«Al­le müs­sen Zi­vil­cou­ra­ge be­wei­sen»

Geologische Tiefenlager

Das Schweizer Vorgehen zur Festlegung von einem oder zwei Standorten für ein Endlager für radioaktive Abfälle erhält im Ausland immer wieder Lob, wird aber innerhalb der Schweiz in einigen Aspekten auch heftig kritisiert. TEC21 diskutierte mit einem deutschen und einem Schweizer Experten über positive und strittige Punkte des Verfahrens.

Publikationsdatum
15-12-2014
Revision
24-09-2015

TEC21: Herr Hocke, Sie beobachten die Standortsuche für Endlager für radioaktive Abfälle sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz. Wie beurteilen Sie das Schweizer Verfahren?
Peter Hocke: Die Schweiz hat aus dem Scheitern von Wellenberg Lehren gezogen und verfolgt mit dem Sachplanverfahren ein Konzept, das wir in der Expertengruppe Schweizer Tiefenlager, für die ich auch spreche, relativ vorbildlich finden. Die Schweiz sagt: Wir gehen von einer weissen Schweizerkarte aus, schauen, welche Gesteinsformationen sich aus geologischer Sicht eignen und beginnen darauf aufbauend einen stufenweisen Auswahlprozess. Das ist natürlich ein anderer Typus von Entscheidung, als wenn – wie in Deutschland – die Experten verkünden, welchen Standort sie ausgewählt haben. In Deutschland hat man die Endlagersuche auf zwei Standorte konzentriert – einen für wärmeentwickelnde und einen für nicht wärme-entwickelnde Abfälle1. Andere Standorte sind nicht im Gespräch. Die internationalen Erfahrungen mit der Endlagersuche und die Konfliktanalysen, die wir an unserem Institut gemacht haben, zeigen aber, dass in einem Konflikt, der eine lange Diskussionszeit hinter sich hat, expertenzentriertes Entscheiden in neue Konflikte führt. 

Stattdessen braucht es Mitsprachemöglichkeiten für die Bevölkerung?
Hocke: Ja, funktionieren wird nur ein Verfahren, in dem die Verantwortlichen sehr früh möglichst viele Akteure einbeziehen, ihnen die Spielregeln erläutern und erlauben, den Prozess zu beobachten und zu kommentieren. Da hat die Schweiz einiges vorgelegt, was man mit guten Gründen als modernes Regieren bezeichnen kann und was aus deutscher Perspektive als vorbildlich erscheint: Der Sachplan arbeitet mit einem relativ transparenten Planungsverfahren. Bereits die Entwürfe dafür wurden früh in der interessierten Öffentlichkeit gestreut, das Bundesamt für Energie hat das Gespräch mit möglichst vielen Betroffenen gesucht, und es gibt jede Menge Dokumente über alle Entscheidungsschritte. 
Alfred Isler: Das Bild des vorbildlichen Vorgehens mag für den Sachplan gelten. Dieser ist das Resultat der vorangegangenen, zum Teil negativen Erfahrungen, wie sie zum Beispiel am Bois de la Glaive (Ollon) und am Wellenberg gemacht wurden. Für mich – aber das ist meine ganz persönliche Ansicht – ist der Sachplan in gewissem Sinne ein Scheitern unseres Föderalismus. So hat zum Beispiel Schaffhausen bereits 1983 den Regierungsrat per «Gesetz gegen Atommüll-Lager» zur Opposition gegen ein Endlager verpflichtet. Zudem lässt das neue Kernenergie-Gesetz Abstimmungen betreffend die Endlagerstandorte nur noch auf eidgenössischer Ebene zu und verunmöglicht damit eine verbindliche, auf die betroffenen Regionen beschränkte Abstimmung. Die Aussage eines Regierungsrates, «Wissen Sie, ich bin eigentlich für ein Endlager, aber ich muss wieder gewählt werden», zieht sich wie ein roter Faden durch die Standortdiskussionen. Die Politiker wissen ganz genau, dass man bei diesem Thema mit einer positiven Haltung bei der breiten Bevölkerung keine Lorbeeren einheimsen kann.  

Man schickt lieber die Wissenschafter vor?
Isler: Die Schweiz hat jetzt ein System gewählt, bei dem wissenschaftlich begründet werden kann, warum das Lager an einen bestimmten Standort kommt und eben nicht zum Nachbarn. Auf diese Begründung können sich die Politiker abstützen. Zuvor wurde nicht so ein zielgerichtetes Auswahlverfahren angewendet, sondern man hat gewisse Eignungskriterien aufgestellt und dann ohne systematische, schweizweite Vergleiche einige geeignet scheinende Standorte detaillierter untersucht. Aber gegen all diese Vorschläge formierte sich lokal Widerstand. Mit dem Sachplan hat man jetzt nachträglich ein systematisches Einengungsverfahren eingeführt. Bei der Einführung dieses Sachplans waren deshalb, historisch bedingt, bereits einzelne, potenziell geeignet scheinende Standorte bekannt. 

