«Das Vi­rus wirk­te als Ka­ta­ly­sa­tor»

Publikationsdatum
20-07-2020
Julia Jeanloz
Redaktorin in ­Verant­wortung für die SIA-Beiträge bei der Zeitschrift Tracés

TRACÉS: Schon zu Beginn der COVID-19-Pandemie hat der SIA mehrere Dienstleistungen für seine Mitglieder aufgegleist oder ausgebaut. Mit welchen Herausforderungen sahen sich die SIA-Mitglieder konfrontiert?

Stefan Cadosch: Selbstverständlich hat eine Krise, wie wir sie derzeit erleben, eine Reihe von Fragen ausgelöst, die sich in fünf Bereiche gliedern lassen: Bauleitung, Arbeitsrecht, Kurzarbeitsentschädigung (KAE) und schliesslich Unternehmensrecht und Wettbewerbe. Bei der Bau- und Baustellenplanung ging es vor allem um die Haftung im Krankheitsfall sowie um die Organisation und Umsetzung von Sicherheitsmassnahmen. Im Hinblick auf das Arbeitsrecht wurden wir gefragt, wie das Schutzkonzept in einem Büro oder auf einer Baustelle aussehen sollte und wie man es bei den Mitarbeitenden durchsetzt. Was die Kurzarbeitsentschädigung angeht, betrafen die Fragen sehr konkret die Modalitäten, die zu kompensierenden Stunden usw. Zum Thema Unternehmensrecht haben wir Fragen erhalten, die in die folgende Richtung gehen: Was ist beispielsweise bei einer im Zusammenhang mit der Pandemie verspäteten, unfreiwilligen Rückreise eines Mitarbeitenden zu tun? Einige Fragen betrafen auch die Wettbewerbe – vor allem wie unter den gegebenen Umständen sichergestellt werden kann, dass ein Auswahlverfahren gründlich und korrekt durchgeführt wird.
 

TRACÉS: Gibt es Unterschiede darin, wie sich die jüngsten Ereignisse auf die zahlreichen Berufe auswirken, die der SIA vertritt? Und wie sieht es bei den Architektur- und Ingenieurbüros aus?

Stefan Cadosch: Bei den Rahmenbedingungen für Architekten, Verkehrs- oder Umweltingenieuren oder anderen durch den SIA vertretenen Berufsgruppen gibt es keine signifikanten Unterschiede. Alle Büros mussten Massnahmen zur Förderung der Arbeit im Homeoffice ergreifen und sahen sich mit einer Vielzahl von technischen Herausforderungen konfrontiert. Insgesamt würde ich jedoch sagen, dass Architekturbüros schneller vor Liquiditätsproblemen standen als Ingenieurbüros. Ingenieurbüros verwalten mehrere Projekte gleichzeitig, während Architekturbüros weniger Projekte, diese aber über einen längeren Zeitraum, durchführen. Wir waren jedoch sehr überrascht, als wir feststellten, dass nach wenigen Wochen ein Grossteil der Büros bereits wieder zu hundert Prozent ausgelastet war. Die Pandemie hat uns auch die Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Baustoffen gezeigt, wenn deren Produktion in andere Länder ausgelagert ist.


TRACÉS: Ist es wünschenswert, dass bei den Kriterien für die Vergabe öffentlicher Aufträge die geografische Nähe der Unternehmen und die Herkunft der Baustoffe stärker berücksichtigt werden?

Stefan Cadosch: Meiner Meinung nach sollte das Kriterium der geografischen Nähe, aber auch das der kurzen Transportwege den Vorrang haben. Das sollte de facto eine entscheidende Rolle spielen. Auch über die Corona-Krise hinaus werden Kriterien, die sich auf die Nachhaltigkeit im Allgemeinen beziehen, von grundlegender Bedeutung bleiben. Ich bin sehr zufrieden damit, dass die Revision des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) dem Kriterium der Nachhaltigkeit als eines der zentralen Zuschlagskriterien in Artikel 29 ist Rechnung trägt. Sobald das Gesetz konsequent angewendet wird, werden die Fragen der langen oder kurzen Transportwegen enger in die Evaluation einbezogen. Natürlich kann der Schweizer Markt in unserer globalisierten Welt nicht allein allen Anfragen gerecht werden, noch kann er immer kompetitiv sein; der internationale Markt ist ebenfalls sehr wichtig. Bei der Planung und Zuschlagserteilung ist das Kriterium der Nachhaltigkeit jedoch trotzdem entscheidend.


