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Ein Reisebericht in die Schweiz im Jahr 2050 – und zurück

Inmitten gesellschaftlicher und ökologischer Umbrüche stellt sich für Planerinnen und Planer mehr denn je die Frage nach ihrer Rolle. Sind sie «nur» technische Dienstleister – oder wesentliche Akteure eines kulturellen Wandels? Das von espazium – Der Verlag für Baukultur und dem SIA initiierte «Forum Zukunft Bauen 2025» hat diese Frage aufgegriffen und in Zürich, Renens und im Tessin mit Akteuren der Baubranche aus der ganzen Schweiz bearbeitet. Das Ziel: Zukunft entwerfen – aber nicht beliebig, sondern konkret und gemeinschaftlich.

Publikationsdatum
16-06-2025

Im Zentrum der Workshops stand die Methode des «Backcasting»: Ausgehend von einer wünschenswerten Zukunft entwarfen die Teilnehmenden der Workshops unterschiedliche Wege zurück in die Gegenwart. Dieser Methode liegt die Annahme zugrunde, dass Zukunft gestaltbar ist – wenn wir nur mutig genug sind, sie uns vorzustellen.

Zukunft als Praxisfeld

Das Forum Zukunft Bauen entstand aus der Überzeugung, dass Baukultur nicht nur das Resultat technischer Exzellenz ist, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Werte. Angesichts der globalen Herausforderungen – Klimakrise, Ressourcenknappheit, soziale Polarisierung – ist klar: Die klassischen Lösungsansätze greifen zu kurz. Was fehlt, ist ein integrativer Blick auf das Bauen – einer, der ökologische, soziale, ökonomische und kulturelle Perspektiven zusammenführt.

Vor diesem Hintergrund wurde das Forum als experimentelles Zukunftslabor konzipiert: ein geschützter Raum, in dem es nicht um kurzfristige Lösungen, sondern um langfristige Möglichkeitsräume geht. Und um die Frage: Wie müsste sich das Planen verändern, damit wir im Jahr 2050 eine resiliente, gerechte und nachhaltige gebaute Umwelt vorfinden?

Die Methoden: Visioning und Backcasting als Denk- und Lerninstrumente

Im Zentrum stand die Kombination zweier zukunftsgerichteter Methoden:

Visioning: In einem ersten Schritt haben die Teilnehmenden wünschenswerte Zukunftsbilder für das Jahr 2050 entworfen. Sie reisten – symbolisch – in diese Zukunft, sahen sich mit neuen beruflichen Realitäten konfrontiert und erkundeten, welche Rollen, Werte und Strukturen dort existieren könnten.

Backcasting: Im Anschluss ging es darum, von diesen Zukunftsbildern zurück in die Gegenwart zu denken. Welche Rahmenbedingungen, politischen Entscheidungen, gesellschaftlichen Entwicklungen oder technologischen Innovationen müssten eintreten, damit diese Zukunft Realität werden könnte?

Diese methodische Umkehrung der klassischen Planungsperspektive ermöglichte es, Denkblockaden zu umgehen und neue Lösungsräume zu erschliessen. Statt: «Was können wir tun?», lautete die Frage: «Was müssen wir heute beginnen, um dorthin zu kommen?»

Das Zukunftsszenario

In der Schweiz wird kein zusätzliches Land mehr versiegelt. Das Raumplanungsgesetz verlangt eine konsequente Innenentwicklung innerhalb bestehender Siedlungsflächen:

Transformieren statt ersetzenBestehende Bauwerke gelten grundsätzlich als erhaltenswert, und der Fokus wird auf Transformation, Kreislaufwirtschaft und der Weiternutzung von bestehenden Gebäuden statt auf Ersatzneubauten liegen.

