«Als nächs­tes wer­den wir ein Bench­mar­king er­ar­bei­ten»

Um eine qualitativ hochwertige Baukultur zu erreichen, braucht es zuerst Einigkeit darüber, was Qualität bedeutet. Das Bundesamt für Kultur hat dafür eine Methode mit acht Kriterien erarbeitet. Diesem Punktesystem stehen jedoch einige Berufsleute kritisch gegenüber. Kann man Baukultur wirklich benoten? Und wer bewertet sie? Oliver Martin, der an der Erarbeitung des Davos Qualitätssystems beteiligt war, stand Rede und Antwort.

Publikationsdatum
22-11-2021

TRACÉS: Die Veröffentlichung des Davos Qualitätssystems (DQS) löste eine Grundsatzdiskussion über die Frage der Evaluierung von Baukultur aus und stösst auf Widerstand. Die Stiftung Baukultur Schweiz stellte bereits in ihrer Stellungnahme zur ersten Fassung des Instruments die Methode an sich infrage, da sie der Ansicht ist, es sei nicht möglich, die Baukultur mit einer Note zu versehen. Jedes Projekt habe seine Eigenheiten, und eine Evaluierung sei nur im Rahmen einer Diskussion möglich.

Oliver Martin: Es wurden effektiv Zweifel darüber geäussert, inwieweit Qualität objektiv definiert werden kann. Diese Kritik ist aber je länger, je weniger zu hören. In meinen Augen dient sie auch nur als Ausrede, um einer Evaluierung zu entgehen. Doch genau darin besteht unser Ziel: zu bestimmen, wie ein qualitatives Projekt zu definieren ist. Man kann nicht auf politischer Ebene eine höhere Baukultur fordern, ohne festzulegen, wie denn diese Qualität auszusehen hat. Natürlich handelt es sich dabei um einen sehr weiten Begriff, der offen gefasst bleibt. Das Instrument soll auch nicht als «Bedienungsanleitung» im eigentlichen Sinn verstanden werden.

    Unsere Vorgehensweise sieht wie folgt aus: Anhand von acht Kriterien, die bis anhin nicht zusammen betrachtet wurden, wird zuallererst Qualität definiert. Die Kriterien sind hauptsächlich dazu da, die Defizite eines Projekts aufzudecken. Anschliessend wird für dieses breit angelegte Qualitätskonzept, das Aspekte wie Klimaneutralität, Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit, Vielfalt, Genius loci usw. berücksichtigt, sensibilisiert. Und zum Schluss soll ein Instrument bereitgestellt werden, das – falls gewünscht – in der Praxis eingesetzt werden kann. Natürlich kann dieses immer auf die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Situation angepasst werden.


    TRACÉS: Kritik wurde auch am Einsatzort des Instruments geäussert. Gemäss der Bedienungsanleitung (Gesamtdokument) richtet sich das DQS an alle, d. h. sowohl an Benutzende als auch an Berufsleute aus der Baubranche. Aber brauchen diese ein solches Instrument wirklich? Sie sind ja daran gewöhnt, über Qualität zu sprechen.

    Oliver Martin: Ich denke schon, ja. Viele Wettbewerbsprogramme legen heute Anforderungen an Wirtschaftlichkeit, Funktionalität und Nachhaltigkeit fest. Oftmals ist das aber auch schon alles. Mit dem DQS wollen wir einen Schritt weiter gehen und kulturelle und soziale Aspekte, die genauso wichtig sind, miteinbeziehen, auch wenn diese im Vornhinein nicht für jede Situation genau definiert werden können. Die meisten der aufgestellten Kriterien finden in Juryberichten Erwähnung. Indem wir sie aber explizit definieren, weisen wir auf die Wichtigkeit hin und stossen eine Diskussion über Qualität an, die nicht nur von einer einzelnen Jury oder Gruppe von Architekten und Berufsleuten der Branche geführt wird. Denn diese werden oftmals als einzige Befähigte angesehen, über Qualität zu entscheiden.


    TRACÉS: Wenn ich so zuhöre, habe ich das Gefühl, dieses Instrument diene dazu, den Architekten die Kontrolle über die Baukultur abzusprechen.

