Aus­zeich­nung «Flâ­neur d’Or» ver­lie­hen

Flanieren als Lebenskunst, passt das zur heutigen Zeit? Offenbar ja, denn bereits zum achten Mal wurde der Wettbewerb «Flâneur d’Or» 2014 erfolgreich durchgeführt. Den Hauptpreis ging Ende November an die Stadt Zürich für die flankierenden Massnahmen zur Westumfahrung, acht weitere Projekte erhielten eine Auszeichnung.

Publikationsdatum
09-12-2014
Revision
25-08-2015

Die Ernte aus der Ausschreibung für den «Flâneur d’Or 2014» ist umfangreich und eindrücklich breit in ihrer Thematik. Die 46 Eingaben wurden in vier Kategorien eingeteilt, nämlich sieben Verkehrskonzepte und –planungen sowie Leitbilder, acht fussgängerfreundliche Infrastrukturen auf Kantonsstrassen, 28 entsprechende auf Gemeindestrassen, Wegen und Plätzen sowie drei Schnittstellen zum öffentlichen Verkehr. Die Jury zeigte sich sowohl von der Menge wie auch der Qualität der Eingaben beeindruckt. Sie nahm erfreut zur Kenntnis, dass der «Flâneur d’Or» definitiv in der Romandie angekommen ist und auch in der Südschweiz vermehrt zur Kenntnis genommen wird. 2014 gingen erstmals mehr Dossiers aus der Westschweiz als aus der Deutschschweiz ein.

Plätze und Platzgestaltungen im Fokus

Besonders zahlreich waren die Eingaben zur Instandsetzung oder Neugestaltung städtischer Plätze. Dieser thematische Schwerpunkt des «Flâneur d’Or» führte in der Jury zu grundsätzlichen Diskussionen über Themen wie Aufenhaltsqualität, geeignete Verkehrsregimes und Stadtmöblierung usw. Die Jury stellte fest, dass in auffällig vielen Projekten für Plätze der Umgang mit dem ruhenden Verkehr eine gewichtige Rolle spiele. Erst wenn es gelinge, alle oder zumindest einen substanziellen Anteil an Parkplätzen aufzuheben beziehungsweise in den Untergrund zu verlegen, werde der Weg frei für attraktive und erlebnisreiche öffentliche Stadträume. Bei drei ausgezeichneten Projekten (Place Simon Goulart in Genf, Place Centrale in Martigny, Sechseläutenplatz in Zürich) war diese Verknüpfung mit der Parkplatzfrage ein zentraler Aspekt.

Zürichs Problemstrassen werden zum Vorzeigeobjekt

Vor sechzig Jahren sah die Strassemplanung Zürichs vor, ganze drei Autobahnen bis ins Stadtzentrum zu führen und am Platzspitz zu verknüpfen, das sogenannte «Expressstrassen-Ypsilon». Zürich ist mit einem blauen Auge davon gekommen, das Ypsilon erwies sich als nicht realisierbar. Das blaue Auge hat einen Namen, es heisst Westtangente. Diese damals als Provisorium geplante Nord-Süd-Verbindung wurde zum 40 Jahre dauernden Providurium. Erst die Umfahrung Birmensdorf, der Uetlibergtunnel und das Verkehrsdreieck Brunau bremsten die Blechlawine mitten durch die Stadt ab.

Mit der Strategie «Stadträume 2010», die vor 14 Jahren formuliert und im Mai 2006 vom Zürcher Stadtrat beschlossen wurde, war ein hervorragendes Instrumentarium geschaffen, den Stadtraum vermehrt als Lebensraum zu nutzen. Grundlage dieser Strategie ist ein hierarchisch angelegter Plan, der die Stadträume Zürichs in quartier-, stadt- oder landesweit bedeutsame Zonen einteilt. So sind die Sihlfeldstrasse als quartierweit und der Bullingerplatz als stadtweit bedeutende Räume eingestuft. Mit einer ruhigen und den jeweiligen Gegebenheiten angepassten Gestaltungssprache sind dort qualitätsvolle öffentliche Verkehrsräume entstanden.

Die Strassen und Plätze entlang der ehemaligen Westtangente wurden verkehrsberuhigt gestaltet, der öffentliche Raum wurde vermehrt Begegnungsort und Erholungsraum. Es konnten zwei neue Plätze geschaffen werden: der Anny-Klawa-Platz an der Sihlfeldstrasse und der Brupbacherplatz. Ihre offene, durchlässige Gestaltung mit Kiesbelag, Bäumen und Sitzbänken haben das Potenzial für eine Entwicklung zu neuen Quartierplätzen. Der Weststrasse wurde ein komplett neues Gesicht verpasst, sie ist heute ein für Fussgänger sicherer Ort. Die Sihlfeldstrasse erhielt eine neue Allee und hat dank den breiteren Trottoirs das Potenzial zu einer Flaniermeile. Innerhalb des ganzen Perimeters wurden insgesamt rund 370 Bäume gepflanzt. Der Bullingerplatz wurde zum Ort der Begegnung. Gemäss Stadtrat Filippo Leutenegger hat sich Zürich diese Stadtreparatur rund 100 Millionen kosten lassen, 60% davon trägt der Bund, 24% der Kanton und den Rest die Stadt.