TRACÉS: Was können Sie uns zu den Veränderungen sagen, die die COVID-19-Pandemie für unsere Berufe mit sich bringt?

Stefan Cadosch: Bereits vor der Pandemie haben unsere Berufe viele Veränderungen durchlebt, sowohl im Hinblick auf die Digitalisierung als auch auf die Auswirkungen des Klimawandels. In diesen beiden Bereichen ist eine tiefgründige Reflexion unerlässlich: Wir können nicht einfach nur bei der Festlegung von Normen bleiben; wir müssen uns auf der politischen Bühne aktiver engagieren. Tatsächlich sind Ingenieurinnen und Architekten in der politischen Landschaft unterrepräsentiert. Häufig werden wir von Stimmen übertönt, die von ausserhalb unserer Berufszweige kommen. Daher müssen wir als planerisches Organ unsere Investitionen auf politischer Ebene erhöhen, damit man unsere Repräsentantenrolle ernst nimmt und wir dazu beitragen können, die gesellschaftlichen Veränderungen in die bebaute Umwelt zu integrieren.


TRACÉS: Die Krise hat die Untauglichkeit bestimmter Wohnformen deutlich gemacht (siehe TRACÉS Nr. 09/2020). Diese Erkenntnis betrifft als erste die Architekten...

Stefan Cadosch: Heute verschwimmt die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben immer mehr. Der Gedanke, dass in Zukunft jede und jeder mehr im Homeoffice arbeiten soll und Sport und Freizeitaktivitäten verstärkt am Wohnort stattfinden, ist durchaus berechtigt. Wir müssen das bei der Gestaltung von Wohnungen berücksichtigen und individuelle private Bereiche schaffen, in denen man produktiv sein kann. Wenn die ganze Familie unter einem Dach ist, müssen Rückzugsbereiche vorgesehen sein, in denen man in Ruhe arbeiten kann – zum Beispiel mithilfe von Schiebetüren oder umfunktionierbaren Möbeln. Insgesamt sind die Auswirkungen dieser Krise auf die Städteplanung und das Baugewerbe gigantisch. Sowohl Wohn- als auch Büroräumlichkeiten werden daher zahlreiche Veränderungen erfahren. Das Virus wirkt also wie ein Katalysator für einen Wandel, der sich im Laufe der Zeit ohnehin vollzogen hätte. Eines ist sicher: Unsere Arbeitsbereiche verändern sich täglich. Eine interessante Fragestellung in diesem Zusammenhang betrifft das Innenraumklima in Gebäuden, das mittels spezifischer Massnahmen gesteuert werden muss.


TRACÉS: Welche sind also die Neuerungen, die der SIA durchlaufen wird?

Stefan Cadosch: Unser Ziel ist es, den Revisionszyklus der Normen zu verkürzen, damit wir schneller auf neue Rahmenbedingungen reagieren können. Früher nahm ein Zyklus fünf bis zehn Jahre in Anspruch. Jetzt geht es darum, ihn um die Hälfte zu verkürzen. Der Verein als solcher ist zu stärken. Dann muss im Planungs- und Bauwesen ein Digitalisierungsprozess eingeleitet werden, der die Lesbarkeit der Normen verbessert. Und wir wollen uns aktiver auf der politischen Bühne bewegen und versuchen, unser Fachwissen dabei vermehrt einzubringen. Schliesslich ist unsere Branche angesichts des steten Wandels unserer Gesellschaft dazu angehalten, für die Arbeit im Homeoffice eine angenehmere und effiziente Umgebung zu schaffen.

Dieser Beitrag erschien erstmals in TRACÉS 10/2020.

Verwandte Beiträge