    Oliver Martin: Nein, es geht vielmehr darum, den Begriff Baukultur systematisch und objektiv zu erfassen. Wenn von uns verlangt wird, dass wir den Qualitätsbegriff im Gesetz verankern, muss zuerst der Rahmen dafür geschaffen werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass irgendeine Jury mit ihrer spezifischen Zusammensetzung und ihrer Meinung allein über Qualität entscheidet.


    TRACÉS: Vielleicht, aber da gibt es ein grosses Problem: der Begutachter selbst. Welche auch immer die vorgeschlagenen Kriterien sein mögen und so objektiv die Methode auch sein soll – eine kleine ländliche Gemeinde wird das Bewertungsformular ganz anders ausfüllen als beispielsweise eine Genfer Architektin des BSA … Um eine Form von «Objektivität» zu erreichen, müsste man eine Menge Leute mit ganz unterschiedlichem Hintergrund zusammenbringen. Falls das organisatorisch überhaupt ginge – was ich bezweifle –, wäre das Resultat im besten Fall ein mittelmässiger Kompromiss, aber sicher keine Qualität.

    Oliver Martin: Wir empfehlen, die Methode anzuwenden, denn sie erlaubt, eine Art Einschätzung vorzunehmen und sich die richtigen, an den eigenen Background und die eigene Funktion angepassten Fragen zu stellen. Natürlich wird der Autor sein eigenes Werk ganz anders bewerten als der Benutzende. Deshalb ist die Methode auch als offenes System konzipiert, die man weiterentwickeln müsste, wenn man sie systematisch einsetzen wollte.


    TRACÉS: Und wie sieht die Weiterentwicklung des Instruments aus?

    Oliver Martin: Um noch einen Schritt weiter zu gehen, müsste man Indikatoren für jedes Kriterium erstellen und ein Benchmarking für jede Aufgabe und jeden spezifischen Kontext machen. In anderen komplexen Gebieten wie beispielsweise in den Umweltwissenschaften gibt es diese Methode bereits. Man müsste also zuerst gewisse Indikatoren entwickeln, anschliessend für jede spezifische Situation Grenzwerte bestimmen, die erreicht werden müssen, um so jedes einzelne Kriterium objektivierbar zu machen. Daran werden wir als Nächstes arbeiten. Wir stützen uns dabei auf typische Fallbeispiele.


    TRACÉS: Mit so unterschiedlichen Fällen wird es schwierig sein, Typologien herauszuarbeiten. 

    Oliver Martin: Das Instrument ist deshalb interessant, weil man sich auf Orte konzentriert und nicht auf Objekte und weil es Elemente wie Infrastruktur und Landschaft, die vorher nicht unbedingt gleichwertig behandelt wurden, auf eine Stufe stellt. 
    Die Erklärung von Davos besagt, die gebaute Umwelt als Ganzes ist ein Ausdruck unserer Baukultur. Es wird also sowohl der psychologische und soziale Aspekt wie auch der ökologische und wirtschaftliche, funktionale usw. miteinbezogen. Alle diese Aspekte tragen zur Qualität bei.


    TRACÉS: Aber es fehlen die Erzeugnisse des Industriedesigns wie Autos, Signaletik und Plakate, die unsere Umwelt stark beeinflussen. Warum sind diese nicht auch Teil der Baukultur?

    Oliver Martin: Das ist eine gute Frage. Wir wollten uns auf unsere Kernkompetenz, die gebaute Umwelt, beschränken und haben deshalb bewegliche Objekte nicht explizit miteinbezogen. Das Stadtmobiliar, auch wenn es nicht fest montiert ist, kann ebenfalls mit dem DQS bewertet werden, denn es ist ja Teil der gebauten Umwelt.


    TRACÉS: Ich habe das Gefühl, dass die Kriterien des DQS von einer Sichtweise der Baukultur geprägt sind, die die Perspektive des Heimatschutzes und seine Themen widerspiegeln. Von den acht Kriterien behandeln deren zwei die Identitätsproblematik: Genius loci und Kontext.