Die Schweizerkarte war zu Beginn also doch nicht ganz weiss?
Isler: Nein. Ich kann das am Beispiel des Gebietes Wellenberg erläutern. Für dieses Gebiet wurde noch vor dem Inkrafttreten des Sachplans aufgezeigt, dass man hier ein sicheres Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfälle (SMA) bauen kann. Die hier anstehenden Palfris-Mergel enthalten nämlich fossiles Meerwasser, das belegt, dass in diesen Gesteinen seit ihrer Entstehung vor Jahrmillionen keine bedeutende Wasserzirkulation mehr stattgefunden hat. Das Gestein weist aber auch zahlreiche Störungen auf, die künftig reaktiviert und undicht werden könnten. Zudem sind seismische Detailuntersuchungen nicht möglich. Im Sachplan wird aber auf Langzeitsicherheit und eine gute Explorier- und Prognostizierbarkeit grosser Wert gelegt. Trotzdem bleibt der Wellenberg auch nach Etappe 1 des Sachplanverfahrens ein mögliches SMA-Standortgebiet. Gemäss der Kommission Nukleare Entsorgung (KNE) wurde beim Wellenberg aber erheblich von dem im Alpenvorland angewendeten Auswahlverfahren abgewichen, wo stärker tektonisierte Gebiete von vornherein ausgeschlossen wurden. Das heisst nicht, dass der Wellenberg nicht einen ausreichend sicheren Standort abgeben könnte. Es heisst nur, dass das nachträglich «aufgepfropfte» Einengungsverfahren des Sachplans in diesem Fall nicht einheitlich angewendet wurde. 

Dazu kommt aber noch, dass am Standort Wellenberg ein Endlager bereits zweimal vom Volk abgelehnt wurde. Jetzt ist er wieder als potenzieller Standort dabei. Aber nun können die betroffenen Kantone und Gemeinden ein Endlager nicht mehr grundsätzlich ablehnen. Entschieden wird am Schluss nur auf gesamtschweizerischer Ebene – vom Parlament und allenfalls vom Volk. Die Endlager-Gegner in Nidwalden sprachen in diesem Zusammenhang von einem Spiel, bei dem der Partner die Regeln geändert habe, als er merkte, dass er verliert. Was ist davon zu halten?
Hocke: Das ist wirklich eine Krux. Aber es gibt ja nicht den hilflosen Bürger auf der einen Seite und den fernen Entscheider ganz weit weg davon, sondern in einer modernen Industriegesellschaft hat jeder Bürger seine Abgeordneten, die in den nationalen, kantonalen und den Gemeindeparlamenten sitzen. Die spielen natürlich alle mit in diesem Spiel. Man kann sagen, ein Standort ist ‹verbrannt›, aber das ist dann eine politische Entscheidung, bei der auch die Stärke von öffentlichem Widerspruch und Protest eine Rolle spielt. Ich würde keine Prognose wagen, ob das Schweizer Verfahren in jedem Fall erfolgreich sein wird. Aber es gibt einige sehr vernünftige Verfahrenselemente. Ob man dem Stimmbürger einer Gemeinde genug Mitbestimmung gegeben hat, das kann ich aus dem Ausland nicht so einfach beurteilen. 
Isler: Der Sachplan ist in jedem Fall ein zu begrüssendes Instrument, weil das Mitspracheverfahren sowohl den Wissenschaftern als auch den beteiligten Gremien erlaubt, Fragen und Forderungen einzuspeisen. Damit hat jeder Einzelne die Möglichkeit, einen gewissen Druck zu erzeugen, der dann zur Lösung der betreffenden Frage oder zumindest zu vermehrten Untersuchungen oder Überlegungen führt. Die Krux bleiben aber die irrationalen Ängste. Es gibt wahrscheinlich niemanden, der sein Haus gern direkt über einem Endlager hätte. Da nützen auch der beste Sachplan und alle rationalen Argumente nichts.
Hocke: Die Frage ist, wie man damit umgehen kann. Auf jeden Fall nicht, indem man es einer Institution weit weg in einem einsamen Prozess überlässt, die Entscheidung über einen Endlager-Standort zu fällen. Die Hoffnung ist, dass man das zivilgesellschaftlich regelt. Nicht über Macht und nicht über Durchregieren von oben, sondern über Verhandlungen und Gespräche. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, ist heute schwer einschätzbar. Einen so breit auf Information und Diskurs angelegten Versuch haben noch nicht viele Staaten gemacht. Dass jetzt einige Akteure sagen: ‹Da passt uns einiges noch nicht›, würde ich als normalen Prozess bewerten, der zu Nachjustierungen führen wird.  