Bei der Menge der in Zürich umgesetzten Massnahmen nicht weiter erstaunlich, waren teilweise auch Nachbesserungen notwendig, unter anderem beim Bullingerplatz: Um den Aufenthaltscharakter des Platzes noch zu verdeutlichen und den Verkehr weiter zu beruhigen, wurden auf Wunsch der Quartierbevölkerung inzwischen zusätzliche Möblierungselemente platziert. Nach und nach wird so der ehemalige Strassenraum durch die Anwohner in Besitz genommen.

Rückeroberung des städtischen Raums

Die Jury hat einstimmig beschlossen, den «Flâneur d’Or 2014» nach Zürich zu vergeben. Aus Sicht der Jury sind die flankierenden Massnahmen zur Zürcher Westumfahrung ein Meilenstein für den Fussverkehr in der Schweiz insgesamt. Das Quartier hat mit der Westumfahrung nach 40 Jahren Durchgangsverkehr eine neue Chance erhalten – mit den flankierenden Massnahmen wurde sie konsequent genutzt, hält die Jury fest. Für Zürich also ein Schritt weg von der autogerechten Stadt hin zu einem Stadtraum, der sich am Quartierleben und den Bedürfnissen der Fussgänger orientiert. Frühere Teile einer stark befahrenen Transitachse sind heute wieder verkehrsberuhigte Quartierstrassen. Diese flankierenden Massnahmen zur Westumfahrung sieht die Jury als Sinnbild für eine erfolgreiche Rückeroberung des städtischen Raums zugunsten des Langsamverkehrs.

Heimliche Siegerin: die Stadt Genf

Gleich sieben Dossiers reichte die Stadt Genf für den «Flâneur d’Or 2014» ein. Sie stammen aus unterschiedlichen Verwaltungsstellen und decken ein grosses thematisches Spektrum ab. Durchgehend hoch sei deren Qualität, hält die Jury fest. Wenn letztlich mit der Umgestaltung der Place Simon-Goulart bloss ein Genfer Projekt eine Auszeichnung erlangte, so bezeichnet die Jury die Stadt Genf mit ihren behutsamen, unter Einbezug der Bevölkerung geplanten und sorgfältig realisierten Projekten doch als quasi heimliche Siegerin des «Flâneur d’Or 2014».

Das Projekt für die Place de Goulart überzeugte die Jury wegen des gelungenen Rückbaus eines Parkplatzes in einen öffentlichen Quartierplatz. Er integriert sich städtebaulich in die bestehende Baustruktur und wertet verschiedene Funktionen für die zu Fuss Gehenden und die Quartierbevölkerung entscheidend auf. Die Place Simon-Goulart befindet sich an einem wichtigen Schnittpunkt verschiedener Fussverkehrsachsen des Stadtzentrums. Mit der angrenzenden Begegnungszone werde der motorisierte Verkehr auf die neuen Gegebenheiten des Platzes abgestimmt und biete der darauf liegenden Veloroute Sicherheit, so die Jury. Die beiden benachbarten Schulen, die Kirche, die bestehenden Ladenlokale und Restaurants machen die Place Simon-Goulart zum belebten Stadtraum.

Stadtreparatur für mehr Sicherheit

Anlässlich der Preisverleihung am 28. November 2014 führte der Verkehrsplaner und –wissenschafter Harald Frey (TU Wien) aus, wie sich Verkehrssysteme und Stadtstrukturen gegenseitig beeinflussen. Er zitierte Lucius Burckhardt mit seiner Frage: «Wer plant eigentlich die Planung ». Es gehe eher nicht um die Frage, wie viel geplant werden muss, sondern vielmehr darum, wie wenig geplant werden dürfe. Planung sollte nicht mehr tun, als eine gewünschte Entwicklung einzuleiten, um Flexibilität für spätere Generationen zu erhalten. Erwin Weiland, Vizedirektor des Bundesamts für Strassen (Astra), steuerte zum Thema des ungebremsten Mobilitätswachstums die Erkenntnis bei, dass funktionierende Autobahnen nachweislich dazu beitragen, innerstädtische Strassen zu entlasten. Sie schaffen damit indirekt Raum für öffentlichen Verkehr und Langsamverkehr.

Harald Frey schloss klar mit der Forderung, dass sich zukunftsfähige Stadtplanung am Fussgängerverkehr orientieren solle. Es gehe letztlich auch um Naherholung, Ruhe, gute Luft und vor allem Sicherheit. Verzicht – zum Beispiel beim Autofahren – könne durchaus eine Bereicherung auf anderer Ebene darstellen. Auch da brachte es ein Zitat von L. Burckhardt auf den Punkt: «Der Spaziergang dient als Instrument zur Erforschung unserer alltäglichen Lebensumwelt, zur Vermittlung von Inhalten und Wissen.»

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