    Oliver Martin: In unserer Methode bezieht sich der Begriff Genius Loci auf soziale und emotionale Aspekte, der des Kontexts jedoch auf räumliche und materielle. Es erscheint mir richtig, dass der Bestand und sein Wert eine zentrale Rolle spielen, wenn man über die Qualität eines Orts spricht. Der Heimatschutz hat an und für sich kein Problem. Problematisch sind eher die Erwartungshaltungen und Anforderungen, die die heutige Gesellschaft hat, wenn sie das, was bereits existiert, von Grund auf infrage stellt.


    TRACÉS:  In der internationalen Arbeitsgruppe, die das DQS konzipiert hat, sind vor allem Berufsleute anzutreffen, die sich aktiv für den Schutz und den Erhalt des kulturellen Erbes einsetzen. Die Erbauer (Architekten, Ingenieure) scheinen nicht vertreten zu sein. Ist das nicht widersprüchlich?

    Oliver Martin: Nein. In der Redaktionsgruppe sind effektiv Vertreter aus dem Bereich des Heimatschutzes, aber es gibt auch welche aus der Raumplanung, der Architektur und der Baukultur. Wir haben mit der Redaktionsgruppe zusammengearbeitet, die bereits an der Erklärung von Davos gearbeitet hat, und haben uns mit Architekten, vor allem mit der Internationalen Vereinigung der Architekten, zusammengetan.
    Natürlich ist die Erklärung von Davos selbst aus dem Umfeld des Heimatschutzes heraus entstanden. Jedoch wird darin auch der Begriff «Baukultur» verwendet, der von einer moderneren Auffassung zeugt, die zeitgenössische Entwürfe miteinschliesst. Im Rahmen des Gegenvorschlags zur Biodiversitätsinitiative wollen wir genau dieses Verständnis von Baukultur im Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz verankern.
    Weiter möchte ich darauf hinweisen, dass parallel dazu auch eine Expertengruppe der europäischen Kommission, die Open Methods and Coordination (OMC) Group, über das DQS beraten hat. Die hauptsächlich aus Ingenieuren, Architekten und Raumplanern bestehende Gruppe hat entschieden, die Kriterien des DQS zu übernehmen, und die europäische Kommission wird sie diesen Herbst in einem Bericht publizieren mit dem Ziel, die Qualität des Gebauten zu verbessern. Dass das System auf europäischer Ebene auf Resonanz stösst, freut uns natürlich sehr. 


    TRACÉS: Es gibt Architektur, die so aussergewöhnlich ist, dass sie nicht in diese Auswertungslogik passt. Trotz aller Kritik setzt ein Objekt wie das Rolex Learning Center der ETH Lausanne ein Statement. Und wenn auch in vielerlei Hinsicht unvertretbare Lösungen gewählt wurden, so geht die erbrachte Leistung doch über die Kriterien des DQS hinaus. Es scheint also ein Kriterium zu fehlen, das die ganz eigene Qualität einer Architektur wertschätzt, die Essenz des Projekts gewissermassen, deren Beschaffenheit nicht anhand von Kriterien beschrieben werden kann. 

    Oliver Martin: Vielleicht. Diese Kritik zeugt von der Angst der Architekten, in dieser Diskussion ihre Deutungshoheit zu verlieren. Das ist der Fall, wenn die Architektur die anderen Kriterien, die für die Qualität eines Objekts massgeblich sind, nicht berücksichtigt. Wenn ein Gebäude von der Architektur her sehr interessant ist, jedoch sehr viele Ressourcen verbraucht und die Umwelt belastet oder nichts zum Gebauten beiträgt, sollte es heute nicht mehr als qualitative Baukultur angesehen werden. 


    TRACÉS: In ihrer Stellungnahme äusserte die Stiftung für Schweizer Baukultur die Befürchtung, dass das DQS mit seinen acht Kriterien nicht für eine qualitative Nivellierung sorgt, weil ein Mittelwert berechnet wird. Wie kann die Gestaltung von originellen, innovativen und erfinderischen Projekten berücksichtigt werden? Nehmen wir zum Beispiel die Schulanlage Leutschenbach (Christian Kerez, 2009): Auch hier könnte man natürlich über jedes der Kriterien diskutieren. Wie aber kann ein System wie das DQS die ausserordentliche Qualität des Projekts würdigen – seine Struktur und vor allem sein Leitsystem, das auf andere Schulen einen entscheidenden Einfluss hat? Denken Sie nicht, dass das Instrument, wenn es bei Wettbewerben eingesetzt wird, verhindert, dass solche Gebäude gebaut werden?