Widerstand ist aber unter Umständen schwierig. Ein deutscher Wissenschafter sieht die Ursache dafür, dass beim einsturzgefährdeten deutschen Atommülllager Asse nicht früher Alarm geschlagen wurde, in der kleinen Gruppe von Tiefenlagerexperten, die sich alle kennen, so dass es viel brauche, bis man sich infrage stelle. Die Schweizer ‹Szene› ist noch kleiner. Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass Ergebnisse zu wenig kritisch hinterfragt werden?
Isler: Die intensive Vernetzung, z.B. zwischen ENSI2 und Nagra3, ist tatsächlich teilweise problematisch. Deshalb muss unbedingt sichergestellt sein, dass es genügend Leute gibt, die sich nicht scheuen, auch unbequeme Themen anzusprechen. Insbesondere soll der Fortbestand und die Unabhängigkeit der bestehenden Kommissionen und eine möglichst breite und ausgewogene Auswahl von Experten- und Forschungsgruppen auch künftig gewährleis-tet sein. Eine kritische Meinungsäusserung ist wohl am ehesten seitens der KNE und der KNS4 sowie seitens der Kantone möglich, die über ihre eigenen Expertengruppen verfügen.
Hocke: Diejenigen, die sich in Wissenschaft und Politik mit der nuklearen Entsorgung befassen, werden alle Zivilcourage beweisen müssen. Sie müssen auch unbequeme Wahrheiten an die Öffentlichkeit weitergeben. Auch die Medien und die interessierten Akteure müssen hellwach sein und diese Prozesse beobachten. Und es braucht ein gläsernes, also einsehbares Projekt: Wissenschaftler müssen ihre Gutachten veröffentlichen, Behörden sollten keine hohen Geheimhaltungsfristen setzen, Personalverantwortliche müssen dafür sorgen, dass in ihren Institutionen nicht nur Leute einer ‹Schule› an einem Thema arbeiten. 
Isler: Zivilcourage und Abhängigkeit, Sachlichkeit und Bauchgefühl sind schwierige Kombinationen. Wir werden während der Anhörungen in den nächsten drei Monaten sehen, wie das gehandhabt wird.  

Ein Punkt, der von Endlagergegnern kritisch beurteilt wird, ist die Konzentration der radioaktiven Abfälle an einem oder allenfalls zwei Standorten. Wären aus Risikoüberlegungen nicht mehrere dezentrale Lager mit entsprechend kleineren Abfallmengen sinnvoller?
Hocke: Eine dezentrale Verteilung des Atommülls wäre natürlich vor dem Hintergrund, dass keiner das ganze Risiko haben möchte, ein plausibler Vorschlag. Aber gleichzeitig würden die politischen Entscheidungsprobleme vervielfacht und nicht verringert, da die klassische Risikoformel ‹Risiko = Schaden mal Eintrittswahrscheinlichkeit› in Fällen wie diesen meist keinen positiven Effekt hat.
Isler: Zudem ist es sicher einfacher, wenn die Aufsichtsbehörde nur einen oder zwei Standorte zu überwachen hat, als wenn für mehrere Gebiete die entsprechenden Sicherheitsstrukturen aufgebaut und eine dauerhafte Markierung angebracht werden muss. Vom Geologischen her müssten wir eigentlich eine möglichst breite Öffnung der Möglichkeiten anstreben. Alle Geologen sind sich zwar im Moment einig, dass Opalinuston die beste Wirtgesteinsoption für die hochradioaktiven Abfälle darstellt. Aber was passiert, wenn wir uns bei beiden Lagern – dem für hochradioaktive und dem für schwach- und mittelradioaktive Abfälle – für Opalinuston entscheiden und dann Probleme bekommen? Die Nagra verfolgt daher den Ansatz, dass sie noch Alternativen haben möchte. Zwar sind die Standortvorschläge für das Lager für hochradioaktive Abfälle alle im Opalinuston, aber beim Lager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle sind auch die alpinen Mergel, der braune Dogger und die Effinger Schichten als Alternativen im Gespräch. So kann man sich durchaus auf wenige Standorte konzentrieren, mit dem vertretbaren Risiko, dass man bei unlösbaren Problemen zurückbuchstabieren muss. 

