Der Post­bo­te und sein Pa­last

Wie aus einem Traum Wirklichkeit wurde: Vor 100 Jahren vollendete der Postbote Ferdinand Cheval (1836 –1924) in Hauterives im französischen Département Drôme seinen Palais idéal. Die Collection de l’Art Brut in Lausanne würdigt das 100-Jahr-Jubiläum des Palastes mit einer Foto- und Filmdokumentation.

Publikationsdatum
13-09-2012
Revision
25-08-2015

Im April 1879 fand Ferdinand «Facteur» (Postbote) Cheval auf seiner täglichen Tour einen interessant geformten Stein. Er nahm dies zum Anlass, systematisch Steine zu sammeln, um sich seinen lang gehegten Traum zu erfüllen: den Bau eines idealen Palastes. Das Vermögen seiner zweiten Frau Claire-Philomène Richaud, die er ein Jahr zuvor geheiratet hatte, erlaubte es ihm, ein kleines Grundstück in Hautrives, 80 km westlich von Grenoble, zu erwerben und seinen Plan in die Tat umzusetzen. Seine Vision verlangte hohen Einsatz: In «10 Tausend Tagen, 93 Tausend Stunden, in 33 Jahren, in hartnäckiger Zerreissprobe gewirkt» – mit diesen Worten hielt er seine Leis­tung an einer Stelle des über 26 m breiten und bis zu 10 m hohen Monuments fest.
Der Bau sollte ursprünglich als Grabstätte für Cheval und seine Familie dienen, was jedoch nicht bewilligt wurde. Er war weder bewohnbar noch diente er einem Zweck. Ferdinand Cheval wollte ein Monument seiner Träume verwirklichen, einen Palais idéal bauen, der von nichts anderem erzählt. Mit zahlreichen Inschriften am Gebäude erklärt der Erbauer seine Idee. An einer Stelle ist zu lesen: «Ohne Baumeister, ohne Hilfe und mit winzigen Steinen ist dieser unerhörte Palast konstruiert.»

Widersprüchliche Rezeption
Die an asiatische Tempelarchitektur erinnernden Elemente und die von jedem Zweck losgelöste Form des Baus erweckten in Architekturkreisen anfangs vor allem Skepsis. Das änderte sich, als Anfang der 1930er-Jahre Künstler wie Pablo Picasso, Max Ernst oder André Breton auf das Werk aufmerksam wurden. 1969 liess der französische Kulturminister André Malraux den Palast als Beispiel naiver Baukunst trotz starkem Widerstand unter Denkmalschutz stellen. Heute ist es ein Werk, das jährlich tausende Besucherinnen und Besucher in seinen Bann zieht.

Umfassende Würdigung
Die Collection de l’Art Brut in Lausanne ­würdigt nun mit einer Ausstellung das 100-Jahr-Jubiläum des Palastes. 2011 hielt der Fotograf Michel Guillemot das Architekturmonument neu im Bild fest. Seine Farbfotografien sind denen aus der Entstehungszeit gegenübergestellt – schwarz-weisse Bilder, auf denen Facteur Cheval selbstbewusst posiert, die er als Postkarten drucken liess und auch verkaufte. Der Film «Le Palais idéal» (1958) des griechischen Regisseurs Ado Kyrou ergänzt die Fotografien und erzählt die Geschichte dieser Architektur eines weder als Handwerker noch als Baumeister ausgebildeten Künstlers. Facteur Chevals Palast zeugt von einer ­Obsession, die bis heute überlebt hat – ein Triumph der Kunst ohne Vorbild.



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