Die Schweiz hat sich durch internationale Abkommen und nationale Beschlüsse dem Netto-Null-Ziel verpflichtet und muss bis Mitte des Jahrhunderts eine ausgeglichene Treibhausgasbilanz anstreben, was die Baubranche besonders in die Pflicht nimmt. Während im Betrieb von Gebäuden dank verschärfter Energiestandards (z. B. MuKEn, Minergie) grosse Fortschritte erzielt wurden, bleibt die graue Energie – also die Emissionen aus der Erstellung – ein zentrales Problemfeld.

Regionale Resonanzen, drei Perspektiven auf dieselbe Zukunft

Deutschschweiz - Realistische Utopien – und die Frage nach Steuerbarkeit

In Zürich versammelten sich rund 30 Teilnehmende in den inspirierenden Räumen von DasProvisorium. Der von Senem Wicki moderierte den Workshop startete mit einer Diskussion über die Davoser Kriterien für Baulkultur. Diese Reflexion ermöglichte eine Auseinandersetzung mit Werten und Orientierungsgrössen im Bauwesen. In Gruppenarbeiten prüften die Teilnehmenden vordefinierte Rollenbilder wie die «Normenmacherin» oder der «Prozessgestalter» kritisch, entwickelten sie weiter oder verwarfen sie.

Auffällig war die häufige Rückbeziehung auf krisenhafte Ausgangslagen – etwa Klimakollaps oder politische Instabilität – als Voraussetzung für transformatives Handeln. Viele Gruppen sahen Regulierung als notwendiges Mittel, um Wandel zu ermöglichen: CO₂-Steuer, Leerstandssteuer, Suffizienzpolitik. Gleichzeitig wurde diskutiert, wie diffizil es ist, einen solchen Wandel kulturell vorzubereiten – ohne Angst, ohne Zwang, aber mit Verbindlichkeit.

Die Fishbowl-Diskussion zum Abschluss, moderiert von Judit Solt, brachte wesentliche Gemeinsamkeiten und Divergenzen ans Licht: Während einige Gruppen an normativen Leitbildern festhielten, propagierten andere in ihren Szenarien den vollständigen Abschied von alten Berufsidentitäten.

Romandie – Vom Strukturbruch zur Neugründung

In Renens (Lausanne) ging das Forum mit rund 40 Teilnehmenden in die zweite Runde. Unter der Leitung von Marc Frochaux projizierten sie fünf sehr unterschiedliche Berufsrollen in die Zukunft: etwa den «Caretaker», der sich um den baulichen Bestand kümmert; die «Materialoptimiererin»; oder die «Normenmacherin», die technische Standards in erzählerische, allgemeinverständliche Formen übersetzt.

Auffällig war die Detailtiefe, mit der die Teilnehmenden in Renens arbeiteten. Jede Rolle unterfütterten sie mit Ausbildungspfaden, gesetzlichen Auslösern und gesellschaftlichen Entwicklungen. So zogen sie etwa fiktive, aber plausible Wendepunkte wie das Scheitern grosser Prestigeprojekte («The Line»), die Einführung einer Leerstandssteuer 2026 oder den Zusammenbruch des Geldsystems 2033 heran, um neue Berufsbilder zu begründen.

In der abschliessenden Fishbowl mit Carole Pont (SIA-Zentralkomitee) wurde betont, dass viele dieser Profile bereits «im Werden» seien – und es nicht primär um ihre Erfindung, sondern um ihre institutionelle Anerkennung gehe.

Tessin – Baukultur als Brücke zwischen Disziplinen

Im Kanton Tessin wurde das Forum zum Ort grundsätzlicher Reflexion. Der Schwerpunkt lag weniger auf der Ausarbeitung konkreter Berufsrollen, sondern vielmehr auf der Architektur selbst mit der Frage: Was braucht es, damit das Gebaute wieder in die kulturelle Mitte der Gesellschaft tritt?