    Oliver Martin: Nein. Wenn heute ein Ort gebaut wird, der in keiner Weise auf soziale Kriterien oder Nachhaltigkeitskriterien antwortet oder der nicht für alle zugänglich ist, kann er für eine qualitative Baukultur nicht von Bedeutung sein. Vielleicht bleibt er einfach eine «aussergewöhnliche Architektur», die man prämieren sollte. Übrigens wäre dieses Projekt mit dem DQS gar nicht ausgeschlossen worden. Das Ziel des DQS besteht vor allem darin, eine Debatte über die riesige Menge von Gebäuden, an denen tagtäglich gebaut wird, anzustossen, damit eine Diskussion auf dieser Ebene passiert und nicht nur eine Diskussion über die Architektur von Vorzeigeobjekten, wie sie alle fünfzig Jahre in den grossen Städten erbaut werden. Wir haben das Instrument an einer Reihe von Orten und Objekten getestet, und die Kriterien erwiesen sich als stichhaltig. 


    TRACÉS: Tatsächlich wird in der Erklärung auch klar gesagt, dass sich die Frage der Qualität nicht so sehr in den Stadtzentren stellt, die oftmals gut gebaut und gut erhalten sind, sondern in den Peripherien, den schrumpfenden Regionen, wo die Landschaft von Zersiedlung geprägt ist und nur wenig in die Baukultur investiert wird. Glaubt man dieser Feststellung, müssten sich die Architekten nicht wirklich Sorgen machen, denn das Ziel ist es vor allem, da zu handeln, wo nicht genügend gemacht wird.

    Oliver Martin: Ja genau. Im Allgemeinen wird der Baukultur in den urbanen Zentren im Gegensatz zu den peripheren Gebieten mehr Beachtung geschenkt. Diese Gebiete sind auch Ausdruck unserer Baukultur, aber sie weisen ein Qualitätsdefizit auf. Man darf die Wirkung, die sie ausüben, nicht unterschätzen, denn sie gehören zum Alltag eines grossen Teils der Bevölkerung.


    TRACÉS: Wenn man sich an den Präferenzen des Durchschnittschweizers orientieren soll, gibt das Anlass zur Sorge. Gemäss der Umfrage von 2018 über die Wahrnehmung der Baukultur befürwortet die Mehrheit der Schweizer auf dem Land – oder was davon übrig bleibt – Nachahmungen einer traditionellen Architektur. 

    Oliver Martin: Ja, und man sollte damit aufhören, diesen Traum schlecht zu machen, sondern sich dafür einsetzen, dass die Fragen rund um die Baukultur und ihre Qualität präsent sind und viel mehr darüber diskutiert wird. Einerseits macht man sich gern über den Traum von der heilen Welt lustig, andererseits bejubelt man aber solche Projekte auch: In Architekturzeitschriften trifft man regelmässig auf zeitgenössische Villen, die auf riesigen Grundstücken völlig unverhältnismässige Flächen verbrauchen. Auch das ist ein Punkt, den es zu diskutieren gilt.

    Übersetzung aus dem Französischen: Judith Gerber

    Das Davos Qualitätssystem ist ein Instrument des Bundesamts für Kultur, das dazu dient, die Baukultur zu bewerten. Die «Orte» (Bauobjekte, Ensembles, Quartiere usw.) werden anhand von acht Kriterien mittels einer Reihe von Fragen und einer Note von 1 bis 18 bewertet. Aus dem Mittelwert ergibt sich eine Gesamtnote. 

    Die acht Kriterien sind:

    • Vielfalt: Hohe Baukultur verbindet Menschen
    • Gouvernanz: Hohe Baukultur folgt guter Gouvernanz
    • Umwelt: Hohe Baukultur schont die Umwelt
    • Kontext: Hohe Baukultur führt zu räumlicher Kohärenz
    • Funktionalität: Hohe Baukultur erfüllt ihren Zweck
    • Schönheit: Ein Ort hoher Baukultur ist schön
    • Genius Loci: Hohe Baukultur verstärkt den Genius Loci
    • Wirtschaft: Hohe Baukultur schafft wirtschaftlichen Mehrwert

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