Das Endlagerkonzept der Schweiz sieht vor, dass das Lager irgendwann verschlossen wird. Damit nimmt man nachfolgenden Generationen die Möglichkeit, bei auftretenden Problemen einzugreifen oder die Lagerung dem aktuellen Stand der Technik anzupassen. Vielleicht kann man irgendwann diese Abfälle sogar unschädlich machen oder erneut nutzen.
Hocke: Die Hoffnung ist, durch das Monitoring des Pilotlagers zu sehen, ob das Verschlusskonzept und die Sicherheitstechnologie tatsächlich funktionieren, und zwar innerhalb eines Zeitraums, für den die heutige Generation noch realistisch planen kann. Wenn tatsächlich unerwünschte Prozesse beobachtet werden, kann korrigiert werden. Aber: Auch das Monitoring ist natürlich eine Störung des Gesamtsystems – das Lager ist nicht abgeschlossen, was ein entsprechendes Risiko beinhaltet. Das ist also ein Abwägungsproblem. Künftige Generationen müssen also entscheiden, welche Sicherheit sie an welcher Stelle wollen. 
Isler: Zudem kann jede Generation für sich entscheiden, ob sie das Lager definitiv verschliessen will, es sei denn, das Lager ist bereits verschlossen. Aber natürlich muss das Wissen um die Standorte, die Auslegung und die Inhalte der Lager gut dokumentiert sein. 

Die Weitergabe des Wissens an kommende Generationen ist ein Problem. Die andere Frage ist, ob unsere Nachkommen die Ressourcen und den Willen haben, das Abfallproblem verantwortungsbewusst zu lösen. 
Hocke: Ja, es gibt Beispiele, die einen nicht so optimistisch stimmen. Ich finde zum Beispiel den Umgang der Sowjetunion mit den Abfällen der Nuklearindustrie lehrreich. Das heutige Russland kann sich viele Dinge nicht mehr leisten. Zum Beispiel kann es ja notwendig werden, die Abfälle umzulagern. Wenn man die Kostenkalkulationen für die Sanierung von Asse anschaut, ist man dabei schnell in Grössenordnungen, wo der ethische Diskurs berechtigterweise sagt: ‹Kümmert euch lieber heute so solide darum, dass eine nachfolgende Generation auch ohne Eingriffe und Ressourceneinsatz mit dieser Deponie leben kann›. Wir wissen eben auch nicht, ob eine spätere Generation radioaktive Abfälle als möglichen Rohstoff verantwortlich nutzen kann. 
Isler: Wichtig ist aus meiner Sicht, dass diejenigen, die jetzt die Kernkraftwerke betreiben und den Nutzen daraus ziehen, auch für die negativen Seiten dieser Technologie geradestehen und für die Kosten bis zum Schluss aufkommen.  

Andererseits plant man ja jetzt bereits neue Kernkraftwerke. Das ist einer der zent-ralen Punkte beim Widerstand gegen ein Endlager, da es dann eben nicht mehr nur darum geht, eine Lösung für den Abfall zu finden, den wir verursacht haben, sondern mit den Neubauten dafür gesorgt wird, dass auch kommende Generationen das Problem mit dem radioaktiven Abfall haben werden. Wie sehen Sie das?
Isler: Auch mir wäre eine klare Trennung von den neu geplanten Kraftwerken lieber gewesen.
Hocke: Die Gleichzeitigkeit der beiden Entscheidungen ‹Ausbau der Kernenergie› plus ‹Suche nach einem Endlager für grössere Abfallmengen› ist sicher nicht der beste Weg,  um den Goodwill in der Nähe eines potenziellen Standorts zu erhöhen – insbesondere, wenn es sich um skeptische Bürger handelt. Die zu überbrückenden Gegensätze werden sich vermutlich verschärfen und die notwendigen zivilgesellschaftlichen Mühen zur konstruktiven Wendung dieses Problems sich erhöhen. Eine Variante wäre, ein Endlager für den Abfall aus bereits vorhandenen Reaktoren zeitnah (wie geplant) einzurichten und die Genehmigung neuer Reaktoren an ein zweites Vorhaben zu knüpfen, das auch eine Erweiterung der erstgenannten Standorte sein könnte. Das wird bisher von der Schweizer Endlagerpolitik bewusst nicht gewollt. Welche Lösung wiederum die Schweizer Bürgerinnen und Bürger wollen, werden sie durch ihre Zustimmung oder Ablehnung deutlich machen müssen.

Anmerkungen

  1. In Deutschland wird zwischen wärmeentwickelnden (hoch- und mittelradioaktiven) Abfällen und nicht wärmeentwickelnden (schwachradioaktiven) Abfällen unterschieden
  2. Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat
  3. Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle
  4. Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit
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