Die Teilnehmenden – Architekten, Ingenieurinnen, Bauphysikerinnen und Verwaltungsangestellte – diskutierten, wie stark die gegenwärtige Praxis durch Normierung und Spezialisierung fragmentiert ist. Dabei forderten sie nicht nur die Rolle der Generalistin und des Generalisten, sondern auch den Einbezug «ausserarchitektonischer» Perspektiven: Philosophie, Soziologie, Anthropologie, Literatur. Nur durch solche Impulse könne eine neue, systemisch orientierte Baukultur entstehen.

Ein weiteres Thema war die Flexibilisierung der Normen. SIA-Regelwerke sollten nicht länger als starre Schranken, sondern als adaptive Werkzeuge verstanden werden – kontextsensibel, prozessbegleitend, inspirierend.

Gemeinsame Einsichten trotz regionaler Unterschiede: Beruf, Bildung, Beteiligung

Neue Rollen brauchen Sichtbarkeit: Die meisten vorgestellten Berufe existieren bereits in Teilen. Was fehlt, ist ihre institutionelle Verankerung – in Form von Weiterbildungen, Zertifizierungen, Berufsbildern und Anerkennung auf dem Arbeitsmarkt.

Bildung als Schlüssel zur Transformation: In allen Regionen wurde die Hybridisierung der Ausbildung gefordert – zwischen Technik und Kultur, Theorie und Praxis, Spezialwissen und Übersetzungsfähigkeit.

Kooperation statt Wettbewerb: Der Trend ging weg vom «Autoren-Architekten» hin zu kollaborativen, interdisziplinären Teamrollen – als Reflex auf die zunehmende Komplexität der Aufgaben.

Regulierung als Ermöglichung: Staatliche Eingriffe (z. B. Steuerinstrumente) wurden nicht als Bedrohung, sondern als Hebel für kulturellen Wandel verstanden – vorausgesetzt, sie werden partizipativ eingeführt.

Datentransparenz als Gemeingut: Der Zugang zu Gebäudedaten, Materialkennwerten und Klimainformationen wurde in allen Regionen als notwendige Infrastruktur für zukunftsfähiges Planen bezeichnet.

Vom Denken zum Handeln kommen

Die Frage, die über allen Szenarien steht: Müssen wir auf die Krise warten, um zu handeln? Oder können wir jetzt – präventiv, lustvoll, gemeinschaftlich – in Richtung einer besseren Baukultur arbeiten?

Das Forum gab keine fertigen Antworten. Aber es lieferte Fragen, zeichnete Visionen, die weiterverwendet werden wollen: als Gesprächsgrundlage in Büros, als Basis für Handlungsoptionen, als Anstoss für Studiengänge, als Argument für politische Forderungen.

Die Rolle von Institutionen wie dem SIA oder espazium – Der Verlag für Baukultur ist dabei zentral. Sie können initiierend und unterstützend wirken, um neue Berufsbilder zu etablieren, neue Bildungsmodelle mitzugestalten und als Plattform für einen breiteren, auch gesellschaftlichen Diskurs über Baukultur wirken.

Das Forum Zukunft Bauen 2025 war ein kollektiver Denkraum. Es hat gezeigt: Zukunft ist kein abstraktes Konstrukt, sondern ein Möglichkeitsraum. Wer sich hineindenkt, sammelt nicht nur Erfahrungen, sondern erwirbt auch die Kompetenz, die Zukunft aktiv und zielgerichtet mitzugestalten.
 

Das Forum Zukunft Bauen soll weitergehen und sich weiterentwickeln. Weitere Kooperationspartner sollen einbezogen und die beteiligten Stakeholder diverser werden. Der Dialog und die Reflexion über die Erkenntnisse wird weitergeführt, die Ergebnisse über die Medien von espazium – Der Verlag für Baukultur kommuniziert. Und last but not least bereichern die Schlüsselfragen die Strategie- und Kulturdiskussion von SIA und espazium – Der Verlag für Baukultur.

Weitere Beiträge den Dossiers des Forum Zukunft Bauen auf deutsch, französisch und italienisch.

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