotografien wie im Text wird die Perspektive der Jetztzeit eingenommen. So betrachtet Graser auch ökonomische Aspekte zum Unterhalt der Gebäude und hat eine aufgeklärte Sicht auf energetische Fakten. Auch die gegenwärtige, teils schwierige Situation dieser Architektur klammert er nicht aus. Angesichts der Würdigung, die die konstruktive Meisterschaft der dargestellten Bauten durch die Publikation erfährt, bleibt am Ende die Frage offen: Welchen Stellenwert hat das Bauen mit Stahl in der aktuellen Diskussion? Zumindest die anstehenden Erneuerungen werden weiterhin Anlass geben, eine solche anhand der Bauten der Nachkriegsmoderne zu führen. 

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